Liebe Frau Glöckner, warum ein Positionspapier zum Rechtsanspruch auf Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter?
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag diesen Rechtsanspruch für das Jahr 2025 vereinbart. Dennoch: Allen brennt es unter den Nägeln. Pädagogischen Fachkräften, Fortbildner(inne)n, Trägern, Professor(inn)en der Kindheit und Eltern. Als BAG-BEK möchten wir mit unserem Positionspapier ein Signal setzen, auf eine Leerstelle aufmerksam machen und die Gesellschaft sowie die Fachwelt darauf hinweisen. Für die Sechs- bis Zwölfjährigen gibt es bislang noch wenig fundierte und evidenzbasierte Forschung. Das heißt: Die Begleitung von Grundschulkindern steckt noch in den Kinderschuhen. Es fehlt ein pädagogisches Fundament, die Vielfalt in der Umsetzung ist enorm. Ganz anders als der Bereich der Null- bis Sechsjährigen, der auf einer langen pädagogischen Tradition beruht. Als BAG-BEK mischen wir uns bildungspolitisch ein – und zwar da, wo es notwendig ist. Die AG Kinder von sechs bis zwölf Jahren hat deshalb kurz und knapp zehn Gebote für eine qualitativ hochwertige Begleitung (keine Betreuung!) von Grundschulkindern formuliert.
Was steht in Ihren zehn Geboten?
Ausgangspunkt unserer Überlegungen war und sind: die Kinder. Wir möchten die Sechs- bis Zwölfjährigen ins Zentrum aller Überlegungen rücken. Denn diese Altersgruppe hat spezifische Bedürfnisse und andere Entwicklungsfelder als Kinder unter sechs Jahren. Bislang nehmen wir die Begleitung von Grundschulkindern immer als eine Verlängerung der Kita-Zeit wahr. Das möchten wir dringend ändern. Einer der wichtigsten Punkte unseres Papiers ist deshalb die „Auftragstrias von Bildung, Erziehung und Betreuung“. Wir fordern, den Rechtsanspruch im Sozialgesetzbuch VIII zu verankern. Zudem steht das schulische Lernen seit jeher im Vordergrund und es besteht ein Gefälle zwischen Lehr- und pädagogischen Fachkräften. Auch das möchten wir ändern. Das Grundschulkind mit seinen Bedürfnissen ernst nehmen, Schule als Lebensraum begreifen und nicht institutionell argumentieren. Hierfür setzen wir uns ein und fordern bundesweit einheitliche Qualitätsstandards.
Wie gestaltet sich die Begleitung von Grundschulkindern derzeit?
Deutschlandweit zeichnet sich ein sehr diverses Feld an Einrichtungen. In Thüringen gibt es bspw. den klassischen Hort, in Nordrhein-Westfalen die Ganztagsschule und in Baden-Württemberg neben diesen beiden Formen zusätzlich die verlässliche Ganztags- und Kernzeitenbetreuung. Ein standortspezifisches Flickwerk. Qualitativ gesehen: Wir haben alles und nichts. Wir haben viele Leuchtturmeinrichtungen, jedoch auch viele Einrichtungen, die – fachlich betrachtet – pädagogisch weniger wertvoll arbeiten. Zudem arbeiten unterschiedliche Professionen in der Schulkindbegleitung, wovon die wenigsten speziell für die Arbeit mit Kindern im mittleren Alter ausgebildet sind. Aufgrund dieser mangelnden Ausbildung sind die Fachkräfte häufig überfordert, was wiederum dazu führt, dass sie verheizt werden. Was noch immer in den Köpfen und der Haltung vieler verankert ist: Erst die Schule, danach kommt der Rest. Hiervon müssen wir wegkommen. Einen guten Weg zur Qualitätssicherung geht gerade das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Es hat eine Expertengruppe beauftragt, „Qualitätsdialoge zum Ganztag“ zu führen. In diesen Dialogen soll ein Austausch zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Praxis stattfinden. Das daraus abgeleitete Handlungswissen wird Ende 2021 in mehreren Broschüre veröffentlicht. In der Begleitung von Grundschulkindern kommt es auch nicht selten vor, dass Kinder vieles zur gleichen Zeit tun müssen: gemeinsam essen, gemeinsam Hausaufgaben machen, gemeinsam mit Freunden spielen, sich gemeinsam zurückziehen. Auch das gilt es, aufzulösen.
Welche Vision würden Sie dagegenhalten?
Wir können uns überall dort etwas abschauen, wo es gut funktioniert – Lernen an Best-Practise-Beispielen. International betrachtet natürlich vor allen Dingen Nachbarländer wie Schweden und Finnland. Eine ideale Begleitung von Grundschulkindern wäre für mich ein Haus, in dem verschiedene Anbieter ihre Angebote miteinander verzahnen – und zwar im Hinblick auf die Bedürfnisse von Kindern mittleren Alters. Es arbeiten dort multiprofessionelle Teams, in denen Mitglieder als Expert(inn)en auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Alle kooperieren zum Wohle des Kindes und nicht zum Wohle der Fachkraft oder des jeweiligen Systems. Alle Experten stellen sich dort die Fragen: Was heißt Spielen und Lernen für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren? Wie können wir Kindern ganzheitliches, intrinsisch motiviertes Lernen ermöglichen? Wie können Kinder für sich Verantwortung übernehmen? Wie können sie freiwillig und selbstbestimmt lernen und leben? Eine einfacher Weg dorthin wäre, die Kinder selbst zu fragen.
Gab es bereits Reaktionen auf das Positionspapier?
Wir haben das Positionspapier Familienministerin Franziska Giffey, Bildungs- und Forschungsministerin Anja Karliczek, der Gewerkschaft für Bildung und Erziehung (GEW), dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI) und der Weiterbildungsinitiative für Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF) zukommen lassen. Es kamen bei mir und Professorin Dr. Manja Plehn, ebenso Sprecherin der AG Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, leider keine Rückmeldungen an, nicht einmal Eingangsbestätigungen. Schade. Wir planen nun, das Positionspapier auf den unteren Ebenen zu verbreiten.
Wir wünschen Ihnen hierbei viel Erfolg und unterstützen Sie gern in Ihren Anliegen, Monika Janzer, Chefredakteurin „Entdeckungskiste: Schulkindbetreuung in Kita, Hort und Grundschule“!
Info
Und hier geht’s zum Positionspapier.