Fragen an Lilian Fried, Professorin für Pädagogik der frühen KindheitIst keine Spracherfassung besser als eine schlechte?

Verfahren zur Sprachstandserhebung bei Kindergartenkindern und Schulanfängern gibt es inzwischen in großer Zahl. Die Expertin nennt wichtige Kriterien, nach denen ErzieherInnen ein gutes Verfahren für ihre Arbeit finden können.

kindergarten heute: Sprachförderung hat sich zu einem wichtigen Thema in der Elementarpädagogik entwickelt, entsprechend viel Fachliteratur, Arbeitsmaterialien und mehr oder weniger bundesweite Projekte wurden und werden angeboten. Die Erzieherin steht nun vor der Aufgabe, sich aus diesen Angeboten das herauszusuchen, was ihr passend und gut erscheint, um den Sprachstand eines Kindes festzustellen und in Folge geeignete Fördermaßnahmen zu entwickeln und durchzuführen. Welche Verfahren eignen sich denn aus Ihrer Sicht überhaupt für den Vorschulbereich?

Prof. Fried: Zunächst einmal: Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass wir alle erkannt haben, wie wichtig professionelle Sprachförderung im Vorschulbereich ist. Gleichzeitig gilt: Wir sind auf diese Erkenntnis nicht gerade gut vorbereitet. Denn allzu lange war man überzeugt, es käme vornehmlich darauf an, die Kinder zu spielerischer Kommunikation anzuregen. Inzwischen wissen wir, dass das nicht gereicht hat. So hat PISA deutlich gemacht, wie viele Kinder geringere Bildungschancen haben, weil sie nicht über die erforderlichen sprachlichen Bildungsvoraussetzungen verfügen. Bedenkt man nun, dass laut regionaler repräsentativer Untersuchungen 25 bis 30 Prozent der Kindergartenkinder mit Sprachentwicklungsrisiken zu kämpfen haben, dann wird klar, dass wir die Sprachförderkultur in unseren Einrichtungen noch konsequenter professionalisieren müssen als bislang der Fall. Dabei wäre es unverantwortlich, quasi rezeptartig bestimmte Verfahren vorzuschreiben oder zu empfehlen. Das verbietet sich schon allein deshalb, weil es kein Verfahren gibt, das allen Zwecken gleichermaßen dienen könnte. Vielmehr taugen die vorliegenden Verfahren für bestimmte Zwecke gut und für andere schlecht. Leider werden auch etliche Verfahren angeboten, die für keine der anstehenden Aufgaben wirklich gut geeignet sind. Mit der Expertise versuche ich dazu beizutragen, dass man klarer unterscheiden kann, welches Verfahren sich für welche Zwecke empfiehlt oder nicht empfiehlt. Diese Hinweise sind mir wichtig, weil ich der festen Überzeugung bin, dass zweckentsprechend eingesetzte professionelle Hilfen dazu beitragen können, eine professionelle Sprachförderkultur zu etablieren; vorausgesetzt, man kann kompetent damit umgehen. Ein Instrument, sei es nun Spracherfassungsverfahren oder Sprachförderprogramm, wirkt schließlich nicht an und für sich, sondern nur dadurch, dass und wie es angewendet wird. Deshalb darf man sich nicht darauf verlassen, mit einem guten Instrument zwangsläufig auch positive Wirkungen hervorzurufen. Vielmehr muss man sich klar machen, dass ein Instrument bei falscher Anwendung negative Resultate hervorruft. Deshalb ist die Expertise nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen. So brauchen wir meines Erachtens dringend Qualifizierungsprojekte, in deren Rahmen ErzieherInnen geholfen wird, ihre Sprachförderkompetenz weiterzuentwickeln.

kindergarten heute: Sie verweisen in Ihrer Expertise zustimmend auf Hannelore Grimm*, die sagt, dass keine Spracherfassung immer noch besser ist als eine schlechte, diffuse, unzutreffende usw., weil man dadurch in die Irre geführt wird. An welchen Kriterien kann sich eine Erzieherin orientieren, um für sich das richtige Verfahren zu finden?

Prof. Fried: Die Bemerkung von Hannelore Grimm* hat den Charakter einer „bitteren Medizin"; sie schmeckt nicht unbedingt gut, aber sie hilft, indem sie folgenden Tatbestand auf den Punkt bringt: Ein Spracherfassungsverfahren ist nichts anderes als ein Instrument, ein professionelles Handwerkszeug. Nun wissen wir aber alle, dass ein Handwerkszeug nur dann hilft, die Arbeit professioneller auszuführen, wenn es von guter Qualität ist. Durch eine trübe Linse hindurch kann man die Realität bestenfalls erahnen. Und mit einem Gummimaßband kann man die Realität nur unzuverlässig messen. Wer anspruchsvolle Arbeit zu verrichten hat, muss sich also darauf verlassen können, dass sein Handwerkszeug tatsächlich für diese Arbeit taugt. Das gilt auch für Spracherfassungsverfahren. Nur gute Instrumente liefern die Informationen, die helfen können, Sprachförderung wirksamer zu gestalten. Deshalb ist es wichtig, aus dem vielfältigen Angebot nur die Spracherfassungsverfahren auszuwählen, von denen feststeht, dass sie eine gute Qualität haben. Ob und inwieweit das der Fall ist, kann man prüfen, indem man nachschaut, ob im Beiheft eines Verfahrens mindestens folgende Angaben gemacht werden (Minimalstandards): Für welche Zwecke taugt es (gut) und für welche (weniger oder) nicht? Welche Sprachentwicklungsaspekte misst es? Warum wurden gerade diese Aspekte ausgewählt? Ist durch die aktuelle Spracherwerbsforschung belegt, dass ausgerechnet diese Aspekte besondere Bedeutung für die Sprachentwicklung des Kindes haben? Ist das Instrument sorgfältig entwickelt und geprüft worden? Ist zum Beispiel untersucht worden, ob man mit dem Verfahren genau messen kann (Objektivität, Zuverlässigkeit)? Und hat man untersucht, ob man mit dem Verfahren auch das erfasst, worauf es einem ankommt (Gültigkeit)? Kurz: Die gute Qualität eines Instruments zeigt sich schon allein darin, dass präzise angegeben wird, auf welcher Sprachtheorie es basiert und welche Ergebnisse die Prüfung der Messgüte erbracht hat. Wo solche Angaben fehlen, rate ich zur Vorsicht - oder besser noch: zum Verzicht.

kindergarten heute: Welche Voraussetzungen braucht die Erzieherin selbst, um Spracherfassung leisten zu können?

Prof. Fried: Wichtig ist, nicht zu erwarten, dass man ein Spracherfassungsverfahren „aus dem Stand" beherrscht, sondern realistisch davon auszugehen, dass man schrittweise lernen muss, mit solch einer professionellen Hilfe angemessen umzugehen. Dabei kann man sich von Anfang an Hilfe von außen holen wie z.B. durch FachberaterInnen oder von Fachdiensten. Aber man muss es nicht bzw. nicht gleich. Ich kenne jedenfalls ErzieherInnen, die genügend „Biss" und Selbstvertrauen haben, um sich das Wissen und Können anzueignen, das man braucht, um Spracherfassungsverfahren erfolgreich einzusetzen. Das gelingt am ehesten, wenn man sich den Weg in einzelne Schritte aufteilt: Also erst verschiedene Verfahren durchlesen und mit Blick auf die in meiner Expertise genannten Kriterien vergleichen; dann innerhalb des Teams aushandeln, welches der verschiedenen Instrumente am ehesten für die eigenen Zwecke taugt; anschließend den Umgang mit den Verfahren simulieren (z.B. aneinander ausprobieren). Dass man auf diesem Weg immer wieder an Verständnisgrenzen stößt, liegt in der Natur der Sache. Dann nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen, indem man sich Zeit lässt, sich gegenseitig weiterhilft und sich, wenn es dann immer noch nicht klappt, verzeiht, erhöht die Chance, dass man sich allmählich vom Spracherfassungs-Laien zum Spracherfassungs-Experten entwickelt. Die Verfahren, die man natürlich braucht, um diese Schritte zu vollziehen, muss man nicht gleich anschaffen. Es gibt zum Teil die Möglichkeit, sie sich bei Fachdiensten, Fachhochschulen und Universitäten (Testsammlungen) auszuleihen.

kindergarten heute: Was zeichnet ein Sprachstandserfassungsverfahren aus, das an der Fachkompetenz von ErzieherInnen ausgerichtet ist?

Prof. Fried: Die Konstrukteure sollten immer klipp und klar sagen, wer das Verfahren einsetzen kann bzw. soll und wer nicht. Das beinhaltet u.a. Antworten auf folgende Fragen:

  • Ist das Verfahren für die Hand von PraktikerInnen allgemein und ErzieherInnen im Besonderen entwickelt worden?
  • Ist die Erfassungssituation so gestaltet, dass sie einem Kind im Vorschulalter gemäß ist?
  • Wie viel Zeit benötigt die Durchführung des Verfahrens?
  • Steht der Aufwand, den das Verfahren erfordert, in einem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen, den es bringt?
  • Ist das Verfahren so erläutert, dass es PraktikerInnen allgemein und ErzieherInnen im Besonderen ohne weiteres verstehen und anwenden können?
  • Lässt sich die Durchführung des Verfahrens in den Alltag des Kindergartens integrieren?
  • Sind die Ergebnisse so, dass PraktikerInnen allgemein und ErzieherInnen im Besonderen etwas damit anfangen können?
  • Wird z.B. angegeben, wann besonderer Förderbedarf signalisiert wird?
  • Wird erläutert, bei welchen Ergebnissen man welche Fördermaßnahmen einleiten sollte? usw.

kindergarten heute: Frau Professor Fried, vielen Dank!

*Hannelore Grimm ist Professorin für Psychologie an der Universität Bielefeld und hat für die zielgenaue Diagnostik ein spezielles Sprachscreening für Vorschulkinder (SSV) entwickelt.

Der gesamte Wortlaut der Expertise von Frau Professor Fried ist im Internet nachzulesen unter /www.dji.de/bibs/271_2232_ExpertiseFried.pdf

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