Als ich noch ein Kind war, fuhren meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern jeden Sommer nach Österreich. Der Tag war mit Wandertouren ausgefüllt, die wir Kinder mal mehr, mal weniger murrend über uns ergehen ließen. Zum Abendessen ging’s zurück auf den Bauernhof, auf dem wir wohnten. Halbpension: Suppe, Hauptgang, Eis, alles so weit gut. Aber der eigentliche Spaß begann danach, gegen 20 Uhr. Wenn alle Pensionsgäste mit dem Essen fertig waren und sich die Erwachsenen auf der Terrasse des Restaurants zu Wein und Schwätzchen niederließen. Dann schlug die Stunde der Kinderhorde. Wie Flummis sprangen und rannten wir los, Richtung Scheune oder Richtung Bach, über die Wiesen oder quer durchs Unterholz. Mein Vater machte uns stets eine einzige Ansage. Nicht: „Passt auf euch auf!“ oder „Macht euch nicht dreckig!“ oder „Nehmt auch die Kleinen mit!“ oder ähnlich pädagogisch wertvolles Zeug. Nein, das Einzige, was er jeden Abend sagte, war: „Wenn ich euch sehe, müsst ihr ins Bett.“ Was wir stets mit halb entsetztem, halb freudigem Kreischen quittierten. Natürlich würde er uns in den nächsten Stunden nicht zu sehen bekommen! Wir hatten keinerlei Ehrgeiz, in die Nähe der Erwachsenen zu kommen. Im Gegenteil, je weiter die Dämmerung voranschritt, desto größer wurde unser Bogen um die hell erleuchtete Terrasse.
ELTERN WAREN AUCH MAL COOLER
Ich habe ein ziemlich löchriges Gedächtnis. Meistens weiß ich heute schon nicht mehr, was vorgestern passiert ist. Aber an diesen Satz meines Vaters und das damit verbundene Gefühl – diese überschäumende, trotzige Energie, die sich am Ende eines langen Urlaubstages in uns Kindern aufbäumte – werde ich mich immer erinnern. Und erst heute, wo ich selbst Mutter bin, erkenne ich, wie viel Vertrauen in diesem scheinbar barschen Satz lag. Denn gemeint war ja nicht nur, dass wir die Großen nun mal ein bisschen in Ruhe lassen sollten. Sondern es schwang auch noch eine andere Botschaft mit: Es ist okay, wenn ihr Kinder euer eigenes Ding macht. Wir Erwachsenen müssen gar nicht so genau wissen, was ihr vorhabt.
Obwohl also selbst mit Freiräumen aufgewachsen, ertappe ich mich dabei, weniger cool zu sein als meine eigenen Eltern. Frei spielen sollen meine Kinder natürlich, aber am liebsten wäre mir, sie würden es in einem eingezäunten, gut überschaubaren Gelände tun. Auf Schulhöfen, in Gärten oder auf Spiel- und Sportplätzen. Oft aber finden meine Kinder das wahnsinnig langweilig. Und fordern dann meistens, dass ich gefälligst mitmachen solle. Bälle werfen, im Tor stehen, auf dem Trampolin springen, Gehwege mit Kreide bemalen oder ihre kleinen Kunststücke auf dem Waveboard bewundern. Auch wenn sich meine Lust dabei erkennbar in Grenzen hält. Aber meine Kinder agieren nach der Devise: Wenn schon Käfighaltung, dann soll Mama gefälligst den Claqueur und Pausenclown machen.
Komischerweise haben wir das Problem nie, wenn wir die Wochenenden auf dem Land verbringen. Das liegt nicht nur an den fehlenden Zäunen. Sondern auch daran, dass es dort Schlamm und Tümpel und Frösche und Kaulquappen gibt. Es gibt Gestrüpp, durch das man sich kämpfen, und umgekippte Bäume, auf denen man herumklettern kann. Es gibt alte Fahrräder, Kescher, Leitern und Seile, die man nach Herzenslust benutzen kann. Vor allem aber gibt es keine Erwachsenen, die allzu genau hingucken, was die Brut gerade wieder treibt.