Emil hat Bauchweh. Seit der dritten Stunde zwickt und zwackt es – und er weiß nicht so recht, woher das kommt. Sobald der Unterricht vorbei ist, sucht er seine Horterzieherin auf und bittet um einen Tee. Der Viertklässler weiß, dass bei Bauchschmerzen Kamille beruhigt und Pfefferminze guttut. Schließlich geht er in die Sebastian-Kneipp-Grundschule in Bad Tennstedt, wo man eine gesunde Lebensweise fest im Schulalltag implementiert hat.
Als das Kollegium der kleinen Schule im Herbst 2008 beschloss, zur Kneipp- Schule zu werden, war der erste Schritt getan. Die Grundlagen waren bereits vorhanden: Bad Tennstedt ist eine Kurstadt, in der 1816 sogar Goethe kurte. Es gibt einen aktiven Kneipp- Verein und den schönen Kurpark, der fast vor der Schultür liegt. Diese Ressourcen nutzten die Pädagogen schon lange. Nun bekam das Ganze einen Namen und einen festen Platz im Schulalltag. Das Kneippen wurde in das Schulkonzept und die Unterrichtsplanung aufgenommen. Dafür ließen sich alle Mitarbeiter in einer 40-stündigen Weiterbildung zum zertifizierten Kneipp-Gesundheitslehrer beziehungsweise Kneipp-Gesundheitserzieher ausbilden.
„Immer mehr Kinder leiden heute unter Koordinations- und Haltungsschwächen sowie Übergewicht. Wir beobachten eine starke Zunahme von Konzentrationsstörungen. Schule kann eine ganze Menge tun, um die Gesundheit der Kinder zu erhalten“, ist Schulleiterin Christina Jenke überzeugt. Das Augenmerk dabei nur auf einen Aspekt der Gesunderhaltung – etwa Bewegung – zu legen, waren ihr und ihrem Team zu wenig. Das menschliche Wohlbefinden ruht auf mehreren Eckpfeilern.
Deshalb passt die ganzheitliche Philosophie des 1821 geborenen Sebastian Kneipp ganz wunderbar zum Schulkonzept. Bereits beim Betreten des Schulhauses fallen in einer liebevoll gestalteten Ecke fünf Säulen auf. Sie repräsentieren die Eckpfeiler der Kneipp-Lehre. Die Kinder lernen in dieser Schule nicht nur Rechnen, Lesen und Schreiben. Sie lernen auch, wie man sich gut ernährt, wie Heilpflanzen wirken und sich Bewegung, Entspannung, Armgüsse und Wassertreten auf Gesundheit und Immunsystem auswirken.
PROJEKT ZUR STRESSREDUKTION
Bei Emil tut der Tee jedenfalls seine Wirkung – mehr noch aber Freundin Lena, die nun auch Schulschluss hat. Das Bauchweh ist erst mal vergessen, als er sie erblickt. „Durst habe ich jetzt auch.“ Lena nimmt sich eine der bereitgestellten Teetassen und füllt sie am großen Teespender, der mittlerweile auf den Hof geschoben wurde. An der Wand hängt die heutige Mischung: Anregend – aus Ringelblumen, Birkenblättern, etwas Estragon, Gänseblümchen, Pfefferminze, Kapuzinerkresse.
Das Getränk wird jeden Tag frisch zubereitet. Die Kräuter lagern in unzähligen grauen Boxen, auf den Schränken der kleinen Hortküche. „Wir haben einen Fundus an Rezepten und deren Wirkungen, die wir mit Unterstützung des Kneipp-Vereins und der Kinder ausgearbeitet haben. Hier in der Küche wird viel ausprobiert, verarbeitet und gekocht. Im Sommer gibt es Kartoffeln mit Quark und Kräutern von der Kräuterspirale, im Herbst sammeln wir Hagebutten und bereiten daraus Tee. Wir verarbeiten das, was gerade geerntet wird“, erklärt Hortleiterin Annett Kocsis.
Dafür bearbeiten die Kinder im Rahmen des Unterrichts und auch außerhalb den schuleigenen Garten. Auch im Kurpark gibt es viel zu entdecken. Kräuter, Heilpflanzen und Hochbeete werden gehegt und gepflegt. Kinder und Betreuer ziehen Sprossen, trocknen Kräuter, kochen Löwenzahnhonig oder lernen, wie man Gemüse wie Topinambur verarbeitet. „Das Thema Ernährung zieht sich wie ein roter Faden durch den Alltag“, sagt die Schulleiterin. „Zweimal wöchentlich gibt es ein kostenloses Obst- und Gemüsefrühstück, gefördert mit Mitteln der EU. Jedem Kind wird ein Mittagessen angeboten und nachmittags im Hort werden Tee und selbst zubereitete Speisen zur Verfügung gestellt.“
Die zweite Säule, die Bewegung, nutzen die Kinder nach dem langen Stillsitzen gerade so richtig aus. Während ein paar Jungs auf dem Hof Fußball spielen, zieht es Emil und Lena zu den Spielgeräten, wo sie klettern und toben können. Neben dem freien Spiel am Nachmittag gibt es auch während des rhythmisierten Tagesablaufes viele Möglichkeiten, sich zu bewegen. Im Zeitraum von 2014 bis 2016 führte die Schule mit Unterstützung einer großen Krankenkasse ein Projekt zur Entspannungsförderung und Stressreduktion durch. Zuerst erlernten die Kollegen, dann die Kinder verschiedene Entspannungstechniken und Bewegungseinheiten. Die regenerieren Kopf und Körper und machen wieder fit für weiteren Lernstoff. Nun ist das Erlernte eine feste Einheit im Unterrichtsalltag – genauso wie die Ergänzungsstunde einmal pro Woche, die mit Themen der Kneipp’schen Gesundheitslehre gefüllt ist.
KLEINE KNEIPP-PROFIS
„Der Storchenlauf durch das kalte Wasser gefällt mir am besten“, sagt der Drittklässler Willi. „Ich mag den Gesichtsguss am liebsten, weil man sich da schön abkühlen kann“, ergänzt sein Mitschüler Vincent. „Außerdem ist es gesund und macht Spaß.“ Fragt man die Kinder nach dem Kneipp-Konzept, können sie genau erklären, was ihnen gefällt. Und Profis in der Durchführung sind sie auch: „Erst mal musst du die Ärmel hochkrempeln, dann vorsichtig den Schlauch nehmen und dann langsam das Wasser über den Arm laufen lassen. Man darf nicht so doll das Wasser aufdrehen, sonst wird man überall nass. Mit dem rechten Arm anfangen, weil der Arm weiter entfernt ist vom Herz. Wenn das Wasser zuerst links wäre, würde sich das Herz erschrecken. Dann musst du das Wasser von den Armen abstreifen und mit den Armen wedeln, weil sie trocken werden müssen, damit man nicht krank wird“, erklären sie den Armguss. Voller Eifer sind sie dabei. Neben dem Gesundheitseffekt bringt ihnen das Kneippen ganz offensichtlich eine Menge Spaß.
Im Herbst 2012 hat die Schule drei Armbecken im unteren Flur installiert, damit die Anwendungen auch in der kalten Jahreszeit durchgeführt werden können. Außerdem wurde ein Barfußpfad hinter dem Gebäude angelegt. Ein Weidentipi mit Tunnel, das sich selbst begrünen soll, wurde 2016 als Rückzugsort geschaffen. Eine Hängemattenschaukel lädt zum Ausruhen ein. Der Ort ist wie gemacht dafür, denn hinter dem Haus fließt das Flüsschen, das auch die Tretbecken im Kurpark speist. Bäume spenden Schatten, eine kleine Oase.
Mittlerweile ist Hausaufgabenzeit und Emil und Lena ziehen mit ihren Schulsachen in den Klassenraum. Dort werden sie von Erzieherinnen unterstützt. „Die Kinder sind erfrischt und konzentrierter mit diesem Tagesrhythmus“, stellt Hortleiterin Kocsis fest. „Auch die Kolleginnen profitieren davon. Nicht nur beruflich, auch privat. Ich kaufe bewusster ein, achte auf gesunde Ernährung und bei Wehwehchen verwende ich lieber Kräuter statt Chemie.“
Die Umstellung zur Kneipp-Schule war auch mit Kosten verbunden. Die findige Schulleiterin Christina Jenke hat dazu unterschiedliche Fördertöpfe genutzt: Aus dem Budget für schulinterne Fortbildungen des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm) konnte die Weiterbildungen der Lehrer finanziert werden. Die Armbecken hat der staatliche Schulträger übernommen.
„Wir haben schon viel geschafft“, bilanziert Christina Jenke. „Als ich im Herbst ein Formular für die Lizenzverlängerung als Kneipp-Einrichtung ausfüllte, wurde mir das noch mal richtig bewusst. Trotzdem sind da noch eine Menge Ideen und Vorhaben, die wir umsetzen möchten, etwa eine frischere und vollwertigere Mittagsversorgung.“ Sie und ihre Kollegen seien häufig die Einzigen, die den Kindern eine ausgewogene Mahlzeit anbieten.
Steckbrief
Schulform: Die Sebastian-Kneipp-Schule in Bad Tennstedt ist eine offene Ganztagsschule. Die 168 Schüler besuchen die Klassen 1 bis 4.
Ganztag: 106 Schülerinnen und Schüler besuchen nachmittags den Hort, der nach dem Konzept der offenen Arbeit arbeitet. www.grundschule-badtennstedt.de
Gesundheit macht Schule
Sebastian Kneipp (1821-1897) war Priester und Naturheilkundler im bayerischen Bad Wörishofen und ist bis heute als Erfinder der Kneipp’schen Wasser- und Kräuterkuren berühmt. Seine Gesundheitslehre stützt sich auf fünf Säulen: Bewegung, Heilkräuter, Wasser, Lebensordnung und Ernährung. Er gilt als Begründer der modernen Naturheilverfahren.
Kneipp für Kinder: Über 400 Kindertageseinrichtungen und 31 Schulen gestalten deutschlandweit ihre Arbeit nach Sebastian Kneipp.
Zertifizierung: Eine Schule, die zu einer Kneipp-Schule werden will, sollte Mitglied in einem der 600 örtlichen Kneipp-Vereine werden. Der nächste Schritt ist die Entwicklung eines Gesundheitskonzepts, das sowohl im Lehrplan als auch in der Freizeit angewendet werden kann. Dazu ist eine einwöchige Fortbildung notwendig, die mindestens zwei Lehrkräfte absolvieren müssen. Die Kosten betragen für Mitglieder 250 Euro. Danach hat die Schule 18 Monate Zeit, das Konzept anzuwenden und zu erproben. Ein Qualitätsbeauftragter des deutschen Kneipp-Bundes vergibt dann nach einer Prüfung das Gütesiegel „Vom Kneipp-Bund e. V. anerkannte Schule“.
www.kneippbund.de/guetesiegel-zertifizierung/schulen