klasseKinder!: Herr Kalbitzer, bevor wir über Kinder reden, reden wir doch erst mal über uns Erwachsene. Warum sind wir alle so gerne online?
Jan Kalbitzer: Das Internet ist deshalb ein beliebter Ort, weil es unterschiedliche Bedürfnisse auf verschiedenste Art und Weise befriedigt. Es kann uns unterhalten, ablenken oder vernetzen mit anderen Menschen, die ähnliche Interessen haben. Es hilft manchmal wunderbar gegen Einsamkeit. Deswegen ist es aus wissenschaftlicher Sicht schwierig, pauschale Aussagen zu treffen. Wer das dennoch tut, wird weder der Materie noch seiner Rolle als Wissenschaftler gerecht. Denn Menschen verhalten sich online ganz unterschiedlich. Und das Netz wirkt bei jedem anders. Es gibt Studien, die zeigen, dass es manchen Menschen in einer Krise hilft. Für andere macht es eine Krise nur schlimmer.
Erwachsene sorgen sich vor allem um die starke Anziehungskraft, die von einigen Onlineangeboten ausgeht. Ist die für Kinder grundsätzlich gefährlich?
Diese Debatte kennen wir nicht erst seit dem Internet, die gab es auch schon bei Buch, Radio, Fernsehen. Meiner Meinung nach sollten wir weniger auf die Medien schauen, sondern uns darauf konzentrieren, welche positiven Eigenschaften Menschen brauchen, um mit egal welchem Sog umgehen zu können. Der Sog kann ja auch vom Zucker ausgehen. Ich sehe den wesentlichen Auftrag von Eltern und pädagogischen Fachkräften darin, Kindern zu vermitteln, dass man nicht auf jeden Reiz reagieren und nicht jedem Impuls nachgeben muss.
Das klingt plausibel – ist aber im Alltag nicht leicht umzusetzen. Warum?
Das Problem vieler Erwachsener ist, dass sie die Ungeduld oder Unzufriedenheit von Kindern nicht gut aushalten können und deren Wünsche daher schnell erfüllen. Das ist ein großer Fehler. Wir müssen Kindern beibringen mit Frustration, Langeweile und Ungeduld umzugehen.
Was kann hier das Ziel in Bezug aufs Internet sein? Soll das Kind lernen, das Gerät freiwillig und eigenständig zur Seite zu legen?
Diese Selbstkontrolle ist eine Illusion. So funktionieren Menschen nicht. Sonst wären wir alle schlanker, sportlicher, würden uns gesünder ernähren und weniger Auto fahren. Weder Erwachsene noch Kinder können allein durch kognitive Einsicht ihr Verhalten ändern.
Wie dann?
Wir müssen im Umgang mit digitalen Medien neue Kulturformen und Rituale entwickeln. Denn die wirken wie eine starke Struktur von außen. Wir folgen ja auch nicht kollektiv dem Impuls, uns nackt auszuziehen, wenn es heiß ist. Warum? Weil es eine kulturelle Übereinkunft gibt, dass Menschen in der Öffentlichkeit Kleidung tragen. Das Gleiche gilt für den Impuls, Essen in uns reinzu stopfen. Umgangsformen bei Tisch verhindern das. Solche Übereinkünfte brauchen wir auch für die digitale Technik. Das Problem ist: Wir haben diese Strukturen noch nicht. Und mit dem Satz „Das Internet ist gefährlich“ kommen wir nicht weiter. Diejenigen, die ständig warnen und Angst schüren, verhindern nämlich, dass wir mutig neue Rituale ausprobieren können. Dabei wären die Schule und der Hort gute Orte für solche Experimente.
Wer etwas ausprobiert, kann scheitern. Was, wenn die Regeln, die sich eine Familie oder eine Bildungsinstitution ausdenkt, nichts taugen?
Dass wir beim Ausprobieren Fehler machen, gehört dazu. Zurzeit weiß niemand, wie der ideale Umgang mit digitalen Medien aussehen könnte, auch die Wissenschaft nicht. Wir können aber nicht erst zehn Jahre Studien mit Kindern machen, bevor wir allgemeingültige Leitlinien herausgeben. Abgesehen davon, dass sich die Technik ständig weiterentwickelt. Uns bleibt als Gesellschaft daher gar nichts anderes übrig, als zu experimentieren.
Was halten Sie von den zwei Extremen, die man in Bezug auf Grundschulkinder oft antrifft: Laissez-faire versus Totalverbot?
Ich finde es wichtig, dass man Kinder nicht die ersten zehn, elf Jahre komplett abschirmt vom Internet, ihnen dann aber mit zwölf Jahren ein Smartphone schenkt und sie damit allein lässt. Die Erwachsenen müssen die Kinder auf ihrem Weg in den digitalen Raum begleiten! Irgendwann werden die Jugendlichen dort allein unterwegs sein, dazu brauchen sie Medienkompetenz. Wichtig ist außerdem, dass Kinder Vertrauen zu den Erwachsenen haben. Dazu müssen wir ihnen vermitteln, dass sie mit uns über alles reden können, was ihnen im Netz begegnet – beispielsweise wenn sie von Fremden kontaktiert werden. Wenn Kinder merken, dass Eltern oder Erzieherinnen kompetent sind und nicht nur in Panik verfallen und Verbote aussprechen, ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass sie offen mit den Erwachsenen sprechen. Es gibt unangenehme Dinge, die online auftreten können. Kinder sollten solche Erlebnisse nicht mit sich allein ausmachen müssen.
Die Fragen stellte Astrid Herbold.