„Welche Bedeutung hat es, wie Erwachsene auf Erfolge und Misserfolge von Kindern reagieren?“
Die Reaktionen von Erwachsenen auf Erfolge oder Misserfolge von Kindern können entscheidend ihr Selbstkonzept und ihr Erwartungsmuster bei zukünftigen Herausforderungen beeinflussen. Es kommt vor allem darauf an, dass das Kind zu der Überzeugung gelangt, dass es sein Leben durch sein eigenes Verhalten steuern kann. Mit dieser Einstellung nimmt es zuversichtlich auch solche Aufgaben in Angriff, die ihm zunächst schwierig oder unlösbar scheinen. In frühem Alter haben Kinder bereits persönliche Theorien über Ursachen von Intelligenz und Erfolg. Ein Kind, das daran glaubt, dass man durch Anstrengung schlau wird oder zum Erfolg kommt, ist zu dieser Einstellung i.d.R. durch die Reaktionen von Erwachsenen gelangt. Es wurde regelmäßig für seine Bemühungen gelobt, oder dafür, dass es effektive Strategien eingesetzt hat, und wurde, wenn etwas nicht auf Anhieb gelang, dazu ermuntert, es erneut zu versuchen und sich noch einmal ein bisschen mehr zu bemühen. Werden Misserfolge dagegen sanktioniert und andererseits Erfolge schweigend übergangen, wird beim Kind eine misserfolgsängstliche Haltung begünstigt, die sich bis zum Erwachsenenalter verfestigen kann. Aus dieser Haltung heraus glaubt es weniger daran, durch Anstrengung seine Intelligenz beeinflussen und damit Erfolge erzielen zu können, und bemüht sich daher auch wenig. Der Psychologe H. Heckhausen zeigte in den 1970er-Jahren, dass an der Misserfolgsängstlichkeit insbesondere drei Aspekte beteiligt sind:
(1) Es werden unrealistische Ziele gesetzt, deren Erreichung entweder viel zu einfach oder viel zu schwierig ist;
(2) eigene Erfolge werden eher der Aufgabe („Es war ja auch leicht“) oder dem Glück zugeschrieben, eigene Misserfolge dagegen dem eigenen Fähigkeitsmangel, der als unveränderbar eingeschätzt wird („Ich habe doch gesagt, dass ich das nicht kann“);
(3) daraus folgt eine ungünstige Selbstbewertungsbilanz: Das Kind kann auf Erfolge nicht stolz sein, ist aber von Misserfolgen stark betroffen.
Damit es einen Zusammenhang zwischen Intelligenz bzw. Erfolg und Anstrengung herstellen kann, dürfen Aufgaben das Kind also nicht so überfordern, dass sie auch bei größtem Einsatz nicht zu schaffen sind. Sie dürfen es aber auch nicht unterfordern, weil es dann ja keinen Zusammenhang zu einer Anstrengung erkennen kann. Das Kind sollte bereits auf dem Weg zum Ziel für seine Anstrengung oder für seine kluge Herangehensweise gelobt werden, und nicht erst für ein erfolgreiches Leistungsergebnis. Kinder, die nur wegen ihrer Intelligenz gelobt werden („Wer das geschafft hat, muss aber schlau sein“), und nicht auch für ihre Anstrengung, entwickeln die Einstellung, Intelligenz sei nicht veränderbar, weil man ihre Bemühungen nicht gewürdigt hat. Das hat dann negative Auswirkungen, wenn sie Misserfolge erleben, weil sie nun an ihrer Intelligenz zweifeln müssen und annehmen, dass sie an ihrer Unfähigkeit nichts ändern können. Wichtig ist daher, Leistung, Intelligenz und Erfolg früh mit Anstrengung zu verbinden: Wer schlau ist, hat sich angestrengt. Wenn Anstrengung zu Schlauheit führt, kann jeder schlau werden.
Entnommen aus ‚kindergarten heute’, Ausgabe 5/2008, S. 18.
„Gibt es sensible Phasen oder Zeitfenster für den Erwerb der Muttersprache?“
Viele Theoretiker nehmen an, dass sich Spracherwerbsprozesse optimal in zeitlich begrenzten Phasen vollziehen, in denen das Kind besonders sensibilisiert dafür ist (sensible Phasen). Es bildet in dieser Zeit Hirnstrukturen aus, die es darauf vorbereiten, entsprechende Sprachreize (z.B. Laut- oder Grammatikstrukturen) zu verarbeiten. Wenn das Kind nun während dieser Zeit in seiner Umwelt Sprache wahrnimmt, wird diese relativ schnell und mühelos erworben. Im Gehirn werden Reifungsprozesse beteiligter neuronaler Strukturen ausgelöst, die dem Kind wiederum weitere Erfahrungen ermöglichen. Die Meinungen gehen allerdings darüber auseinander, wann und warum diese Sensibilität, z.B. für den Grammatikerwerb, nachlässt: mit Beginn der Pubertät, mit 7-8 Jahren oder mit 12 Jahren? Der Spracherwerbstheoretiker J. L. Locke (1997) gibt eine kritische Phase in der Zeit vom 24.-36. Monat an, in der der Grammatikerwerb begonnen haben muss. Geschieht das in dieser begrenzten Periode nicht, kann das Kind seine Sprachfähigkeit später nur noch unzureichend ausbilden, falls überhaupt. Ausschlaggebend sind nach Locke das Lebensalter und neuronale Reifungsvorgänge. Die von ihm angegebene kritische Phase wurde von der Sprachentwicklungspsychologin G. Szagun (2007) an 22 gehörlosen Kindern untersucht. Diese hatten ein Cochlea-Implantat bekommen (eine winzige elektronische Prothese, die dem Kind das Hören ermöglicht), mit dessen Hilfe die meisten von ihnen erstmals Sprache wahrnehmen konnten. Etwa die Hälfte der Kinder zeigte normale Spracherwerbsverläufe, obwohl sie im Alter von 24-36 Monaten keine Möglichkeit gehabt hatten, die Grammatik zu erwerben. Demnach kann man die kritische Periode nicht auf die Spanne von 24-36 Monaten eingrenzen.
Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Zeitfenster-Metapher – ein Bild für ein Fenster, das sich während der kindlichen Entwicklung für äußere Einflüsse öffnet. Sobald sich das Fenster schließt, können äußere Reize nicht mehr auf den jeweiligen Entwicklungsbereich einwirken. Früher hat man angenommen, das Fenster schließe sich automatisch nach einer bestimmten Zeit. Einer genetisch programmierten und damit unveränderbaren Zeituhr widersprechen jedoch u. a. Beobachtungen aus Simulationsexperimenten zur grammatischen Entwicklung, auf die Ritterfeld & Knuth (2002) hinweisen. Demnach schließt sich das Fenster, sobald das kindliche Sprachsystem die gerade anstehende Entwicklungsaufgabe gelöst hat, etwa indem es Regeln für bestimmte Bereiche erwerben konnte. Die Phase scheint nicht allein reifungs-, sondern auch erfahrungsabhängig zu sein. Offenbar unterliegen auch nicht alle Bereiche des Spracherwerbs sensiblen oder kritischen Phasen. Nußbeck (2007) weist darauf hin, dass Gehörlose, die die Sprache relativ spät erwerben, einerseits zwar erhebliche Defizite (z.B. in Phonologie, Syntax und Grammatik) aufweisen, die auch durch intensives Lernen nicht auszugleichen sind. Andererseits können sie noch einen vergleichsweise großen Wortschatz erwerben.
Entnommen aus ‚kindergarten heute’, Ausgabe 6-7/2008, S. 23.
„Warum machen kleinere Kinder oft genau das weiter, was man ihnen gerade verbietet?“
Ein fast dreijähriges Kind betätigt unentwegt den Lichtschalter. Es ist durch Aufforderungen, das zu lassen, nicht zu bremsen, sondern intensiviert die verbotene Aktion noch. Die Ursache liegt nach Auffassung des Neuropsychologen Luria darin, dass Kinder in diesem Alter Bewegungen noch nicht kontrollieren bzw. verändern können, wenn sie dazu aufgefordert werden. Es liegt also nicht an ihrer mangelnden Bereitschaft, sondern an ihrer fehlenden Fähigkeit, ihr Verhalten auf Zuruf zu regulieren.
Luria und seine Mitarbeiter haben in ihren Experimenten die Entwicklung willentlicher Handlungen bei Kindern untersucht. Dabei haben sie festgestellt, unter welchen Bedingungen die Aufforderung, etwas zu unterlassen, beim Kind das Gegenteil bewirkt: Kinder im Alter von 2 ½ Jahren kommen gerne und ohne Schwierigkeiten Aufforderungen nach wie: „Lege bitte einmal die Klötzchen in die Schachtel“. Wenn das Kind jedoch gerade dabei ist, die Klötzchen aus der Schachtel herauszunehmen, intensiviert das Kind die ursprüngliche Aktion, mit der es gerade beschäftigt ist, statt der Aufforderung zu folgen. Unter normalen Bedingungen könnte es die Klötze mit Leichtigkeit einräumen. Wenn also Aufforderungen von Erwachsenen mit einer anderen dominierenden Aktion des Kindes konkurrieren, so Luria, können sie nur die Aktion intensivieren, die vorher durch das Kind ausgeführt wurde, sie aber nicht bremsen oder gar verändern. Alle Versuche mit: „Bitte lass das“, „Tu das nicht“, führen nicht den gewünschten Effekt herbei. Stattdessen bewirken sie das Gegenteil.
Bis zum Alter von ungefähr drei Jahren können verbale Aufforderungen von Erwachsenen kindliche Handlungen nur initiieren („Klatsche einmal mit den Händen“), sie aber nicht hemmen oder zu einer anderen Handlung bewegen. Sprachliche Instruktionen lösen nur Reaktionen aus, regulieren sie aber nicht. Luria und Vygotzki zufolge entwickelt sich die Fähigkeit zur willentlichen Handlungssteuerung in der sozialen Interaktion. Mit der Verwendung von Sprache und anderen Symbolen beginnt beim Kind die willensgesteuerte Regulation seiner Handlungen. Im ersten Schritt lernt es, externe Anweisungen, die es zunächst von Bezugspersonen erhält, zu internalisieren. Dann erst gibt es sich durch inneres Sprechen selbst Anweisungen und kann damit komplexe Handlungspläne konzentriert verfolgen. Im Alter von 5-6 Jahren schließlich sind Kinder in der Lage, ihr Verhalten durch Selbstanweisungen zu regulieren und nicht nur zu initiieren. Neben dem Spracherwerb wird die Entwicklung des Frontalhirns als eine weitere Voraussetzung für die zielgerichtete Steuerung von Handlungen gesehen. Metcalfe & Mischel weisen darauf hin, dass seine Ausreifung erst sehr viel später abgeschlossen ist als die von Hirnregionen, die mit emotionalen Reaktionen assoziiert sind. Noch im Jugendalter scheint die Frontalhirnreifung nicht abgeschlossen, wohingegen die Entwicklung emotionaler Zentren im Gehirn weit vorangeschritten ist. Auch vor dem Hintergrund dieses Ungleichgewichts ist verständlich, warum Kinder eher ihren emotionalen Impulsen folgen als langfristigen Absichten.
Entnommen aus ‚kindergarten heute’, Ausgabe 8/2008 S. 29.
Welche Rolle spielt die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes?
Selbstkontrolle ist die Fähigkeit, spontane Handlungsimpulse zu verzögern oder ihnen zu widerstehen. Sie ist eine der wichtigen Voraussetzungen für den Erwerb sozialer und kognitiver Kompetenzen. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen, dass Kinder diese Fähigkeit erst nach und nach erwerben. Der amerikanische Psychologe W. Mischel und seine Mitarbeiter führen seit den 1970er Jahren Experimente durch, in denen sie den Zwiespalt zwischen langfristigen Zielen und momentanen Verlockungen bei Kindern unterschiedlicher Altersstufen untersuchen („Fähigkeit zum Belohnungsaufschub“). Der klassische Versuchsaufbau beinhaltet, dass das Kind sich im Einzelversuch entscheiden kann, ob es eine relativ kleine Belohnung bzw. Süßigkeit (z.B. ein Marshmallow) sofort haben oder auf eine größere Belohnung (zwei Marshmallows) warten möchte. Entscheidet sich das Kind für eine größere Belohnung, muss es warten, bis der Versuchsleiter wieder in den Versuchsraum zurückkehrt. Das dauert 15, manchmal 20 Minuten. Während des Wartens kann das Kind den Versuchsleiter mit einer Klingel früher zurückrufen, aber es weiß, dass es dann nur die kleine Belohnung bekommen wird. Die Fähigkeit zu warten steigt mit zunehmendem Alter der Kinder. Die meisten 3-4jährigen entscheiden sich für die kleinere Süßigkeit, die sie sofort bekommen können, obwohl sie wissen, dass klügere Kinder statt dessen warten würden. Ebenfalls erwerben Kinder mit zunehmendem Alter Wissen über geeignete Strategien der Selbstkontrolle. Wenn ältere Kinder (zwischen 4;6 und 6 Jahren) vor die Wahl gestellt wurden, ob sie die in Aussicht gestellten Marshmallows während des Wartens sehen wollten oder ob ein Tuch darüber gedeckt werden sollte, entschieden sie sich für das Verdecken. Vier- bis Viereinhalbjährige dagegen wollten die Süßigkeit während des Wartens lieber sehen, was ihnen aber das Abwarten nahezu unmöglich machte. Sie besaßen offenkundig noch keine Verzögerungskompetenz. Diese setzt nach Mischel vor allem zweierlei voraus:
(1) Das Kind muss wissen, wodurch Belohnungsaufschub erschwert oder erleichtert wird („metakognitives Wissen“). Erleichternd ist z.B., während des Wartens seinen Vorsatz zu wiederholen: Ich warte auf zwei Marshmallows.
(2) Es muss seine Aufmerksamkeit steuern können, um sie von attraktiven Merkmalen (z.B. Geschmack) der Süßigkeit auf weniger attraktive Merkmale (z.B. Verpackung) zu lenken.
Beeindruckendes fanden Mischel und Mitarbeiter in Langzeitstudien: Die Kinder, die im Alter von 4 oder 5 Jahren länger auf eine Belohnung warten konnten als ihre Altersgenossen, wiesen 10 Jahre später, als Jugendliche, erheblich höhere kognitive und soziale Kompetenzen auf als diese. Sie waren aufmerksamer, hilfsbereiter und kooperativer gegenüber anderen, zeigten höheres Selbstvertrauen, eine hohe Frustrationstoleranz und waren erfolgreicher in der Bewältigung stressvoller Situationen als ihre Altersgenossen. Auch ihre Schulleistungen und ihre Sprachfähigkeiten sowie ihr planvolles und vorausschauendes Verhalten hoben sich erheblich von den entsprechenden Fähigkeiten ihrer Altersgenossen ab.
Entnommen aus ‚kindergarten heute’, Ausgabe 9/2008, S. 15.
„Was ist eine Spracherwerbsstörung? Woran erkennt man sie? Welche Ursachen kann sie haben?“
Der kindliche Spracherwerb verläuft in den meisten Fällen problemlos und regelgerecht. In relativ seltenen Fällen treten Spracherwerbsstörungen auf. Hierbei unterscheidet die Sprachentwicklungspsychologin H. Grimm primäre von sekundären Störungen. Die primäre Störung wird auch als spezifische Spracherwerbsstörung bezeichnet. Sie zählt zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter (6 bis 7 Prozent). Jungen sind davon dreimal häufiger betroffen als Mädchen.
Wie äußert sich eine Spracherwerbsstörung?
Die betroffenen Kinder haben gravierende Probleme beim Verstehen und Produzieren von Sprache. Sie produzieren weniger und kürzere Spracheinheiten. Ihre Wort- und Satzbildung ist nahezu immer defizitär (z.B. „Die Katze sitz auf der Baum.“). Im Vergleich zu Kindern mit normaler Sprachentwicklung, die vorübergehend ebenfalls Grammatikfehler produzieren, sind Häufigkeit und Art der Fehler gravierend, insbesondere gehen sie nicht mit zunehmendem Alter zurück. Die Sprachproduktionen des Kindes sind zuweilen so ungrammatisch und undeutlich artikuliert, dass sie kaum verstanden werden können. Eine zuverlässige Diagnose bzw. Beurteilung des Sprachvermögens kann nur durch Entwicklungs- oder Sprachpsychologen in Beratungsstellen oder durch Fachpersonal in kinderärztlichen oder logopädischen Praxen erfolgen. Erst entsprechende diagnostische Verfahren zeigen, ob das Sprachvermögen tatsächlich beeinträchtigt ist oder ob lediglich fehlende Sprachkenntnisse vorliegen. Die spezifische Spracherwerbsstörung bedarf einer Therapie, wohingegen „schlechtes Deutsch“ mit entsprechenden Fördermaßnahmen verbessert werden kann. Sensorische Beeinträchtigungen oder neurologische Störungen weisen Kinder mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung nicht auf, auch keine mentale Retardierung oder soziale Deprivation; ihre Intelligenz liegt im Normbereich. Darin unterscheidet sich die spezifische Spracherwerbsstörung von sekundären Störungen der Sprachentwicklung, die als Folge anderer Entwicklungsstörungen oder -behinderungen (z.B. Hörschädigungen oder emotionale Störungen) entstehen. Sie unterscheidet sich auch von einer Sprechstörung, mit der sie allerdings auch in Kombination auftreten kann. Kinder, die an einer reinen Sprechstörung leiden, haben Probleme mit der Artikulation von Sprache oder mit der Kontrolle des Redeflusses (wie Stottern oder Poltern). Sie weisen jedoch keine spezifische Schwäche auf, Sprache zu verarbeiten, sondern erwerben die Sprache mit ihren Regeln vollständig. Bei der spezifischen Spracherwerbsstörung dagegen sind insbesondere das Erkennen und Anwenden von Regeln der Sprache betroffen, was sich als Problem mit Laut-, Wort- und Satzbildungsregeln äußern kann.
Erste Hinweise auf eine Spracherwerbsstörung
In Langzeitstudien hat sich gezeigt, dass mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung nahezu immer ein verzögerter Sprechbeginn einhergeht. Da aber ein verspäteter Sprechbeginn auch oft andere Ursachen hat, z.B. in der Persönlichkeit des Kindes oder in einer anregungsarmen Umgebung begründet sein kann, ist dies kein zuverlässiges diagnostisches Merkmal. Wenn ein Kind ab dem 24. Monat weniger als 50 Wörter produziert, sehen darin einige Wissenschaftler zumindest einen Hinweis auf eine Spracherwerbsstörung. Andere weisen darauf hin, dass eine zuverlässige Diagnose nicht vor dem vierten Lebensjahr erfolgen kann. Daher spricht man i.d.R. bei einer entsprechenden Symptomatik bis zu diesem Alter von Sprachentwicklungsverzögerungen. Die Unterscheidung zwischen einer „einfachen“ Verzögerung und einer Spracherwerbsstörung fällt auch deshalb schwer, weil Kinder ihre Sprache unterschiedlich schnell erwerben. So kann man bis zum Alter von drei oder etwa vier Jahren keine exakten Angaben dazu machen, ob ein Kind bestimmte Erwartungen an seinen Sprachstand erfüllen müsste. Es ist normal, dass gleichaltrige Kinder sich in Grammatik und Wortschatz erheblich unterscheiden oder dass Kinder mit einem Jahr Altersunterschied auf dem gleichen Sprachstand sind. Auch wenn ein Kind seine Sprache langsamer als andere Kinder erwirbt, muss das also nicht notwendigerweise auf eine Störung hinweisen. Im vierten Lebensjahr holen die meisten langsamen Kinder den Rückstand auf. Wenn dies nicht geschieht, kann eine Spracherwerbsstörung vorliegen. Langzeitstudien haben ebenfalls gezeigt, dass sich eine spezifische Spracherwerbsstörung sehr wahrscheinlich bereits im ersten Lebensjahr durch abweichendes Schrei- und Lallverhalten andeutet. Die Schreie sind überwiegend kurz, und selten werden komplexe Schreimelodien produziert. Auch das spätere kanonische Lallen („baba“, „dada“) tritt seltener auf. Zwischen dem 18. und dem 23. Lebensmonat werden deutlich weniger Hinweisund Zeigegesten bei den Kindern beobachtet. Weitere Untersuchungen sprechen dafür, dass die Kinder Wortelemente wie z.B. auf-, zu-, ab- nicht altersgemäß vor dem 16. Monat erwerben. Diese gehen der Produktion entsprechender Verben (z.B. aufmachen) voraus.
Mögliche Ursachen
Bei der wissenschaftlichen Überprüfung möglicher Ursachen mussten frühere Vermutungen verworfen werden, z.B. dass eine neurologische Störung bei den Kindern vorliegt, dass die betroffenen Kinder zu häufig fernsehen oder dass eine unzureichende Sprachanregung oder die Sprechstile der Mütter die Störung verursachen. Bisher sind die Ursachen immer noch unklar. Heute konzentriert sich die Forschung auf die sprachliche Informationsverarbeitung und auf das auditive Arbeitsgedächtnis der Kinder. Es gilt als relativ sicher, dass Kinder mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung gesprochene Sprache verlangsamt verarbeiten. Die Sprachentwicklungspsychologin G. Szagun weist darauf hin, dass sie insbesondere Konsonanten langsamer erkennen und daher wahrscheinlich nicht schnell genug zwischen ihnen unterscheiden können, vor allem, wenn sie rasch aufeinanderfolgen, wie es beim alltäglichen Sprechen üblich ist. Vieles spricht dafür, dass sprachunauffällige Kinder eine frühe Unterscheidungsfähigkeit für Merkmale der Sprachmelodie ihrer Muttersprache besitzen. Über die Wahrnehmung z.B. von Betonung, Pausen und Tonhöhe gelingt dem Kind offensichtlich der Einstieg in die Grammatik: Es erkennt wiederkehrende Muster in der Sprache, die es hört, merkt sich diese und versucht, ihnen Bedeutung abzugewinnen. Muster, die sich wiederholen, werden wiedererkannt, im Gedächtnis abgebildet (also behalten) und auf neue, ähnliche Strukturen angewandt. Hierin zeigt sich, wie zentral das auditive Gedächtnis für den Spracherwerb ist. Je mehr und je länger das Kind Sprachstrukturen im Gedächtnis behalten kann, umso mehr Regeln kann es ableiten. Frühe Störungen bei der Wahrnehmung und Verarbeitung der Sprachmelodie erschweren oder verhindern das Erkennen komplexer Muster; sie könnten eine Ursache für spätere Defizite sein, zunächst beim Aufbau des Wortschatzes und später bei der Anwendung grammatischer Regeln.
Entnommen aus ‚kindergarten heute’, Ausgabe 10/2008, S. 32-33.
„Sprachentwicklungsauffälligkeiten: Wann reicht Förderung, wann muss Therapie sein?“
Wenn der Eindruck entsteht, dass ein Kind Auffälligkeiten in seiner sprachlichen Entwicklung zeigt, sollte sorgfältig diagnostiziert werden, ob es an einer Sprechstörung oder an einer spezifi schen Sprachentwicklungsstörung leidet oder ob andere Gründe vorliegen, die seine Sprachentwicklung erschweren. Sprechstörungen und spezifi sche Sprachentwicklungsstörungen sind therapiebedürftig und stellen ein erhebliches Entwicklungsrisiko dar (siehe ,kindergarten heute‘, Ausgabe 10/2008). Zeigt das Kind dagegen lediglich schwächere sprachliche Leistungen oder spricht unzureichend Deutsch, hat es zwar ebenfalls ein ernst zu nehmendes Problem, aber bei ihm reichen in der Regel gezielte Sprachfördermaßnahmen aus, um Verbesserungen zu bewirken. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt (mit 12 bzw. 24 Monaten) kann ein sprachdiagnostisches Screening in Form von Elternfragebögen in kinderärztlichen oder logopädischen Praxen oder in Frühfördereinrichtungen durchgeführt werden. Im Falle einer Risikodiagnose werden erste Interventionsmaßnahmen überlegt. Da allerdings bis etwa zum 3. Lebensjahr nicht eindeutig diagnostiziert werden kann, ob eine spezifi sche Spracherwerbsstörung vorliegt, aber dennoch keine Zeit verloren gehen sollte, schlägt die Psychologin und Logopädin U. Ritterfeld (2007) statt einer vorschnellen logopädischen Therapie im ersten Schritt eine gezielte Interak tionsschulung der Eltern vor. Weil ein sprachauffälliges Kind in der Regel Sprachangebote nur unzureichend nutzen kann, müssen diese häufi ger und intensiver erfolgen. Besorgte Eltern können nach Auffassung von Ritterfeld besonders von einer professionellen Anleitung profi tieren, weil sie von sich aus nach Möglichkeiten suchen, ihr Kind zu unterstützen, dabei häufi g jedoch unwissentlich einen nur vermeintlich sprachförderlichen Interaktionsstil entwickeln.
Die vier wichtigsten spezifi schen Sprachlehrstrategien sind laut Ritterfeld:
1. Wörter oder kurze Äußerungen des Kindes wiederholen oder, bei Fehlern, korrektives Feedback einsetzen (z.B. antwortet man auf die Äußerung des Kindes: „Und dann ist der Findus vom Tisch gespringt.“ „Ja genau, dann ist der Findus vom Tisch gesprungen.“),
2. die kindliche Äußerung semantisch erweitern (z.B. „Ja, das ist ein Vogel / Der Vogel fl iegt / Der Vogel fl iegt zu seinem Nest.“),
3. zu den kindlichen Äußerungen Formulierungsalternativen anbieten,
4. das Kind durch geeignete Fragen zu präzisierenden sprachlichen Äußerungen ermuntern.
Eine Vermittlung dieser Strategien scheint wichtig, weil Erwachsene, die die Information bekommen, dass ein Kind eine Sprachstörung aufweist, mit diesem Kind weniger sprachförderlich interagieren als mit einem Kind, das ihnen als sprach unauffällig vorgestellt wird. Sie wenden keine Sprachlehrstrategien an, sondern korrigieren das Kind explizit, anstatt es zur Sprache anzuregen oder sprachlich zu fordern, wie Ritterfeld und Mitarbeiter nachweisen konnten. Dies bestätigen frühere Befunde von H. Grimm (1994) oder Hammer et al. (2001), dass Erwachsene an Kinder, die sie für sprachgestört halten, nicht nur geringere sprachliche, sondern auch geringere kognitive Anforderungen stellen, obwohl die Intelligenz der Kinder normal ausgebildet ist.