Die „Zukunftsfähigkeit von Kindertageseinrichtungen" muss in Frage gestellt werden, warnt das Bundesjugendkuratorium (BJK) in einem aktuellen Positionspapier. Diese Aussage ist ebenso brisant wie berechtigt - wird doch von Kindergärten und Kindertagesstätten gegenwärtig erwartet, zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen entscheidend beizutragen. Zwar gehört es seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (1991) zum Selbstverständnis engagiert arbeitender Erzieherinnen, der Auftrags-Trias von Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung gerecht zu werden. Aber erst seit der PISA-Studie (2001) wird ihnen auch gesellschaftspolitisch mehr Aufmerksamkeit zuteil. Die Ergebnisse der PISA-Studie wirken vor allem deshalb so alarmierend in unsere Gesellschaft hinein, weil sich das deutsche Bildungssystem mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, soziale Ungleichheiten bezogen auf Bildungschancen von Kindern noch zu verstärken.
Darüber hinaus haben die demografische Entwicklung und der damit verbundene Fachkräftemangel in Deutschland, aber auch die wachsende Gruppe von Kindern in unserem Land, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, eine unmittelbare und erhebliche Wirkung auf die Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Weshalb auch einflussreiche Wirtschaftsverbände sich immer stärker in bildungspolitische Fragen einmischen: Jüngst forderte die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), um dem drohenden Fachkräftemangel in den technischen Berufen entgegenzutreten, nicht nur eine gezielte Förderung des Spracherwerbs und - angesichts der Globalisierung der Märkte - auch das Erlernen einer Fremdsprache schon im Kindergartenalter, sondern auch, dass Kindern bereits in der KiTa das „Verständnis für Naturphänomene" nahegebracht werden sollte. Letzteres wollte schon Fröbel mit seiner Kindergartenpädagogik - mit einem entscheidenden Unterschied.
Das Aufgabenspektrum der Erzieherinnen hat sich erweitert
Fröbel hat als erster „Frühpädagoge" auf die Bedeutung der frühkindlichen Bildung hingewiesen, er verfolgte damit jedoch keine Verwertungsinteressen der Gesellschaft. Sein Ziel war, dass sich das Kind selbstbildend in der Begegnung mit Naturphänomenen und Lebensvorgängen Wissen über die Welt, die Menschen und sich selbst erschließt. Um diesem Verständnis frühkindlicher Bildungsprozesse und der Eigenständigkeit des Bildungs- und Erziehungsauftrags von Kindertageseinrichtungen auch bildungspolitisch mehr Geltung zu verschaffen, wurden für die Arbeit der Erzieherinnen vor Ort in den vergangenen Jahren Bildungs- und Erziehungspläne erlassen. Damit die elementare Bildung nicht mehr dem Vorwurf der Beliebigkeit ausgesetzt ist, bieten diese Empfehlungen den Erzieherinnen Orientierung bei der Planung, Umsetzung und Bewertung einer auf die individuellen Kompetenzen eines Kindes ausgerichteten Bildungsförderung. Der Aufgabenzuschnitt der Erzieherinnen hat sich also bezogen auf eine systematischere Bildungsförderung der Kinder erweitert. Aber nicht nur die Anforderungen an die Bildungsförderung im Kindergarten sind seit PISA intensiviert worden, neue Aufgaben sind für die Erzieherinnen hinzugekommen. So verpfl ichtet der Gesetzgeber die Kindertageseinrichtungen, mit den Eltern eine Erziehungspartnerschaft einzugehen, die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stützen und zu beraten sowie mögliche Risikosituationen für das Kind einzuschätzen und vorbeugend aktiv zu werden. Unter dem Stichwort „präventive Funktion " hat die Familienpolitik entdeckt, dass sie über Kindergärten und Kindertageseinrichtungen Einblick und Kontakt zu Familien erhalten und auf diese Weise steuernd eingreifen kann. Neu im Aufgabenspektrum der meisten Erzieherinnen ist - zumindest in den alten Bundesländern - auch das pädagogische Handlungsfeld „Krippe", auf das weder die Kindertageseinrichtungen noch die Erzieherinnen, geschweige denn Fachberatung und Aus-, Fort- und Weiterbildung konzeptionell vorbereitet sind. Die Träger, deren Aufgabe es ist, dieses erweiterte Aufgabenspektrum der Kindertageseinrichtungen und damit verbunden das gewachsene Anforderungsprofi l in den Blick zu nehmen und dafür zu sorgen, dass Erzieherinnen und Leitungskräfte in der Erfüllung ihrer vielfältigen und komplexen Aufgaben unterstützt werden, zeigen jedoch noch wenig Initiative, die Rahmenbedingungen der Einrichtungen qualitativ neu zu bestimmen.
Das Bundesjugendkuratorium bezieht Stellung
Nun hat sich das Bundesjugendkuratorium (BJK) zu Wort gemeldet und in seinem aktuellen Positionspapier „Zukunftsfähigkeit von Kindertageseinrichtungen" auf die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und fachlichen Anforderungen einerseits und den unzureichenden personellen, sächlichen und finanziellen Rahmenbedingungen von Kindertageseinrichtungen andererseits hingewiesen.
Das Bundesjugendkuratorium ist per Gesetz verpflichtet, die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Querschnittsfragen der Kinder- und Jugendpolitik zu beraten. Querschnittsfragen sind solche, die andere Politikbereiche berühren wie zum Beispiel die Personalausstattung und die Finanzierung der Einrichtung und des Fachpersonals, die sich aus den fachlichen Anforderungen ergeben.
In seiner aktuellen Stellungnahme greift das BJK nun die Problematik der nicht vorhandenen Chancengerechtigkeit bezogen auf die Bildung und Erziehung von Kindern in unserer Gesellschaft auf. Noch immer gibt es einen starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Teilhabe an Bildung. Kindertageseinrichtungen aber sind öffentlich verantwortete Bildungs- und Erziehungsorte, die die privat von den Eltern zu verantwortende Erziehung und Bildung der Kinder ergänzen und erweitern sollen. Chancengerechtigkeit herzustellen ist deshalb die Leitidee, unter die das BJK seine Stellungnahme zur Zukunftsfähigkeit von Kindertagesstätten stellt und grundlegende fachliche Anforderungen an diese formuliert sowie Ressourcen benennt, die - an die Politik gerichtet - erforderlich sind, um Kindergärten und Kindertageseinrichtungen zukunftsfähig zu machen.
Das Bundesjugendkuratorium präzisiert fachliche Anforderungen an KiTas
Was sind diese fachlichen Anforderungen? Ausgehend von der öffentlichen Verantwortung für ein chancengerechtes und gesundes Aufwachsen von Kindern in unserer Gesellschaft sollen Kindertageseinrichtungen dazu beitragen, so die Aufgabenzuschreibung des BJK, „dass durch eine frühe Förderung Kinder sich entsprechend ihren Begabungen entwickeln und eine Persönlichkeit herausbilden, die es ihnen ermöglicht, sich in die Erwachsenengesellschaft zu integrieren und sich dort einen Platz zu gestalten, der ihnen ein individuell und sozial befriedigendes Leben ermöglicht". In den drei Begriffen „Erziehung, Bildung und Betreuung", mit denen das ganzheitliche pädagogische Konzept, aber auch der gesellschaftliche Auftrag von Kindertageseinrichtungen beschrieben werden, sind Anforderungen enthalten, die sich an die politischen Entscheidungsträger richten. Und zwar geht es sowohl um sozialpolitische als auch um bildungspolitische Maßnahmen und nicht zuletzt auch um eine Politik für Kinder als Bürger dieser Gesellschaft.
Sozialpolitische Anforderungen: Kompensation und Prävention
Unter sozialpolitischen Vorzeichen ist nicht allein der Ausbau von Betreuungsplätzen zu fordern, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu erreichen, sondern im zunehmenden Maße auch - und das stellt eine Erweiterung der fachlichen Anforderungen dar - eine kompensatorische Funktion zur familiären Erziehung. Sozialpolitisch gewünscht ist, dass Kindertageseinrichtungen auch präventive Funktionen wahrnehmen, so jedenfalls sind die Intentionen des neuen § 8a „frühe Hilfen" zu interpretieren.
Bildungspolitische Erwartungen: Ausschöpfen aller Bildungsreserven
Neben diesen sozialpolitischen Erwartungen und Anforderungen an KiTas sind es die - teilweise überzo genen - bildungspolitischen Erwartungen an die „Aktivierung und Ausschöpfung der Bildungsreserven" durch eine frühzeitige und gezielte Förderung, denen sich die Kindertageseinrichtungen ausgesetzt fühlen. In seiner Stellungnahme problematisiert das BJK diesen gesellschaftlichen Druck, der zu Lasten einer kinderpolitischen Perspektive geht. Kindertageseinrichtungen sind in erster Linie Orte für Kinder und die Angebote sind so zu gestalten, dass sie sich an der Lebenswelt des Kindes ausrichten, an dessen Bedürfnissen und Interessen und an seinem Wohlergehen. Entscheidend für die pädagogische Qualität ist deshalb, ob das Wohl des Kindes - und das bedeutet die Anerkennung seiner Individualität und Respekt vor seiner Subjektstellung - in den Bildungs- und Erziehungsprozessen Inhalt und Ziel der Arbeit in den Kindertageseinrichtungen ist.
Der Bildungs- und Erziehungsauftrag gilt auch für die Betreuung der Jüngsten
Eine kinderpolitische Sicht auf die Gestaltung des „Lebensraums KiTa" mahnt das BJK auch für die Erziehung, Bildung und Betreuung der unter Dreijährigen an. Mit der quantitativen Zunahme der Betreuungsplätze für die 0- bis 3-Jährigen werden zurzeit seitens der Politik vorrangig sozial- und bildungspolitische Erwartungen verknüpft. Es geht um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit oder darum, dass gut qualifizierte Frauen als Arbeitskräfte dem Wirtschaftsstandort Deutschland zur Verfügung stehen, und es geht um die gesellschaftliche Erwartung, dass der Bildungsort Kindertageseinrichtung dem - häufig falsch verstandenen - Motto „Bildung beginnt mit der Geburt" Rechnung trägt. Gerade bezogen auf den Ausbau der Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen wird jedoch die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und fachlichen Anforderungen an ein qualifiziertes Betreuungsangebot, das der Perspektive des Kindes gerecht wird, besonders deutlich. Eindringlich verweist das BJK auf Tendenzen der öffentlichen Hand, angesichts knapper Kassen die Kindertageseinrichtungen nach ökonomischen Gesichtspunkten der Effizienz und Optimierung zu organisieren. So zum Beispiel, wenn frei werdende Kindergartenplätze - verstanden als „demografische Rendite" - mit Zweijährigen oder noch Jüngeren „aufgefüllt" werden. Auf diese Weise werden die fachlichen Anforderungen an die Betreuung der Jüngsten unterlaufen und die Schere zwischen unzureichenden Rahmenbedingungen der Kindertageseinrichtungen und gleichzeitiger Überhäufung mit weiteren Anforderungen bzw. überzogenen Erwartungen an die Erzieherinnen geht immer weiter auseinander: „Schon jetzt ist diese Praxis vieler Einrichtungen, ohne die Konzeption und die pädagogische Arbeitsweise bewusst darauf einzurichten, als pädagogisch fragwürdig zu werten". Zudem bemängelt das BJK das Fehlen differenzierter pädagogischer Konzepte: „Das Potenzial einer gezielten, auf Chancengerechtigkeit ausgerichteten Förderung von Kindern verschiedenen Alters wird durch mangelnde Konzeptdifferenzierung verspielt". Von den Erzieherinnen wird selbstverständlich erwartet, dass sie fähig sind, Ziele einer individuellen Förderung des Kindes unter Beachtung der Bildungsstandards, die der Erziehungsund Bildungsplan des jeweiligen Bundeslandes vorgibt, auszutarieren und im alltäglichen Erziehungs- und Bildungsgeschehen die familiäre Lebenswelt des Kindes mitzudenken. Gerade weil jenseits aller gesellschaftlichen Erwartungen die Bedürfnisse und Interessen der Kinder für die handelnden Erzieherinnen im Zentrum ihrer pädagogischen Interaktionen stehen, müssen sie sich als „Anlaufpunkt für Familien", als Kommunikationspartner in Fragen zum erzieherischen Umgang und zur Förderung des Kindes öffnen, um eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern auch mit Leben erfüllen zu können.
Was ist das Bundesjugendkuratorium?
Das Bundesjugendkuratorium (BJK) ist ein von der Bundesregierung eingesetztes Sachverständigengremium. Es berät die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und in Querschnittsfragen der Kinder- und Jugendpolitik. Dem BJK gehören 15 Sachverständige aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Wissenschaft an. Die Mitglieder werden durch die Bundesministerin / den Bundesminister für Familien, Senioren, Frauen und Jugend für die Dauer der laufenden Legislaturperiode berufen.
Forderungen des Bundesjugendkuratoriums an die Politik
Es sind diese konzeptionellen Herausforderungen, die unter der Leitidee „Herstellung von Chancengerechtigkeit" das zukünftige Profi l der Kindertagesstätten bestimmen sollen, die aber mit den „bisherigen Ressourcen" nicht zu bewältigen sind. Klipp und klar stellt das Bundesjugendkuratorium in seiner Stellungnahme fest, „dass eine Debatte, die vorwiegend die Anforderungen artikuliert, ohne dabei die erforderlichen Ressourcen in den Blick zu nehmen, nicht nur folgenlos, sondern auch gegenüber den Fachkräften in den Einrichtungen verantwortungslos wäre". Im Schlussteil seiner Stellungnahme listet das BJK daher Ressourcen auf, die aus seiner Sicht zur Bewältigung der konzeptionellen Herausforderungen unabdingbar sind. Dazu gehört vor allem eine Verbesserung der Personalausstattung in Kindertageseinrichtungen. Und hier insbesondere ein verbesserter Personalschlüssel, der für die Erzieherinnen Verfügungszeiten für Vor- und Nachbereitung der Erziehungs- und Bildungsarbeit, für Beratung und Austausch mit den Eltern, für Anleitung von Praktikanten u. a. m. berücksichtigt. Außerdem fordert das BJK eine systematische Fort- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte und der Fachberatung in allen Fragen einer einrichtungsbezogenen Konzipierung der pädagogischen Arbeit, auch der mit einzelnen Kindern. Die Weiterentwicklung pädagogischer Qualität ist ohne eine begleitende, systematische Personalentwicklung nicht machbar, wenn von den Trägern nicht genügend Zeitkontingente dafür zur Verfügung gestellt werden. In diesem Zusammenhang merkt das BJK an, dass pädagogische Qualität auch davon abhängig sei, inwieweit Verlässlichkeit und Kontinuität in der persönlichen Beziehung zwischen Kindern und Erzieherinnen gewährleistet ist, und dass deshalb das Verhältnis von Vollzeit- und Teilzeitstellen sich an diesen fachlichen Anforderungen auszurichten hat und nicht an der Optimierung der Dienstplangestaltung. Und schließlich stellt das BJK bezogen auf die Verbesserung der Personalausstattung fest, dass „perspektivisch darauf hingearbeitet werden sollte, nicht nur die Ausbildung der Leitungskräfte für Kindertageseinrichtungen, sondern auch die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern auf ein Hochschulniveau zu bringen".
Ausführungen zu den Kompetenzanforderungen an Leitung und Fachberatung und offene Fragen, die es an die Wissenschaft richtet wie zum Beispiel den „Zusammenhang von pädagogischer Qualität und Qualifi kationsprofi l bzw. Ausbildungsniveau der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespfl ege" zu erforschen, ergänzen die Empfehlungen. Mit Vorschlägen zur Finanzierung und Steuerung der Reformprozesse und einem Appell an die öffentliche Verantwortung, die Zukunftsfähigkeit der Kindertageseinrichtungen zu sichern, schließt das Bundesjugendkuratorium seine Stellungnahme. Hoffen wir und streiten wir dafür, dass dieser nicht ungehört verhallt.
Die im Juni 2008 erschienene BJK-Stellungnahme „Zukunftsfähigkeit der Kindertageseinrichtungen in Deutschland" kann kostenlos im Internet heruntergeladen werden: www.bundesjugendkuratorium.de/positionen.html