Mentalisieren gehört zu den sozial-kognitiven Fähigkeiten und ist ein Meilenstein im Prozess der seelischen Entwicklung. Doch wie zeigt sich diese Fähigkeit bei Kindern?
- Immer dann, wenn ein Kind in der Lage ist, sich in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen. Es ist sich z. B. darüber bewusst, dass der Freund/die Freundin gleich über die am Boden liegende Schaufel stolpern wird, weil er oder sie das Hindernis nicht bemerkt hat.
- Mentalisierungsfähige Kinder sind zu Anteilnahme und Mitgefühl fähig. Dadurch, dass sie wissen, wie sich z. B. Traurigkeit anfühlt, sind sie in der Lage, sich in die Gefühlslage eines anderen Menschen hineinzudenken und ihn beispielsweise zu trösten.
Ob Perspektivenwechsel oder empathisches Verhalten – in beiden Fällen reagieren Kinder auf die mentalen Zustände des Gegenübers.
Zur Mentalisierung gehört auch, sich seiner eigenen seelischen Innenwelt bewusst zu sein, zu wissen, was man selbst denkt, wünscht und fühlt und dies dann im Handeln zu bedenken.1 Darüber hinaus hilft diese Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu ordnen. Denn indem Kinder über ihre Gefühle nachdenken, verarbeiten sie diese und können sie dementsprechend regulieren.
Beziehungen spielen eine wichtige Rolle
Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit vollzieht sich in den ersten sechs Lebensjahren des Menschen und ist eng mit der Entstehung des Selbst als sozialer Akteur verbunden. Die Qualität der Bindungen – zu Eltern2 und anderen relevanten Bezugspersonen wie pädagogischen Fachkräften3 – spielt hierbei eine wichtige Rolle. Nur über die Interaktion mit anderen Menschen gelangen Kinder zu einem Verständnis ihrer selbst.
Eine sichere Bindung ist eine günstige Voraussetzung für die Herausbildung der Mentalisierungsfähigkeit. Im Rahmen einer sicheren Bindung können Heranwachsende ihren Betreuungspersonen nicht nur gefahrlos mentale Zustände zuschreiben, auch das Bindungssystem ist weniger aktiv, sodass mehr Zeit für das Einüben des Mentalisierens bleibt.4 Andere Bindungsmuster (unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent, desorganisiert) können sich möglicherweise hemmend auf die Entstehung des Mentalisierens auswirken.5
Wann und wie sich Mentalisieren entwickelt
Im frühen Säuglingsalter
Die erste Stufe der Entwicklung umfasst die Zeitspanne von der Geburt bis etwa zum neunten Lebensmonat. Während dieser Zeit ist der Säugling im ständigen Austausch mit seiner Umwelt und seinen primären Bezugspersonen. Zu dieser Zeit kann er zwar zwischen lust- und unlusterzeugenden Zuständen unterscheiden,6 hat jedoch noch keine Vorstellung davon, welche konkreten Gefühle ihn im Inneren bewegen.
Er ist auf ein spiegelndes und haltendes Gegenüber angewiesen, das ihm beim Verstehen und der Regulation seiner Gefühle hilft. Wenn der Säugling z.B. weint, nimmt die Bindungsperson ihn auf den Arm oder berührt ihn sanft und spricht mit ihm in der sogenannten Ammensprache. Diese ist vor allem durch eine veränderte Modulation der Stimme gekennzeichnet. Auf diese Weise „markiert“7 die Bezugsperson das Gefühl, sodass der Säugling den Inhalt der Äußerung auf sich beziehen kann. So gelangt er allmählich zu einer Vorstellung darüber, was in seiner Psyche vorgeht. Seine Gefühle werden also zunächst stellvertretend von der Bezugsperson für ihn rational erfasst. Der Säugling lernt auf diese Weise, dass es verschiedene Gefühle gibt und dass diese unterschiedlich intensiv sind. Die Gefühle werden zugleich von der Betreuungsperson mit Worten wie Angst, Wut, Traurigkeit etc. benannt. Sie werden damit (in Zukunft) intersubjektiv kommunizierbar.
Vom 9. Monat bis zur Vollendung des 2. Lebensjahrs
Im Alter von etwa neun Monaten vollzieht sich im Kind ein wichtiger Entwicklungsschritt – die sogenannte „sozio-kognitive >Neunmonatsrevolution<“.8 Das Kind nimmt seine Umgebung und die Menschen ab jetzt verändert wahr. Allerdings bleibt die Art und Weise des kindlichen Wahrnehmens äußerlich. Eine Berücksichtigung mentaler, also innerer Zustände des Gegenübers findet auf dieser Stufe der psychischen Entwicklung noch nicht statt. Sichtbar werden die Veränderungen allein auf der Ebene des Interaktionsgeschehens:
- Der Säugling zeigt neue Verhaltensweisen wie „Blickverfolgung, soziale Rückversicherung, nachahmendes Lernen und (…) Gesten“.9
- Das Kleinkind kann nun auch „das Verhalten anderer zielorientiert und rational interpretieren“.10
Vom 3. Lebensjahr bis zur Vollendung des 4. Lebensjahrs
Kinder in diesem Alter sind nun in der Lage, eigene und fremde Gedanken und Gefühle zu mentalisieren. Jetzt können sie anderen Menschen mentale Zustände zuschreiben und diese von ihren eigenen Gefühlen und Gedanken unterscheiden. Das Denken wird flexibler. Allerdings besitzen Kinder zu diesem Zeitpunkt noch kein einheitliches Konzept der seelischen Realität. Vielmehr wechseln sie zwischen zwei Formen des inneren Erlebens hin und her. Diese Formen werden als „Modus des Als-ob“ und als „Modus der psychischen Äquivalenz“ bezeichnet.
- Im Als-ob-Modus sind die eigenen Gedanken, Überzeugungen und Gefühle von der Realität getrennt. Das kindliche Spiel ist für diesen Zustand charakteristisch. Alles hat nur im Rahmen des Spiels einen Sinn und eine Bedeutung, die Realität spielt keine Rolle. So hat z.B. der Umstand, dass fliegende Einhörner nicht existieren, keinerlei Auswirkungen auf das Spiel des Kindes und die Bedeutung der damit verbundenen Gefühle. Eine Bezugnahme zur Wirklichkeit findet nicht statt.
- Anders im Modus der psychischen Äquivalenz: Darunter versteht man einen seelischen Zustand, bei dem die eigenen Gedanken und die äußere Welt als übereinstimmend erlebt werden. Ein Kind kann sich z.B. nicht vorstellen, dass es zwischen seinen Gedanken und der Realität einen Unterschied gibt. Dies hat zur Folge, dass auf einen Gedanken genauso reagiert wird wie auf einen Fakt. Der Gedanke an einen Löwen wird vom Kind daher beispielsweise genauso erlebt als sei dieser tatsächlich anwesend. Hier liegt das Gewicht auf den eigenen Gedanken. Diese besitzen Tatsachencharakter und werden dementsprechend erlebt.
Ab Beginn des 5. Lebensjahrs
Ab jetzt vollzieht sich ein zentraler Entwicklungsschritt. Es kommt zu einer Integration des Als-ob-Modus und des Modus der psychischen Äquivalenz (siehe oben). Das Kind wird ein reflektierender bzw. mentalisierender Akteur. Es erkennt, dass sich Dinge ändern können, dass andere Menschen die Welt aus einer anderen Sicht wahrnehmen können und dass persönliche Überzeugungen und Einstellungen veränderbar sind. Die Zusammenführung der beiden Formen des Erlebens führt zur voll ausgebildeten Mentalisierungsfähigkeit.
Damit gehen zugleich eine Reihe positiver Veränderungen einher. So wird z.B. das Selbsterleben des Kindes gestärkt. Auch können Gedanken und Gefühle nun der äußeren Welt angepasst werden. Sie verlieren ihren bedrohlichen Charakter. Das Verhalten der Menschen wird auf der Grundlage der Zuschreibung mentaler Zustände interpretiert. Gleichzeitig kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Affektregulation. Insgesamt wird die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen nachhaltig gestärkt, weil nicht nur die eigene Innenwelt, sondern auch andere Menschen nun viel besser verstanden werden.
Das Kind ist nun fähig, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und mit ihnen in der Vorstellungswelt zu spielen:11 „Wenn die Mutter jetzt böse auf das Kind ist, so kann sich das Kind sagen: Meine Mutter glaubt (...), ich sei böse, aber ich glaube (...) etwas anderes.“12
Smarties oder Bleistifte?
Die Mentalisierungsfähigkeit von Kindern ist entwicklungsabhängig – hier ein Beispiel um deutlich zu machen, was zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr „passiert“:
Ein 3-jähriges Kind wird in ein Untersuchungszimmer geführt. Dort wird ihm eine Schachtel gezeigt, welche mit Smarties bedruckt ist. Das Kind wird gefragt, was es glaubt, was in der Schachtel sei. Das Kind antwortet natürlich: Smarties. Die Schachtel wird nun geöffnet und es befinden sich Bleistifte darin. Jetzt fragt man das Kind Folgendes: „Nehmen wir an, vor der Tür steht dein Freund. Wenn wir ihn hereinholen und ihn fragen, was in der Schachtel ist, was meinst du, wird er antworten?“ 3-Jährige antworten auf diese Frage i.d.R. mit: „Bleistifte“, während 4-Jährige „Smarties“ sagen. Die 3-Jährigen können sich also nicht vorstellen, dass sie in Bezug auf den Inhalt der Schachtel eine falsche Vorstellung haben. Sie halten ihre eigenen Gedanken für wahre Abbilder der Welt.13
Mentalisieren fördern
Fachkräfte können Kinder bei der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit unterstützen – grundsätzlich durch eine gute Beziehung (siehe oben) und mit bestimmten Haltungen und Einstellungen:14
Beim Säugling kommt es vor allem darauf an, ihm bei der Affektregulation zu helfen. Denn er ist noch nicht fähig, ihre oft körperlich zum Ausdruck kommenden Affekte zu verstehen und zu bewältigen. Hier ist die Bindungsperson gefragt, besonders bei negativen Gefühlen. Ihre Aufgabe besteht darin, den Säugling verbal und nonverbal bei der Regulation zu unterstützen, z.B. indem „sie eine Idee hat, wie der Verzweiflung begegnet werden kann“15 und diese responsiv umsetzt.
Ab dem Kleinkindalter hilft es den Kindern, wenn pädagogische Fachkräfte eine neugierige und offene Haltung gegenüber den kindlichen Gefühlen und Gedanken einnehmen bzw. wenn sie versuchen, sich empathisch in die innere Welt der Kinder einzufühlen und wertschätzend mit deren Äußerungen umgehen. Förderlich ist es zudem, wenn Erzieher*innen Interesse am emotionalen Erleben des Kindes zeigen und es erforschen. Sie können, wenn es die Situation zulässt, die Gefühle und Gedanken des Kindes vorsichtig benennen und veranschaulichen, wie z.B. „Ich habe den Eindruck, dass du jetzt Angst hast.“
Zu einem bestimmten Thema können Sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen und kommunizieren. Ein Beispiel: „Was glaubst du, welche Gefühle hatte Peter, als er mit dir um das Auto gestritten hat?“
Auch rigide Überzeugungen oder Ansichten des Kindes können Sie in Frage stellen, um eine gemeinsame Reflexion anzuregen. Wenn ein Kind z.B. der festen Überzeugung ist, dass nur Jungen mit Autos spielen sollten, könnten Sie dieser Auffassung eine andere Perspektive entgegenstellen, nämlich, dass das Autospielen keinesfalls geschlechtsspezifisch ist und viele Mädchen daran genauso Freude haben wie Jungen.
Bei der Bewertung von sozialen Konflikten ist es außerdem hilfreich, den Kontext der Situation mit einzubeziehen. Gelegentliches Offenbaren eigener Gefühle und Gedanken begünstigt ebenfalls die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit, weil diese Handlungen die Kinder zur Perspektivübernahme einladen.
Um den mentalen Integrationsprozess bei Kindern zu fördern ist es zudem wichtig, sie bei der Regulation und Bewältigung ihrer Gefühle zu unterstützen. So kann es z.B. hilfreich sein, das Kind nach einem Streit mit einem anderen Kind zu unterstützen, indem Sie es auf den Arm nehmen und über die entstandenen Gefühle sprechen. Die Perspektive des anderen Kindes kann hierbei mit einbezogen werden.
Auch in der Beziehung zur pädagogischen Fachkraft ist eine mentalisierende Grundeinstellung förderlich. Wenn Kinder kognitiv und emotional nachvollziehen können, warum Erzieher*innen so und nicht anders gehandelt haben, können sie lernen, dass andere Menschen mitunter einen anderen Standpunkt vertreten und dieser nicht zwangsläufig mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen muss. Zudem wird die Fähigkeit gestärkt, zwischen den eigenen und fremden Gedanken und Gefühlen zu unterscheiden, was die mentale Entwicklung zusätzlich begünstigt.
Ein Zusammenhang mit Widerstandsfähigkeit
In der Literatur wird zwischen der Fähigkeit zur Mentalisierung und der individuellen psychischen Widerstandsfähigkeit, also der Resilienz, ein Zusammenhang hergestellt16: „Mentalisierung kann daher in Bezug auf die Entwicklung eines Individuums über die Lebensspanne als intrapsychische Ressource angesehen werden.“17
Mentalisieren – also das nachdenkende Umgehen mit den eigenen Gefühlen und Gedanken – führt sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu einer spürbaren Verminderung von Belastungs- und Stressgefühlen. Dies geschieht, indem Personen ihr eigenes Verhalten reflektieren und Ursachen für emotionale Wirkungen erkennen. So können sie gesundheitsschädliche seelische Auswirkungen verhindern bzw. Gefühle und Gedanken ins Positive wenden. Dadurch fühlen sie sich der eigenen Innenwelt nicht hilflos ausgeliefert. Gefühle von Stress und emotionaler Überforderung werden so gemildert und das psychische Wohlbefinden wird gesteigert. Insofern ist die Fähigkeit zur Mentalisierung ein Faktor in der Resilienz- und Persönlichkeitsentwicklung.
Dementsprechend können Erzieher*innen Mentalisieren auch als Instrument nutzen, um ihre eigene Resilienz und die der Kinder zu stärken.18
Manfred Böge