Wie sich die Sichtweise auf die Kinder verändert hatEin folgenreiches Praktikum

An der Fachschule für Sozialpädagogik der Wingertschule in Bad Nauheim haben Studierende die Möglichkeit, im Rahmen des Leonardo-da-Vinci-Programms ein sechswöchiges Auslandspraktikum in EU-Ländern zu absolvieren. Im vergangenen Jahr gingen sie neue Wege.

Bad Nauheim liegt am Rand des Rhein-Main-Gebiets, das einen wachsenden Anteil an MigrantInnen aufweist. Ihr Anteil an der Wohnbevölkerung beträgt in Frankfurt am Main rund 25 %; der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Tageseinrichtungen für Kinder liegt jedoch wesentlich höher - bei über 40 % im Rhein-Main-Gebiet und weit über 50 % in Frankfurt. Zusätzlich zu den seit einigen Jahrzehnten im Rhein-Main-Gebiet ansässigen Arbeitsmigranten weist die Region einen wachsenden Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte vor allem im Bereich von Dienstleistungsberufen aus anderen EU-Ländern auf.

Eine Studienreise in die Türkei

In den Jahren 2006 bis 2008 bevorzugten die Studierenden der Fachschule für Sozialpädagogik der Wingertschule in Bad Nauheim für ihr Auslandspraktikum Italien, Spanien, Frankreich, England, die Niederlande, Portugal und Skandinavien. Obwohl doch die Mehrheit der Kinder mit Migrationshintergrund im Umfeld der Fachschule aus der Türkei stammt, war das Interesse für ein Auslandspraktikum dort nicht sehr groß.

Noch nie war mir der Begriff der Parallelgesellschaft bewusster als heute. Viele Türkischstämmige geben sich in diesem unfreundlichen, fast feindlichen Land gegenseitig Halt. Diese Parallelgesellschaft hat eine Schutzfunktion für sie. In meiner Rolle als Erzieherin habe ich die Möglichkeit, den Schutzmantel zu öffnen und die Integration in meinem Einflussbereich ein wenig voranzutreiben. Ich bin gespannt auf die Erfahrungen, die ich noch sammeln werde und freue mich auf die Menschen, die ich in meiner Arbeit kennenlerne. Elena Wolf

Gerade aber die Kenntnisse zu türkischer (Alltags-) Kultur und Sprache würden die berufliche Qualifikation der angehenden Erzieher und Erzieherinnen entscheidend verbessern. Aus dieser Überzeugung heraus versuchten die Lehrkräfte - gemeinsam mit dem Attaché für Bildung und Kultur des Generalkonsulats der Türkei in Frankfurt - die Studierenden für dieses Land zu interessieren - und hatten Erfolg! Acht junge Frauen und Männer reisten im Rahmen eines Auslandspraktikums im zweiten Ausbildungsjahr in die Türkei. Dort waren sie zwei Monate lang zu Gast und haben sich selbst in der Rolle des Fremden erlebt, an ihrem vorübergehenden Arbeitsplatz, wie auch im gesellschaftlichen Leben. Zuvor absolvierten sie einen mehrmonatigen Türkisch-Sprachkurs an der Wingertschule und bereiteten sich im Wahlpflichtfach „Sozialpädagogische Arbeit im interkulturellen Bereich“ auf die Kultur ihres Gastlandes und das Bildungs- und Erziehungssystem vor.

Annäherung an unbekannte Lebenswelten

Das Konsulat organisierte eine Einführungswoche in Izmit und der Nachbargemeinde Gölcük (am Marmarameer gelegen, rund 60 km von Istanbul entfernt) vor dem eigentlichen Praktikum, das im Kindergarten eines Berufsschulzentrums in Ankara stattfand.

Meine Einstellung zu türkischen Kindern hat sich insofern verändert, als ich nun einen besseren Zugang zu den Kindern finden kann, weil ich mehr Erfahrungen und Wissen über ihren kulturellen und religiösen Hintergrund habe. Ich weiß nun, dass Kinder im familiären Gefüge sehr ernst genommen und behütet werden. Ich habe etwas den Lebensstil der Menschen kennengelernt und kann ihnen freundlich, offener und vorurteilsfreier begegnen. Katharina Smieskol

Die Gasteinrichtung in Ankara, ein großes staatliches Berufsschulzentrum im Stadtzentrum für „Frauenberufe“ aller Art (Zübeyde Hanim ve Anadolu Meslek Kiz Meslek Lisesi), an das auch ein Kindergarten für die umliegende Wohnbevölkerung angegliedert war, hatte für die Unterkunft der deutschen Gäste gesorgt. Die Studierenden wurden für das Praktikum zu zweit auf die bestehenden Kindergartengruppen verteilt. An der Schule werden auch Kinderpflegerinnen ausgebildet. Mit dieser Ausbildung können sie in Kindergärten bzw. Vorschulen als Zweitkräfte oder Hilfskräfte arbeiten.

Die Türkei ist für mich wie eine Schatzkiste. Jedes Mal wenn ich dieses Land besuche, entdecke ich immer etwas Neues. Ich konnte einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Deutschland erkennen, dass z.B. die Schulvorbereitung schon im Kindergarten anfängt. In der Türkei hingegen spielen mehr als bei uns viele tänzerische und musikalische Einheiten eine große Rolle im Kindergartenalltag. Die Offenheit, Hilfsbereitschaft und Toleranz, die ich in der Türkei erfahren habe, haben mich wieder einmal überwältigt. Rukiye Yaya (eine türkischstämmige in Deutschland geborene Studierende)

Die eigentliche Ausbildung als Erzieherin ist in der Türkei die einer „Lehrerin“ für den Elementarbereich und findet an der Universität statt. Die angehenden Kinderpflegerinnen machen ihre Ausbildung in enger Verbindung mit der Praxis und sind an zwei Tagen in der Woche im Lehrkindergarten der Schule. An einem weiteren Wochentag kommen Studentinnen für das Lehramt in die Einrichtung. So standen die PraktikantInnen in einem ständigen fachlichen Austausch nicht nur mit der Leiterin des Kindergartens, die zugleich als Anleiterin und Mentorin vor Ort fungierte, sondern auch mit angehenden Erzieherinnen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die TeilnehmerInnen ein sehr differenziertes Bild der Türkei und ihrer Menschen erworben und ihre Kenntnisse bedeutend erweitert haben.

Ich weiß jetzt, wie schwer man es hat, wenn einem die Sprache nicht vertraut ist und man ständig mit dieser fremden Sprache konfrontiert wird. Ich entwickelte große Empathie für diese Kinder und nehme mir Zeit, einem Kind etwas zu erläutern, weil ich weiß, wie es ist, etwas erklärt zu bekommen und nur „Bahnhof“ zu verstehen. Auch die sprachliche Kompetenz, die ich mir angeeignet habe, hilft mir dabei, Bindung und Vertrauen zu den Kindern aufzubauen. Janina Kreuzer

Wertvoll waren aber besonders der Perspektivwechsel und die nachhaltigen Eindrücke, die die Reise hinterließen. Dies wird sich - darüber sind sich die Beteiligten einig - nachhaltig auf ihre pädagogische Haltung und die tägliche Arbeit im Umgang mit Kindern und Eltern auswirken. Das Auslandspraktikum in der Türkei hat nicht nur zu mehr Empathie gegenüber Migranten geführt, sondern ist letztlich ein gewichtiger Beitrag zur Integration von Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft. Es kann nur weiterempfohlen werden!

In Kooperation mit dem türkischen Generalkonsulat in Frankfurt entwickelt die Wingertschule derzeit eine zweisprachige deutsch-türkische Internetplattform, auf der sich an einem Austausch oder einem Praktikum interessierte Schulen, Kindergärten und Einzelpersonen registrieren lassen können und auf der auch Tipps und Praktikumsberichte veröffentlicht werden können. Ein Projekt, das der interkulturellen Verständigung dienen soll und das vom Hessischen Minister für Justiz, Integration und Europa unterstützt wird. Die Internetadresse lautet: www.tudesa.com.

LEONARDO DA VINCI fördert Auslandsaufenthalte in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Zurzeit werden in Deutschland pro Jahr knapp 12.000 Auszubildende, Fachkräfte oder Ausbilder unterstützt. Auch angehende Erzieherinnen haben die Möglichkeit, ein Praktikum im europäischen Ausland zu absolvieren, wenn sich ihre Fachschulen bzw. Fachakademien an diesem Programm beteiligen. Näheres dazu unter http://www.na-bibb.de/ mobilitaet_194.html

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