Es gibt sie immer wieder, diese Überraschungen. Neulich etwa: Sie hatten eine „Zirkusrolle“ gekauft, ein leuchtend blaues Kunststoffrohr, breit genug, damit die Kinder darüber balancieren können – so jedenfalls die Idee der Erwachsenen. Doch die Jungen und Mädchen schleppten die Tonne in den Garten, rollten sie den Hang hinauf. Schließlich kann man in das Teil auch reinkriechen und damit die Wiese runterkugeln! Hortleiterin Jana Knüpfer ahnte schon, was die Gruppe plante. Sie stand am Fuße des Hangs, suchte den Rasen ab – und sah hier und da Steine hervorlugen. „Kinder, ich hab Bauchschmerzen, dass ihr über die Steine rollt!“, rief sie den Jungs und Mädchen zu. „Wir passen auf“, riefen die zurück, während Jannis* schon im Rohr verschwand. Der Junge kugelte den Hang hinab. Großes Hallo unter den Zuschauern. Jana Knüpfer wartete ab. Jannis kletterte zur Tonne heraus, taumelte über die Wiese und strahlte.
Raushalten, immer wieder raushalten. Das fällt den sieben Erzieherinnen am Schulhort der Grundschule Kuntzehöhe und ihrer Leiterin nicht immer leicht. Wie findet man die Balance zwischen Freiraum geben und Aufsichtspflicht? Zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Eltern und dem Spieltrieb der Kin der? Und haben nicht gerade die jungen Kolleginnen so viele Ideen, was die Jungen und Mädchen einmal machen könnten? Doch die Kinder zu begleiten, statt zu steuern, lohnt sich. Denn dann öffnen sich Räume, in denen sie sich ausprobieren und entwickeln können. In denen sie sich Herausforderungen stellen und an ihren selbst gestellten Aufgaben wachsen. „Kinder haben so viele Kompetenzen“, sagt Jana Knüpfer. „Aber sie kommen nicht hervor, solange sich Erwachsene nicht zurücknehmen.“
Gefahren selbst einschätzen
Beispiel Zirkusrolle: Kind für Kind kletterte hinein und probierte eine Kugelfahrt. Sie berieten sich und gaben sich Tipps: „Nimm die Brille ab“, so der Rat an einen Zweitklässler. „Leg dich ganz rein“, ermahnten sie ein Mädchen, dessen Kopf noch aus der Tonne rausspickte. Die Kinder achteten aufeinander, teilten ihre Erfahrungen und organisierten eigenständig ein aufregendes, aber sicheres Spiel. „Das kann ich mit keinem gelenkten Angebot leisten“, sagt Sozialpädagogin Jana Knüpfer. Es ist 11.20 Uhr, ein sonniger Tag im Juni. Die ersten Mädchen und Jungen kommen aus den Klassenräumen in die Räume des kommunalen Hortes, der im gleichen Gebäude wie die Schule untergebracht ist. Manche gehen in den Bewegungsraum, andere verziehen sich ins Kuschelzimmer, wieder andere verschwinden in den Garten. Einige setzen sich sofort an den Esstisch. Raum für Bewegung zu bieten heißt, dass der Hort seinen fast 130 Kindern viel Entscheidungsfreiheit gibt. Sie folgen ihren Interessen und Bedürfnissen ohne straffes äußeres Korsett. So entscheidet jedes Kind selbst, wann es zu Mittag isst – die Mahlzeiten bleiben bis 13.30 Uhr warm. Es entscheidet, wo und mit wem es was machen will. Ob drinnen oder draußen. Und ob es überhaupt „etwas machen“ will.
Kinderwünsche erfüllen
Wie behält man hier den Überblick? Das Außengelände ist riesig, es gibt ein Fußballfeld, Wippen, Schaukeln, einen Balancierparcours, Slacklines, einen Kletterbaum. „Der beste Schutz für Kinder ist, wenn sie lernen, mit Gefahren umzugehen“, sagt Jana Knüpfer. Wer den ganzen Tag lang höre, „tu dies nicht und tu jenes nicht“, der könne nur schwerlich Kompetenzen und Selbstsicherheit entwickeln. Und die Kinder sind ja nicht alleine: Die Erzieherinnen am Schulhort Kuntzehöhe halten sich in der Nähe auf und beobachten das Geschehen. Auch hat jedes Kind eine Bezugserzieherin, der es über seine Pläne Bescheid gibt und die es immer aufsuchen kann. Ansonsten gilt: innehalten – aushalten – zulassen. Innehalten, um wahrzunehmen, was geschieht. Aushalten, wenn sich die Kinder anders verhalten als gedacht. Zulassen, dass Überraschendes geschieht. Indem Erwachsene die Kinder gewähren lassen, kommen ihre Spiele in Gang. So loten sie ihre Grenzen aus. Sie trauen sich in der Regel nur das zu, was sie bewältigen können, das beobachten die Erzieherinnen des Horts immer wieder. Auf den Kletterbaum im Garten etwa steigen nur die Mädchen und Jungen, die sich sicher genug fühlen. Nur wo unmittelbar Gefahr droht, greifen die Erwachsenen ein. „Nimm den Kopf auf die Brust“, raten sie beispielsweise, wenn die Kinder Salto üben. Auch wenn sie bemerken, dass es Kindern nicht mehr gut geht, suchen sie das Gespräch: Als Pedro, ein Junge aus der vierten Klasse, über längere Zeit gelangweilt wirkte, fragte ihn seine Bezugserzieherin: „Pedro, was würde dir Spaß machen?“ Skateboard fahren oder mit Federschuhen hüpfen – das wäre etwas. Der Hort schaffte Springschuhe, Skateboards und Inliner an. Und begeisterte damit gleich auch noch die anderen Kinder.
Auch beim Spiel mit der Tonne ist bis heute nichts passiert. Als die Kinder die Kugelfahrt zum ersten Mal probten, rief Jana Knüpfer irgendwann: „Kinder, am liebsten würde ich auch mal in die Tonne!“ Die Kleinen lachten und schauten stolz: „Vergiss es, Frau Knüpfer“, rief Jannis oben auf dem Hügel. „Das ist nichts für dich! Du passt da nicht rein!“
*Die Namen der Kinder sind geändert.