Dialogische Bilderbuchbetrachtung
„Die Technik des dialogischen Lesens („dialogic reading“) ist vor allem als Methode der Sprachförderung konzipiert und erfolgreich erprobt worden: Untersuchungen zeigen, dass Kinder, mit denen regelmäßig dialogisch gelesen wurde, in kürzester Zeit einen vorher festgestellten Entwicklungsrückstand in Bezug auf ihre sprachlichen Fähigkeiten ausgleichen konnten (Whitehurst u.a. 1988; Hargrave & Sénéchal 2000). Im Gegensatz zur klassischen Form des Vorlesens, bei der der Erwachsene als Vorleser den aktiven Part hat, steht bei der dialogischen Bilderbuchbetrachtung das Gespräch – der Dialog – über den Inhalt des Buches im Vordergrund. Dieses Gespräch wird vom Vorlesenden gelenkt, in dem er bestimmte Gesprächführungstechniken anwendet (Kraus 2005), z.B. W-Fragen stellt (Wer? Was? Wo? Wie? Warum?), Rück- und Erinnerungsfragen in Bezug auf die Handlung formuliert oder einen Alltagsbezug zum Erleben des Kindes herstellt. Der Vorlesende wiederholt und erweitert kindliche Aussagen (Expansion) und fordert es dazu auf, Sätze zu vervollständigen, Expansionen des Erwachsenen zu wiederholen oder eine Geschichte mit eigenen Worten zu Ende zu erzählen. Mit der Methode der dialogischen Bilderbuchbetrachtung wird die Freude am Sprechen und Erzählen geweckt und die sprachlichen Kompetenzen, vor allem die Wortschatzentwicklung und der Grammatikerwerb werden gefördert. Als eine effektive und alltagsintegrierte Form der Sprachförderung sind dialogische Vorlesestrategien vielen Sprachförderungsprogrammen, deren Effektivität mehr als umstritten ist (Schöler/Roos 2010), deutlich überlegen.“
Diskursive Bilderbuchbetrachtung
Durch die diskursive Bilderbuchbetrachtung werden die Kinder zum freien Ausdruck angeregt und kommen nach und nach zu einem selbstläufigen Erzählfluss. Es wird ein Diskurs in Gang gesetzt, in dem die Beteiligten – angeregt durch den inhalt eines Buches – Erlebnisse austauschen, Geschichten weiterentwickeln und assoziativ aufeinander Bezug nehmend die Gedankenräume füllen, die ein Buch mit seinen Bildern und seinen Geschichten geöffnet hat. Von zentraler Bedeutung ist, was die Kinder den Zuhörenden in ihren Äußerungen über ihre individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Perspektiven erzählen und wie sie als Gruppe miteinander kommunizieren. So geht es vor allem um Diskurskompetenzen als sprachpragmatische und soziale Kompetenzen und nicht um grammatikalische Korrektheit. Diese wird, ebenso wie der Wortschatz, quasi beiläufig durch die Sprachvorbilder der anderen Kinder und der Erzieherin gefördert. Durch die Bilderbuchbetrachtungen und die sich daraus entwickelnden Gespräche öffnet sich darüber hinaus dem Erwachsenen ein Zugang zu der Art und Weise, wie Kinder sich sprachlich einen Zugang zur Welt erschließen, Erlebnisse verarbeiten und mit anderen diskursiv teilen.
Die Förderung des freien Ausdrucks erfordert eine entsprechende bewusste – abwartende, fragende und assistierende – Haltung von seiten der Fachkraft: Ihre Aufmerksamkeit muss den Kindern „nachgehen“, um sie in ihrem Erzähl- und Gedankenfluss unterstützen zu können. Ein stärkenorientierter Blick ermöglicht, den Kindern in ihren Gesprächen und Gedankengängen zu folgen, deren Sinnhaftigkeit sich dem Erwachsenen nur erschließt, wenn er geduldig und neugierig zuhört. So kann sich eine Vertrauensbasis entwickeln, die Voraussetzung dafür ist, dass sich das einzelne Kind voll und ganz auf die Bilderbuchbetrachtung einlassen kann und sich tatsächlich ein selbstläufiger Gesprächs- und Erzählfluss entfaltet. Wenn es gelingt, durch die diskursive Bilderbuchbetrachtung vermehrt Gespräche und Diskurse zwischen den Kindern und auch mit der Erzieherin in Gang zu setzen, werden Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten in einem ganzheitlichen Sinne und am individuellen Kind orientiert gefördert. Darüber hinaus erfährt die pädagogische Fachkraft sehr viel über die ganz eigene soziale Welt der Kinder und Prozesse der Ko-Konstruktion. Das Miteinander-Sprechen, der Austausch von Gedanken, das gemeinsame geteilte Denken (Sijaj-Blatchford 2007) ist Teil einer elaborierten und reichen Gesprächskultur im Kindergarten.“