Raufen, ringen, ruhenBewegen und Entspannen

Die Mischung macht’s – davon sind Lehr- und Fachkräfte der Grundschule am Diebsturm im hessischen Grünberg überzeugt. Gemeinsam verfolgen sie konsequent ein Konzept des Bewegens und Entspannens.

Raufen, ringen, ruhen: Konzept des Bewegens und Entspannens
Koordinationsspiel in der Gruppe© Schule am Diebsturm, Grünberg

Steckbrief

Grundschule am Diebsturm

Schulform: Grundschule (Klasse 1 bis 4) mit offenem Ganztagsangebot und Vorklasse

Schülerinnen und Schüler: 394, davon 162 im Ganztag

Arbeitsgemeinschaften: etwa 15 freiwillige Angebote zur Wahl, darunter sieben Sportkurse (Fußball, Turnen, offenes Sportangebot), alle kostenlos

Zertifikat: seit 2012 „Bewegte Schule“ mit täglichen Bewegungssequenzen im Unterricht, in den Pausen steht Spiel- und Sportmaterial bereit; unterrichtsbegleitende Sportangebote während des Schuljahres (Seilspringen, Inliner-Fahrtraining), zwei Sport- und eine Bewegungsstunde pro Woche

www.grundschule-am-diebsturm.de/schule/  

Eltern, die sich für diese Schule mit ihrem ausgefeilten Ganztagsangebot entscheiden, wissen: Spätestens nach einem Schuljahr werden selbst weniger bewegungsfreudige Kinder dem Stillsitzen ade gesagt haben. Sie werden Freude daran gewonnen haben, am Nachmittag im Aktionsraum zu ringen und zu raufen, sich anschließend in einem Themenraum mit den Freunden einem Hobby zu widmen, um möglicherweise anschließend im Ruheraum die Kräfte für die nächste bewegte Einheit zu sammeln.
17 Erwachsene unterschiedlicher Professionen begleiten die Grundschülerinnen und -schüler täglich durch den Nachmittag. Darunter Studentinnen und Studenten, die kleine Arbeitsgemeinschaften anbieten. Diese reichen vom Gardetanz übers Filzen bis hin zu Rollenspielen. Erzieherinnen und Erzieher gehören dem Team ebenso an wie Schulsozialarbeiter Florian Wietschorke. Er versteht sich auch als wesentliches Bindeglied zwischen Ganztag und Unterricht. Sein Schwerpunkt: Bewegungs-, Koordinations- und Kooperationsspiele.

AUF DEN EIGENEN KÖRPER HÖREN

Wenn Florian in der jüngsten Jahrgangsstufe auftaucht, sind die Kinder begeistert. Im ersten Halbjahr geschieht dies einmal wöchentlich für eine Stunde. Kooperationsspiele stehen dann auf dem Stundenplan. Beispielsweise der Bau der „längsten Murmelbahn der Welt“. Dabei stellen sich die Kinder in einer Reihe auf und halten Plastikröhren so aneinander, dass eine Murmel durchlaufen kann, ohne auf den Boden zu fallen. Vom Anfang laufen die Kinder mit den einzelnen Rohren dann schnell nach hinten. So lässt sich die Murmelbahn unendlich verlängern. Das fördert die Konzentration, aber eben auch das Miteinander. Die Schulanfänger wachsen bei diesem und vielen anderen Spielen zum Team zusammen – und haben Spaß. Konrektorin Ursula Pieler, die auch Ganztagskoordinatorin ist, gesteht schmunzelnd: „Wenn ich den Kindern einmal sage, dass die Stunde ausfällt, werde ich fast erschlagen.“ Das Engagement der Schülerinnen und Schüler wird belohnt. Sind alle Übungen und Spiele nach einigen Monaten erfolgreich absolviert, winkt ein Schatz: Mal sind es kleine Geschicklichkeitsspiele, manchmal auch Süßigkeiten. „Diese Form von Sozialtraining erleichtert es, beim gemeinsamen Erleben Gruppenprobleme zu erkennen, sie zu lösen oder gar nicht erst wachsen zu lassen“, weiß Florian Wietschorke.
Mit ihrem Bewegungsprogramm wollen Lehr- und Fachkräfte dem Trend entgegenwirken, dass Kinder motorische Schwächen offenbaren und an Übergewicht leiden. Deshalb startete jetzt zusätzlich das Projekt „Klasse 2000“. Es schärft die Sinne für den eigenen Körper, vermittelt den Wert gesunden Essens und macht ebenfalls Lust auf Bewegung. Ursula Pieler: „Wir möchten, dass die Kinder lernen, auf ihren Körper zu hören. Sie sollen spüren, was sie anstrengt, woran sie das merken und wie sie darauf reagieren können.“
Dies gilt für den Vor- und Nachmittag. Bewusst nehmen die 28 Lehrerinnen und Lehrer auch im Unterricht immer wieder einmal den Fuß vom Gaspedal, bieten eine Bewegungsoder Entspannungssequenz an, sobald sie spüren, dass die Konzentration sinkt. Mal sind es Übungen zum Schulen des Gleichgewichts, dann wieder Meditation oder Fantasiereise. Wenn es auf das Unterrichtsende zugeht, stecken Lehr- und Ganztagskräfte schon einmal die Köpfe zusammen und tauschen sich aus: „Welches Kind ist heute besonders angespannt?“ Diejenigen werden eingeladen, sich unter Aufsicht beim Ringen und Raufen auszupowern.

SPANNUNG UND AGGRESSION ABBAUEN

Der Blick auf den ständigen Wechsel von Bewegung und Anspannung kostet Zeit. Doch die Ergebnisse rechtfertigen den Aufwand. Davon ist auch die Betreuungskoordinatorin Katrin Becker überzeugt: „Unsere Kinder kommen immer wieder runter, bauen Spannung und manchmal auch Aggressionen ab. Andere, denen irgendwann zu viel Trubel entsteht, können sich wunderbar im Ruheraum zurückziehen. Das alles wirkt sich extrem positiv auf die Gruppe und ihr Miteinander aus.“ Ursula Pieler ergänzt: „Die Bewegungssequenzen sind keine verlorene Zeit. Im Gegenteil: In der verbleibenden Zeit schaffen unsere Schülerinnen und Schüler viel mehr.“ Sie nennt einen zusätzlichen, sehr wichtigen und gewollten Effekt: „Egal, ob morgens oder nachmittags – wenn wir darauf reagieren, was die Kinder benötigen, fühlen sie, dass sie und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden.“
Das gilt auch für jene, die die wöchentliche „Bewegte Pause“ mit Bewegungsübungen weniger lieben als die „Stillen Pausen“. Ihren Bedürfnissen entsprechend dürfen die Schülerinnen und Schüler am Nachmittag zwischen den angebotenen Themenräumen (z. B. Bauen, Atelier, Spielezimmer, Aktionsund Ruheraum) pendeln. Sie müssen sich nicht eine vorgegebene Zeit lang mit einer Sache beschäftigen – was ganz nebenbei für zusätzliche Bewegung sorgt. Und den neunjährigen Martin* strahlen lässt. „Das ist total klasse. Denn manchmal merke ich, dass ich doch keine Lust auf Spiele habe, sondern lieber etwas baue“, sagt er. Und vertieft sich wieder in seine Lektüre.

*Name von der Redaktion geändert

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