„Iiiiih! Da klebt ein Kaugummi am Tisch, das ist voll eklig!", beschwert sich Hannah lautstark. Auch die Erzieherin ist nicht begeistert. Sie macht Hannah und den anderen Kindern den Vorschlag, gleich im Anschluss im Morgenkreis gemeinsam eine Lösung des Problems zu suchen. Als alle später im Kreis sitzen, scheint das Thema Kaugummis auch andere Kinder zu beschäftigen, und neue Probleme wie z.B. die Verteilung der Kaugummis kommen zur Sprache. So findet es Marco „voll ungerecht, dass immer nur die großen Jungs einen Kaugummi bekommen!"
In der Kindergruppe entsteht eine intensive Diskussion darüber, wie man diese Probleme angehen könnte. Der Vorschlag von Lasse, einfach alle Kaugummis in der KiTa zu verbieten, stößt bei einigen Kindern auf Zustimmung. Es gibt aber auch Gegenstimmen von Kindern und auch die Erzieherin will die Kaugummis nicht komplett verbieten. Nach einigem Hin und Her entwickeln die Kinder die Idee, dass Kaugummis in Zukunft nur noch draußen gegessen werden dürfen. Dort können sie immer gleich in den Abfall geworfen werden; und wenn alle rausgehen, kann jedes Kind einen Kaugummi bekommen. So ist die Verteilung gerecht, finden die Kinder. Bei der anschließenden Abstimmung zeigt sich, dass sich alle mit dieser Lösung anfreunden können: Es gibt keine Gegenstimmen oder Enthaltungen. Aber schon einige Tage später ist das Thema erneut aktuell, denn am Vormittag hat die Erzieherin im Gruppenraum einen Kaugummi im Mund. Marco spricht sie direkt darauf an, die Erzieherin entschuldigt sich und wirft das Kaugummi sofort in den Müll. Damit ist das Thema aber nicht vergessen! Im nächsten Stuhlkreis bringen die Kinder das Kaugummikauen wieder mit ein. Schnell wird klar: Nur im Außenbereich Kaugummi kauen zu dürfen ist keine von allen getragene Lösung mehr, weil die Kinder bei schlechtem Wetter nicht so oft draußen sind. Tamara hat die Idee, dass es eine Person geben muss, die die Kaugummis gerecht verteilt und aufpasst - einen Kaugummi-Chef! Die Erzieherin schlägt daraufhin vor, einen Kaugummi-Chef zu wählen. Zuvor muss noch geklärt werden, welche Aufgaben dieser hat und was man dafür können muss. „Da muss man zählen können, damit man weiß, wie viele Kaugummis jeder hat!", findet Marco. Die Kinder entwickeln die Idee, dass der Kaugummi-Chef eine Liste haben muss, auf der jeden Tag aufgeschrieben wird, welches Kind schon Kaugummi hatte. Er bräuchte aber nicht danach zu schauen, ob irgendwo ein Kaugummi klebt, darauf wollten alle gemeinsam achten. Auch die Frage nach der Amtszeit wird geregelt. Der Kaugummichef soll jede Woche neu gewählt werden, darüber sind sich alle Kinder einig. Die Frage, wie viele Kaugummis jedes Kind am Tag bekommen soll, wird dann noch heiß diskutiert. Den Vorschlag von Marco, dass jedes Kind zehn Kaugummis bekommen soll, finden viele Kinder toll. Also wird gemeinsam verabredet, dass die Erwachsenen bis zum nächsten Tag einen Vorrat an Kaugummis kaufen sollen, der bis zum Ende der Woche reicht. (…)
Partizipation - was ist eigentlich gemeint?
Wenn Kinder konsequent als gleichberechtigte Partner am Alltag teilhaben können, also aktiv beteiligt sind, so erleben sie - wie im Beispiel mit den Kaugummis -, dass jeder Einzelne wichtig für die Gemeinschaft ist, dass jeder Beitrag ernst genommen wird und dass jeder von ihnen etwas bewirken kann: „Ich bin den anderen nicht gleichgültig!", „Ich kann mich einbringen, bin einer Herausforderung gewachsen!" Zudem nehmen die Kinder wahr, wie gemeinsam in der Gruppe tragfähige Lösungen entwickelt und umgesetzt werden können. In solchen partizipativen Veränderungsprozessen lernen Kinder den Blickwinkel anderer kennen. Sie lernen, sich in jemand anderen hineinzuversetzen und Rücksicht zu nehmen. Auch machen sie die Erfahrung, sich für ihre Belange einzusetzen und Verantwortung zu übernehmen. Partizipation wird so zum politischen Bildungsthema und eröffnet Möglichkeiten zur Einübung demokratischen Handelns. Denn Demokratie lernt man am besten, indem man demokratisches Handeln erfährt.
Voraussetzungen für das Gelingen von Seiten der Erzieherinnen …
Für die Erzieherin bedeutet Partizipation, mit den Kindern in den Dialog zu treten, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, Entscheidungen zu treffen und somit Aushandlungsprozesse auf gleicher Augenhöhe zu erreichen. Sie zeigt mit ihrer Haltung, dass sie davon überzeugt ist, dass jedes Kind etwas Bedeutendes zu sagen und beizutragen hat. Die Erzieherin im genannten Beispiel lässt sich neugierig, mit einer fragenden Haltung, auf die Anliegen der Kinder ein. Sie nimmt die Rolle der Moderatorin, der Begleiterin und „Ermöglicherin" im Prozess ein. Dabei achtet und respektiert sie den eigenen Weg der Kinder und richtet das Vorhaben nicht an dem aus Erwachsenensicht wünschenswerten Ergebnis aus. Genau diese Haltung, die Kinder als kompetente Akteure der eigenen Entwicklung sieht, ermöglicht es den Kindern, neue Bildungswege zu gehen, eigene Lösungen zu finden und lernmethodische Kompetenzen zu entwickeln. Sie erleben sich als erfolgreiche, kompetente „Problembewältiger". Solche Prozesse zu ermöglichen, erfordert von den pädagogischen Fachkräften, dass sie sich nicht grundsätzlich „klüger" oder erfahrener fühlen, sondern dass sie ihre Haltung, den Kindern eigene Erfahrungen zu eröffnen, immer wieder neu überdenken. Mögliche Reflexionsfragen für die einzelne Mitarbeiterin oder das Team können hier sein:
- Kann ich mich bzw. können wir uns auf die Themen, die die Kinder gerade beschäftigen, einlassen?
- Gebe ich bzw. geben wir dem individuellen Prozess der Kinder genügend Raum?
- Traue ich bzw. trauen wir den Kindern zu, gemeinsam über Regeln und Strukturen zu entscheiden?
- Halte ich bzw. halten wir es aus, dass Kinder „Fehler" machen, Konsequenzen erfahren und eigene Lösungswege gehen?
- Traue ich bzw. trauen wir den Kindern zu, Entscheidungen, die ihr Leben im Jetzt und Hier betreffen, selbst zu fällen?
…und von Seiten der Strukturen und Methoden
Beteiligung ist eine Voraussetzung dafür, dass Kinder ihre eigenen Bildungsziele und -prozesse bestimmen können. Wenn individuelle Bildungswege ernst genommen werden und sich Erwachsene mit Kindern über deren Weltsicht verständigen, fördert dies den Selbstbildungsweg des einzelnen Kindes. Bildungsbegleitung wird unterstützt durch eine Grundhaltung der Partizipation, die dem Kind eigene Erfahrungen, eigene Lösungen und Lösungswege zumutet und auch zutraut. Damit das in der täglichen Praxis klappt, sind Strukturen und pädagogische Methoden in der KiTa erforderlich, die diese Prozesse unterstützen. Es geht darum, den Kindern verlässliche, klar defi nierte und einforderbare Rechte in bestimmten Bereichen einzuräumen, die unabhängig sind vom Erlauben oder Verbieten einer einzelnen Erzieherin oder deren Tagesform-Rechte, die mit den Kindern kommuniziert sind und die sie in verankerten Gremien wie z.B. einem Kinderparlament durchsetzen können. Die Beteiligung der Kinder an den Angelegenheiten, die sie im KiTa-Alltag betreffen, wird so zu einem Teil der Konzeption.
Und wie ging es weiter mit dem Kaugummi-Chef?
Am nächsten Tag saßen die Kinder vor einem riesigen Haufen Kaugummis. Die Erzieherin berichtete, dass nun das Geld aus der Frühstückskasse für diese Woche fast alle sei. „So viele Kaugummis sind toll!", fand Lasse. „Nur Kaugummis und kein anderes Frühstück, das geht nicht, davon bekommt man bestimmt Bauchschmerzen", gab ein anderes Kind zu bedenken. Nach längerem Hin und Her beschloss die Mehrheit der Kinder und Erwachsenen, dass es in Zukunft einen Kaugummi pro Tag für jedes Kind geben sollte. Jetzt wurde noch besprochen, wie die Liste des Kaugummi-Chefs aussehen sollte. Gemeinsam wurde eine beschreibbare Magnetwand besorgt und für alle sichtbar aufgestellt. Die erste, in geheimer Wahl gewählte Kaugummi-Chefin wurde Tamara. Ihre erste Amtshandlung war es, alle Namen auf die Magnetwand zu schreiben. Die Kinder schrieben ihr dafür ihre Namen vor oder Tamara malte die Symbole der Garderobenhaken ab. Auch in den nächsten Wochen beschäftigten sich die Kinder immer wieder mit dem Amt des Kaugummi-Chefs und dem Erstellen von Listen. Es tauchten neue Fragen auf, die gemeinsam gelöst werden mussten. Das Problem, dass Kaugummis im Gruppenraum klebten, kam allerdings nicht mehr vor.
Zusammenfassung und Fazit
Kinder ernsthaft zu beteiligen bedeutet für pädagogische Fachkräfte einen Perspektivwechsel, eine Veränderung der pädagogischen Rolle und Haltung von der im Mittelpunkt stehenden Macherin, Beschäftigerin, Richterin hin zu einer Moderatorin und Unterstützerin, die den Verlauf des Prozesses mit den Kindern aushandelt und deren Lösungsmöglichkeiten unterstützt. Pädagogische Fachkräfte akzeptieren im partizipativen Prozess, dass in machen Fragen und Handlungen Kinder besser Bescheid wissen als Erwachsene, gerade was ihre eigenen Belange betrifft. Aushandlungen, die auf diese Weise entstehen, sind unfertig. Sie laden Kinder und Erwachsene zum Ausprobieren und Versuchen ein. Damit wird Partizipation nicht zu einer zusätzlichen Anforderung an die Fachkräfte, sondern zu einer letztendlich bereichernden und entlastenden Erfahrung, nämlich einem erweiterten Zugang zur Welt der Kinder.