Die WaldkinderBeim freien Spiel in der Natur lernen Kinder fürs Leben

Betreuung ohne Dach und Wände: Schüler eines Potsdamer Hortes können die Nachmittage im Wald verbringen. Beim freien Spiel in der Natur lernen sie fürs Leben.

Die Waldkinder
© Sven Kästner, Berlin

Die Schnellstraße in Hörweite, ein Autohaus und ein großer Supermarkt gegenüber, dahinter DDR-Plattenbauten – an wenigen Orten scheint Natur weiter weg als an dieser Kreuzung am Rande eines Gewerbegebietes im Südosten Potsdams. Und doch können Kinder gerade hier ganz besondere Naturerfahrungen sammeln. Im Hort „Baumhaus“ wird nach dem Konzept der Naturpädagogik gearbeitet.
„Wir bieten den Kindern fast täglich die Möglichkeit, den Nachmittag in der Natur zu verbringen“, sagt Hortleiterin Luise Werdin. Das heißt: Bis auf montags geht es jeden Nachmittag für alle, die Lust darauf haben, raus – in den Wald, auf die Wiese, an einen nahe gelegenen See. Bei jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Und es haben immer Kinder Lust darauf, selbst wenn es kalt und trüb ist wie an diesem Winternachmittag. Acht Schülerinnen und Schüler zappeln ungeduldig am Eingangstor auf ihren Fahrrädern. Es ist kurz vor halb zwei, gleich soll es losgehen.

VERKEHRSERZIEHUNG NEBENBEI

Begleitet werden sie von Sozialpädagoge Gunther Grün- Oostinga und einer Kollegin. Dick eingepackt in Jacken, Mützen, Schals und Handschuhen radelt die kleine Gruppe bei Temperaturen knapp über null Grad los. Sie muss die große Kreuzung vor der Tür überqueren, dann geht es über Parkwege, Nebenstraßen und eine Autobahnbrücke in den vier Kilometer entfernten Wald. Für die Naturerfahrung nehmen Kinder und Fachkräfte auch weitere Wege raus aus der Stadt in Kauf. Das bedeutet nicht nur Bewegung, sondern auch – ganz nebenbei – Verkehrserziehung.
Grün-Oostinga berichtet, wie er 2006 eine erste Waldgruppe in einem anderen Hort aufgebaut hatte. Einmal die Woche ging es damals raus. Weil das bei vielen Kindern gut ankam, entschied sich der Träger einige Jahre später, eine neue Einrichtung ganz nach diesem Konzept zu betreiben. Seit 2013 gibt es das „Baumhaus“. Das Team betreut hier gut 20 Kitaund mehr als 100 Grundschulkinder. Während es überall in Deutschland Waldkitas gibt, sind die Potsdamer mit ihrem naturverbundenen Hort Pioniere. „Gerade Grundschulkinder können ihren enormen Bewegungsdrang nicht ausleben, weil sie ja im Unterricht still sitzen müssen“, sagt Grün-Oostinga. Der studierte Sozialpädagoge hat viele Jahre mit Jugendlichen gearbeitet, sich nach einer Naturpädagogik- Ausbildung in Schweden aber für die Arbeit im Hort entschieden. „So frei wie im Wald können Kinder in einem vorgefertigten Raum niemals spielen“, ist er überzeugt. In der Stadt müssten Bewegungsreize künstlich erschaffen werden mit Klettergerüsten, Laufbahnen oder angeleiteten Spielen – im Wald erklimmen die Mädchen und Jungen einfach Bäume oder rennen Slalom zwischen den Stämmen. Die Natur sei der beste Ort für Grundschulkinder, um die Zusammenhänge des Lebens und auch sich selbst zu erkennen, meint Grün-Oostinga: „Da können sie schrittweise ihre Welt erweitern, in der sie sich sicher fühlen.“

AUF BAUMSTÄMMEN BALANCIEREN

„Baumhaus“-Leiterin Luise Werdin ergänzt, dass sich Mädchen und Jungen draußen viel besser ausprobieren und Fertigkeiten erwerben können. Schnitzmesser zum Beispiel seien bei den täglichen Ausflügen immer dabei. „Die Kinder erleben sich auf diese Weise als selbstwirksam – das ist uns ganz wichtig.“ Dazu kommen vielfältige Sinneseindrücke beim Graben in der Erde oder dem Liegen auf der je nach Jahreszeit unterschiedlich duftenden Wiese. Die WissensVon vermittlung kommt nicht zu kurz, wenn auch anders als in der Schule. „Wir setzen hauptsächlich auf die eigenen Erfahrungen, erklärt wird ja schon ganz viel im Unterricht.“

Beim klasseKinder!-Besuch versuchen sich die Kinder nach einem stürmischen Fangspiel zwischen den Bäumen daran, die Regeln des Baseballspiels zu verstehen. Pädagoge Grün- Oostinga hat als Schläger ein schmales Brett sowie einen kleinen Ball und einen Handschuh für den Fänger mitgebracht. Während die Kinder werfen, den Ball wegschlagen oder fangen und umherrennen, erfahren sie, dass dieses Spiel bei ihren Altersgenossen in den USA sehr beliebt ist. Grün-Oostinga hat Themenpläne für das ganze Jahr ausgearbeitet. Ein Teil davon sind symbolische Weltreisen – heute zum Beispiel via Baseball nach Amerika. Im Winter kann es dann nach Grönland gehen, indem ein Iglu gebaut wird. Auch das Bestimmungsbuch liegt immer im Fahrradanhänger, um Fragen nach unbekannten Pflanzen beantworten zu können.

ÄNGSTE ABBAUEN

Das Umweltwissen der Kinder nimmt ab, hat Grün-Oostinga beobachtet. „Wir haben es inzwischen mit einer Elterngeneration zu tun, die selbst wenig Naturerfahrung hat. Das wirkt sich auch auf die Kinder aus“, sagt der Sozialpädagoge und verweist darauf, dass Familien heute viel Zeit mit Computer und Smartphone verbringen. Zu seiner Arbeit gehört es deshalb auch, den mittlerweile zahlreichen Ängsten zu begegnen: vor größeren Tieren, Insekten und manchen Pflanzen zum Beispiel. Die Fachkräfte müssen auch darauf achten, dass die Kinder verkehrssichere Räder und einen Helm dabeihaben und – gerade im Winter – warm genug angezogen sind. Um aushelfen zu können, haben sie über die Jahre ein horteigenes Depot an Kleidung angelegt.
In der Zusammenarbeit mit den Eltern legt „Baumhaus“-Leiterin Werdin Wert auf Transparenz. In den Erstgesprächen, auf Elternabenden und mit gedrucktem Infomaterial klärt sie über das Konzept und die damit verbundenen Anforderungen auf. Mütter und Väter, deren Kinder im Baumhaus betreut werden, müssen natürlich akzeptieren, wenn ihr Kind mal mit dreckigen Klamotten nach Hause kommt. Einmal pro Jahr bietet die Einrichtung zudem einen „Wald-und-Wiese- Tag“ für die ganze Familie an. Dann können die Mütter und Väter mit in die Natur kommen, sich die von ihren Kindern gebauten Buden anschauen, sich bei den Fachkräften informieren und vielleicht auch eigene Ängste abbauen. „Wir wünschen uns, dass die Eltern mit rausfahren“, sagt Werdin, „aber zur Wahrheit gehört auch, dass dies nicht alle annehmen.“
An diesem Herbstnachmittag sind die Kinder auch nach drei Stunden der Natur nicht überdrüssig. Während einige aus einem Seil und einem dicken Ast eine einfache Schaukel an einem Baum bauen, stapfen andere tiefer in den Wald hinein, sammeln Stöcke, klettern auf umgestürzte Stämme und balancieren durchs Dickicht. Später auf dem Rückweg entdeckt ein Mädchen mitten auf dem Weg einen Igel. Pädagoge Grün-Oostinga empfiehlt, das eingerollte Tier rüber in den Wald zu tragen, damit es nicht platt gefahren wird. Ganz vorsichtig rollen ein Mädchen und ein Junge den Igel auf eine Mütze. Dann heben sie ihn an und setzen ihn wenige Meter entfernt ins Laub. Alle sind angeregt, fühlen sich verantwortlich und denken darüber nach, wie das Tier den Winter überleben wird. Ohne Ausflüge in die Natur wären solche Erlebnisse kaum möglich.

Steckbrief

Waldkita und -hort „Baumhaus Potsdam“ Träger: Independent Living gGmbH

Kinder: Nachmittags werden etwa 100 Kinder (Klasse 1 bis 6) aus zwei benachbarten Grundschulen betreut, ganztägig 20 Kita-Kinder.

Angebote: Viermal pro Woche werden Ausflüge in den Wald angeboten. Es gibt aber auch viele kreative und handwerkliche Kurse wie Töpfer- oder Holzwerkstatt. Die Kinder können sich zwischen den offenen Angeboten entscheiden.

Hausaufgaben: Können im Hort erledigt werden. Bei Waldausflügen kommt es zuweilen vor, dass die Aufgaben noch zu Hause gemacht werden müssen.

Schwerpunkte: Naturpädagogik, Teilnahme am Bundesprogramm „Sprach-Kitas“

Auszeichnung: Preisträger des bundesweiten Wettbewerbes „Ideen für die Bildungsrepublik“

www.baumhaus-potsdam.de  

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