"Den Wahrnehmungsstörungen kommt als einer möglichen Ursache im Bereich der kindlichen Entwicklungsstörungen eine besondere Bedeutung zu, da die Wahrnehmung in der kindlichen Entwicklung eine grundlegende Funktion besitzt. Eine Wahrnehmungsstörung ist der vollständige oder teilweise Ausfall der Sinnesorgane und/oder ein gestörter Prozess der Reizverarbeitung im Gehirn, auch wenn die Sinnesorgane funktionieren. Die Ursachen können organisch oder um weltbedingt sein. Oft ist auch bei Wahrnehmungsstörungen ein Zusammenspiel anlage- und umweltbedingter Einflüsse zu beobachten. Im Einzelnen können einer Wahrnehmungsstörung folgende Faktoren zugrunde liegen:
- Bestimmte Hirnregionen sind geschädigt oder mangelhaft ausgereift.
- Das Gehirn bildet zu wenig Nervenzellen und Synapsen, sodass zu wenige Grundstrukturen zur Verfügung stehen, um Reize zu verarbeiten.
- Das Gehirn ist durch Beeinträchtigungen in der Schwangerschaft (Medikamente, Alkohol) geschädigt worden.
- Das Gehirn ist durch Sauerstoffmangel während der Geburt geschädigt worden.
- Die dem Kind zur Verfügung stehenden Reize stimulieren das Kind nicht genug.
- Das Kind ist einer Reizüberflutung ausgesetzt.
- Kinder sind nicht eigenaktiv genug, um ihre Welt »begreifen« zu können.
- Die Reizstimulierung in sensiblen Phasen ist nicht ausreichend.
- Die emotionale Grundstimmung eines Kindes ist negativ geprägt.
Einteilung von Wahrnehmungsstörungen entsprechend der Entwicklungsstufen nach Affolter (in Zimmer 1995, S. 160):
- modalitätsspezifische Störungen: Die Verarbeitungsprobleme liegen im Bereich der auditiven, kinästhetischen, taktilen, vestibulären oder visuellen Wahrnehmung.
- intermodale Störungen: Die sensorische Integration ist gestört. Das Gehirn kann Reize nicht zu einem sinnvollen Ganzen verarbeiten.
- seriale Störungen: Ein räumliches oder zeitliches Nacheinander von Reizen kann schwer oder nicht erkannt werden. Eine Reaktion ist schwierig.
Wahrnehmungsstörungen können sich bei Kindern im Alltag unterschiedlich äußern, z. B. durch Selbstwertprobleme, ängstliches Verhalten, Überempfindlichkeit, Verletzbarkeit, Aggressivität, Konzentrationsschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsprobleme, Schwächen in der Grob- und Feinmotorik, Teilleistungsstörungen (Lese- und Rechtschreib-Schwäche).
In der Arbeit mit den Kindern ist es wichtig, die eigene Einstellung und die Haltung zum Kind zu überprüfen, damit ein unangemessenes Erziehungsverhalten, das das Kind z. B. unter- oder überfordert oder mit Vorurteilen gegenüber dem Kind operiert, vermieden werden kann. Die verschiedenen Stärken der Mitarbeiterinnen innerhalb eines Teams können dabei gewinnbringend eingesetzt werden. Die Stärken des Kindes sollen bewusst gesehen werden, um über sie einen Zugang zum Kind und zu einer ihm angemessenen ganzheitlichen Förderung zu finden. Eine ganzheitliche Förderung im Gegensatz zur Förderung einzelner Wahrnehmungsbereiche ist sinnvoll, weil die Bereiche im Gehirn miteinander in Verbindung stehen und so jede Anregung eines Sinnesbereiches sich auf die anderen Bereiche auswirkt. Grundlage jeder Förderung sollte dabei sein, den Kindern Spaß, Freude und Neugier bei der Erkundung der Umwelt und des eigenen Körpers zu geben oder zu erhalten. Dem Kind soll das Gefühl vermittelt werden, dass es wertgeschätzt wird, was sich positiv auf sein Selbstwertgefühl auswirken kann.
Zeigen sich Kinder in der Kindertageseinrichtung auffällig und besteht ein Verdacht auf eine Wahrnehmungsstörung, so sollten die Beobachtungen genau dokumentiert und interpretiert werden. Zur Einschätzung der Beobachtungen können externe Fachkräfte hinzugezogen werden. Bestätigt sich die Vermutung, dass eine Wahrnehmungsstörung vorliegt, so sollte das Gespräch mit den Eltern gesucht werden, um diesen die Beobachtungen und Vermutungen darzulegen. Dabei sind sie als die Expertinnen für ihre Kinder ernst zu nehmen und wertzuschätzen. Fragen, Sorgen und Beobachtungen der Eltern müssen wahr- und ernst genommen werden. Ziel des Gespräches sollte sein, dass das Kind durch Fachkräfte (Kinderärzte, Erziehungsberaterinnen oder andere Spezialisten) untersucht wird, die eine entsprechende Diagnose stellen können. Die Erzieherinnen unterstützen in diesem Sinn oft die Arbeit von Therapeutinnen oder Heilpädagoginnen, die die Kinder in der Einrichtung oder in der Praxis gezielt fördern. Sie dürfen aber selbst nicht therapeutisch tätig werden."