Die Namensvielfalt in Kitas und Kindergärten macht es deutlich: Kitas betreuen je nach Einzugsgebiet mehr als 70 Prozent von Kindern mit mindestens einem ausländischen Elternteil. Eine ganz eigene interkulturelle Lebenswelt also, in der Supervision hilft, das Verhalten der Kinder zu verstehen und eigene Positionen zu reflektieren.
Hamids Mutter bringt ihren Sohn immer zu spät, „ausländische Eltern haben einfach kein Zeitgefühl“, kommentiert die Erzieherin diese regelmäßige Störung des Morgenkreises. Mert ist nicht zum Aufräumen zu bewegen, „das ist typisch für türkische Familien, Jungs sind da die Paschas“, erklärt sich die Gruppenleiterin ihren ständigen Kampf mit dem Vierjährigen. Carlos spricht kaum und steht oft etwas verloren herum, „kein Wunder, die sprechen zu Hause nur Spanisch, das Kind muss doch Deutsch lernen“, empört sich die Erzieherin in der Supervision.
Supervision regt zum Perspektivenwechsel an
Nicht immer ist das Verständnis solcher Situationen so „einfach“ wie im Fall von Hamid: Seine Mutter putzt zwischen fünf und neun Uhr morgens, der Vater muss dann ganz schnell zur Arbeit, vor halb zehn schafft sie es einfach nicht, Hamid in die Kita zu bringen. Diese Information zu bekommen, brauchte viel Einfühlungsvermögen - Hamids Mutter, eine gebildete Marokkanerin, schämt sich für ihren Job und hat Sorge, es könne auf ihr Kind zurückfallen („Sohn einer Putzfrau“), wenn sie das in der Kita erzählt. Deshalb entschuldigt sie sich immer sehr und verspricht Besserung, wenn die Erzieherin sie um Pünktlichkeit bittet - wohl wissend, dass sie das nicht einhalten kann. Erst als die Erzieherin wertschätzend und verständnisvoll anspricht, dass es doch sicher Gründe gäbe für das späte Bringen von Hamid, konnte die Mutter über ihren Schatten springen und von ihrem engen Zeitfenster berichten.
Kulturalistische Deutungen versperren manchmal den Zugang zu den Zwängen einer Alltagsrealität, die zugewanderte und einheimische Familien teilen. In der Wahrnehmung der Lebensverhältnisse von eingewanderten Familien stehen tatsächliche oder vermeintliche kulturelle Unterschiede oft im Vordergrund. Sie bieten eine „schlüssige“ Erklärung für irritierendes Verhalten, sei es bei den Eltern oder beim Kind und werden deshalb oft nicht weiter hinterfragt.
Im Fall von Hamids Mutter war z.B. nicht bekannt, dass sie einen Hochschulabschluss in Rabat erworben hatte, der aber in Deutschland nicht anerkannt wurde. Obwohl sie gut Deutsch spricht und sich sehr bemüht hat, konnte sie keine adäquate Beschäftigung finden. Frau R. empfindet dies als demütigend und ist sehr unsicher geworden im Kontakt mit deutschen Institutionen, auch der Kita. Die Erzieherinnen wiederum interpretierten ihr Verhalten als „nicht in Deutschland angekommen“ (was in gewisser Weise ja auch stimmt) und vermuteten, Frau R. habe kein Interesse an Kooperation, ihr sei „alles egal“.
Die Erkenntnis, dass sich die Wahrnehmung der Erzieherinnen mehr auf Vermutungen als auf belastbares Wissen stützte, war ein erster Schritt, um weitere Perspektiven einzunehmen: Was müssen wir erfragen, um die Situation umfassend verstehen zu können? Welche Deutungen des Verhaltens von Frau R. sind noch denkbar? Was würde Frau R. helfen, um im Elterngespräch offen und mit mehr Sicherheit sprechen zu können? Wie wird Hamid in der Gruppe erlebt? Welche Anknüpfungspunkte gibt es, Frau R. in ihrer Rolle als Mutter wertzuschätzen?
In der Supervision kann in einem geschützten Rahmen über die unterschiedlichen Dimensionen einer konkreten Situation nachgedacht und entsprechende Handlungsoptionen können durchgespielt werden. Das fokussierte Gespräch in der Gruppe „lebt“ von den jeweiligen Perspektiven der Erzieherinnen. Ihre Wahrnehmungen, Deutungen und Lösungsideen ergeben ein Gesamtbild, in dem die einzelnen Facetten sichtbar werden können.
Voraussetzung dafür ist, sich des eigenen Standortes bewusst zu sein: Auf welchem kulturellen, sozialen und familiären Hintergrund nehme ich meine Umwelt wahr? Welche Werte leiten mich? Warum bleibe ich bei manchen Verhaltensweisen ganz gelassen und rege mich bei anderen sehr auf?
Supervision macht Wertungen sichtbar
Die Heterogenität unserer Gesellschaft zeigt sich deutlich in den unterschiedlichen Familienmodellen. In Kindertagesstätten finden sich Kinder von Alleinerziehenden, aus Patchworkfamilien, mit binationalen und eingewanderten Eltern. Die Vielfalt der vorhandenen Familienleitbilder kann dazu führen, dass in Familie und Kita unterschiedliche Werte gelebt werden und entsprechend andere Erziehungsvorstellungen als „normal“ gelten.
Nehmen wir das Beispiel von Mert: Wer Kinder hat, weiß um das Thema „Aufräumen“. Eltern wie Erzieherinnen gehen mit dem Protest von Kindern gegen diese wenig lustvolle Beschäftigung sehr unterschiedlich um: Von „laisser faire“ bis zum ständigen Machtkampf kann man dazu viele Geschichten hören. Bei Mert wird sein Verhalten als Ausdruck eines „typischen“ Rollenverhaltens gewertet. Die Erzieherin ist nicht nur ärgerlich, weil Mert nicht aufräumen will, sie interpretiert seine Weigerung als „Paschaallüren“ eines Jungen aus türkischstämmiger Einwandererfamilie. Nehmen wir mal an, dass dies auch so ist: „Als Junge“ muss Mert zu Hause nicht aufräumen.
Die Frage der Geschlechterrollen rüttelt an den Grundfesten unseres Selbstverständnisses, das Thema ist emotional hoch besetzt, gerade bei Frauen (und nicht nur den deutschen). Die oft sehr persönlich erlebte Diskrepanz zwischen formaler Gleichberechtigung und tatsächlicher Ungleichbehandlung in unserer Gesellschaft kann dazu führen, dass wir eigene unerfüllte Ansprüche an die Geschlechtergerechtigkeit umso vehementer bei anderen einklagen. Das in unserer Gesellschaft vorherrschende Bild der türkischen Frau (oder auch der muslimischen Frau) als unterdrückt und rückständig befördert das Verharren in dichotomen Positionen: „Wir“ sind emanzipiert, „die Muslima“ ist es nicht. In der Supervision wird darüber gesprochen, welche Ängste ein Rollenmodell mobilisiert, das den Geschlechtern spezifische Aufgaben zuschreibt. Das Verhalten von Merts Mutter wird in einen Kontext gestellt: Frau A. stammt aus einem kleinen Dorf in Anatolien und ist erst kurz vor Merts Geburt nach Deutschland gekommen. Der Unterschied dieser Lebenswelten ist gewaltig, die Familie der einzige Ort, in dem sie sich sicher und kompetent fühlt. Im Gespräch wird deutlich, dass sich Frau A. sehr bemüht, zu den Erzieherinnen Kontakt aufzunehmen, trotz ihrer noch geringen Deutschkenntnisse. Den Erzieherinnen gelingt es, die Adaptationsleistungen von Frau A. wertzuschätzen, und vor diesem Hintergrund können sie ihr Rollenverhalten anders bewerten.
Aus dieser Position heraus wird eine Strategie entworfen: Im Gespräch mit der Mutter werden die Regeln in der Kita begründet dargelegt. Die Außenseiterrolle von Mert, dessen Verhalten die anderen Kinder nicht akzeptieren, wird angesprochen. Auch auf die Mühe der Erzieherin, immer hinter Mert herräumen zu müssen, wird hingewiesen. Ziel des Gespräches ist, Frau A. die Unterschiede in den Verhaltensweisen zu Hause und in der Kita in ihrer pragmatischen Handhabung verständlich zu machen, damit sie Mert entsprechend beeinflussen kann. Zu dem Gespräch wird eine Dolmetscherin hinzugezogen, um sich auch sprachlich auf Augenhöhe zu begegnen.
Supervision stellt den Kontextbezug her
Entscheidend für eine konstruktive Bearbeitung dieser Situation war die Einbettung des Verhaltens von Frau A. in ihre Lebenswelt. Erzieherinnen wissen oft wenig über die psychischen und familiären Belastungen, die Migrationsprozesse begleiten. Analog zu der öffentlichen Debatte erwarten sie eine möglichst schnelle „Integration“ und erleben die kulturelle Differenz in den Lebensweisen als Zumutung. Aus dem Blick gerät dabei leicht, dass soziale Faktoren die Teilhabe der eingewanderten Familien an ihrer deutschen Umgebung stärker behindern als kulturelle Unterschiede. Dazu gehören vor allem Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, das Erleben von Diskriminierung und Ausgrenzung sowie rechtliche Einschränkungen.
Zu einer differenzierten Betrachtung der Lebensverhältnisse eingewanderter Familien hat die Sinus-Studie über Migrantenmilieus (Sinus Sociovision 2007) empirische Daten vorgelegt. Diese zeigen, dass Wertorientierungen, Lebensziele, Wünsche und Zukunftserwartungen eingewanderter Familien je nach Alter, Bildungsstand, Einkommen und Berufsgruppe sehr unterschiedlich sind. Zwar spielen die ethnische Zugehörigkeit, Religion und Migrationserfahrung eine wichtige Rolle, doch kann von der Herkunftskultur nicht auf ein lebensweltliches Milieu geschlossen werden. Dies sind wichtige Erkenntnisse, die in die Fortbildungen für Erzieherinnen unbedingt einfließen sollten. Dazu kommt: Viele Kinder in den Kitas kommen aus mehrfach belasteten Familien. Bei einem hohen Anteil von Kindern aus eingewanderten Familien ist die Gleichung „Migrationshintergrund = schwierige Familie“ schnell aufgestellt.
Die Aufgabe in der Supervision besteht darin, am konkreten Fall zwischen „kulturbedingt“ und sozialbedingt“ zu unterscheiden; die Veränderungsprozesse in der jeweiligen Familie wahrzunehmen; die eigenen kulturell und familiär geprägten Wertvorstellungen zu reflektieren sowie Brüche und Widersprüche im Kontakt aushalten zu lernen. Grundlegend ist immer der Respekt vor dem „was ist“.
Supervision nimmt die Ressourcen in den Blick
Meistens sprechen wir in der pädagogischen Arbeit über Kinder, wenn sie Probleme machen. Der Schritt von „das Kind hat ein Problem“ hin zu „es gibt ein Problem“ ist dabei ein wichtiger: Er berücksichtigt den Rahmen, in dem das Kind ein als problematisch empfundenes Verhalten zeigt und trägt dazu bei, schwierige Situationen nicht zu individualisieren, sondern das Kind in seinem Interaktionsfeld zu sehen. Dennoch sind wir auch bei dieser mehrdimensionalen Sichtweise oft verleitet, eher auf einen Mangel oder wahrgenommene Defizite zu fokussieren und fördernde Umstände außer Acht zu lassen.
„Kinder mit Migrationshintergrund“ haben in der öffentlichen Meinung das Defizit-Etikett. Obwohl sie selbst überwiegend keinen Migrationshintergrund aufweisen sondern hier geboren sind, haben sie es schwerer, mit ihren Talenten und Begabungen gesehen und wertgeschätzt zu werden. Sehr deutlich wird das bei der Beurteilung der sprachlichen Entwicklung: Im Fokus stehen ihre eingeschränkten Deutschkenntnisse und nicht ihre Mehrsprachigkeit. Sie finden in ihrer Kita kaum Spiele oder Bücher in ihrer Familiensprache oder sie werden unterbrochen, wenn sie mit anderen Kindern arabisch, türkisch oder russisch reden.
Das Wissen der Kinder über andere Essgewohnheiten, den Umgang mit Besuch, familiäre Gepflogenheiten bei Festen und vieles mehr hat in der Kita oft keinen Platz. Für Kinder aus eingewanderten Familien ist das Pendeln zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten ihre Normalität. In einer immer mehr globalisierten Welt sind dies Ressourcen, die ihnen in ihrem weiteren Leben eine hohe Flexibiliät ermöglichen. In der Supervision bekommen die Fähigkeiten und Talente der Kinder einen angemessenen Raum und bieten damit oft einen Lösungsansatz für das geschilderte Problem. Manche Erzieherinnen sind verunsichert, wenn sie die Kinder nicht verstehen und dadurch nicht kontrollieren können, „was da gerade ausgeheckt wird“. Auch fühlen sie sich verpflichtet, die Kinder sprachlich auf die Schule vorzubereiten und meinen, die Muttersprache wäre dabei hinderlich.
Doch nicht die Sprachenvielfalt ist das Problem, sondern der unterschiedliche Sprachstand der Kinder im Deutschen. In fast allen Kitas werden entsprechende Sprachförderprogramme durchgeführt, von denen nicht nur die Kinder aus Einwandererfamilien profitieren. Im Fokus der Erzieherinnen stehen oft die fachlichen und/oder organisatorischen Probleme, die eine regelmäßige differenzierte Sprachförderung mit sich bringen. Die bewusste Wahrnehmung der Fortschritte der Kinder motiviert die Erzieherinnen, auf dem mühseligen Weg das Ziel im Blick zu behalten.
Auch im Kontakt mit den Familien lohnt es sich, in der Supervision nach den Ressourcen zu fragen, die das „System Familie“ zur Lösung ihrer Probleme bereithält. Eingewanderte Familien haben oft eine enge und verlässliche Bindung zwischen den Generationen, zum Kern der Familie gehört auch die Verwandtschaft zweiten und dritten Grades. Ähnlich wie bei Alleinerziehenden verfügen viele von ihnen über funktionierende Netzwerke, die zur Bewältigung des Alltags herangezogen werden.
Fazit
Die Arbeit von Erzieherinnen in interkulturellen Kindertagesstätten ist eine verantwortungsvolle und sehr komplexe Tätigkeit, die nicht nur Empathie, pädagogisches Geschick und hohe Stressresistenz erfordert, sondern auch kulturelles Wissen und Einfühlungsvermögen in unterschiedliche Familienwelten. Kommunen, konfessionelle und freie Träger bieten mittlerweile vielfältige Maßnahmen an, um ihre Erzieherinnen kontinuierlich fortzubilden. Dies ist sehr zu begrüßen, doch ist auch zu bedenken, dass die zusätzliche zeitliche Belastung im Dienst- und Stellenplan berücksichtigt wird.
Theoretische Kenntnisse sind jedoch nicht ohne weiteres als Handlungswissen verfügbar. Regelmäßige Supervision als begleitende Reflexion des Kindergarten-Alltags sollte deshalb zu den Qualitätsstandards professionellen Handelns in Kindertagesstätten gehören. Sie bietet den Raum, neues Wissen zu erproben und Erfahrungen zu reflektieren, Irritationen und Unsicherheiten zu bearbeiten, die Mehrdimensionalität einer jeden Situation bewusst zu machen und am konkreten „Fall“ gemeinsam zu überlegen, welche Strategie zum gewünschten Ergebnis führen kann.
Von der Supervisorin erfordert die Arbeit mit Teams in interkulturellen Kindertagesstätten fundiertes Wissen um die Besonderheiten in den Lebenswelten der Kinder und eine hohe Sensibilität bezüglich eigener (Be)Wertungen und Stereotypen. Auch wir Supervisorinnen sind beeinflusst von politischen Debatten und der gesellschaftlichen Wahrnehmung der „Menschen mit Migrationshintergrund“ als Problemgruppe. Bei konfessionellen Trägern kommt hinzu, dass der Unterschied zwischen dem christlichen Leitbild der Kita und den religiösen Bedürfnissen muslimischer Familien eine Form des Umgangs finden muss. Kindertagesstätten sind der interkulturelle Mikrokosmos unserer Einwanderungsgesellschaft.
Der Beitrag ist erstmalig in „frühe Kindheit“ Ausgabe 5/2009 erschienen. Wir danken der „Deutschen Liga für das Kind“ für die Genehmigung dieses Abdrucks.