Wimmelbilderbücher kennt heute annähernd jedes Kind. Kein Wunder, schließlich erscheinen ständig neue. Denn in den Programmen der meisten Kinder- und Jugendbuchverlage ist das populäre Genre fest etabliert. Das allererste Wimmelbilderbuch erschien 1968 mit „Rundherum in meiner Stadt“.
Sein Schöpfer, Ali Mitgutsch, feiert am 21. August 2010 75. Geburtstag. Der von ihm erfundene, neue Typ ‚Bildersachbuch‘ schlug ein wie eine Bombe: 1969 erhielt Mitgutsch den Deutschen Jugendliteraturpreis und avancierte zum Bestsellerautor. 1,3 Millionen Mal hat sich allein sein erstes Wimmelbuch bis heute verkauft. In Folge erschienen 35 weitere Originaltitel. Rechnet man die unterschiedlichsten Ausgaben, Sonderformate und Nonbook- Artikel wie Puzzle und Poster dazu, kommt man auf 70 Titel.
Bis heute ist Ali Mitgutsch mit der Bezeichnung „Wimmelbuch“ nicht gerade glücklich. Es klingt ihm zu sehr nach unordentlichem Durcheinander. Ein Zustand, den Kinder deutlich mehr mögen als die meisten Erwachsenen. Und so dürfte gerade dieser erste Eindruck mitverantwortlich sein für den riesigen Erfolg des Buchkonzeptes bei der Zielgruppe. Denn das Wimmelige vermag Kinder gleich zu fesseln und sie unmittelbar ins Bildgeschehen zu ziehen. Ist das Interesse erst einmal geweckt, bleiben Kinder - auch bei alleiniger Betrachtung - oft lange bei der Sache. Denn einen Vorleser brauchen Mitgutschs Bilderwelten nicht, sie kommen weitgehend ohne begleitenden Text aus. „Ich schaffe Bilder, die sich selbst erzählen“, und die sind - spätestens auf den zweiten Blick - wohldurchdacht und präzise auf die Zielgruppe der Klein- und Vorschulkinder zugeschnitten.
Das Wimmelprinzip und seine Besonderheiten
Reißfestes und strapazierfähiges Material ist das erste, im Wortsinn „handfeste“ Kennzeichen von Mitgutschs Pappbilderbüchern, die - und das ist die zweite Charakteristik - in unterschiedlichsten Buchgrößen vorliegen. Jede birgt eigene Möglichkeiten: Die Miniformate liegen gut in der Hand, selbst in besonders kleinen Händen und passen in jede Tasche. Die normale Bilderbuchgröße eignet sich am besten zum gemeinsamen Betrachten und die Riesenformate lassen sich so aufklappen, dass Kinder auf dem Buch spazieren gehen - es somit auch motorisch erobern können. Die dritte Besonderheit liegt in der Wahl elementarer, populärer Sachthemen wie Dorf, Stadt, Land, Wasser, Piraten oder Ritter. Jedes Buchthema wird doppelseitig in 8 bis 15 Bildertafeln aufgefächert. Als Kulissen wählt der Wimmelbucherfinder charakteristische Lebensräume; beim Thema „Stadt“ beispielsweise Spielplatz, Schwimmbad, aber auch Hausbau und „Unsere Stadt bei Nacht“. Die Räume sind den kindlichen Betrachtern entweder bekannt oder für sie von großem Interesse. Nichts ist dargestellt, das sie nicht verstehen könnten. Die in den Kulissen platzierten unterschiedlichsten Szenen zeigen typische, so einfache wie überschaubare und leicht erkenn- sowie deutbare Situationen und Ereignisse. Da wird geärgert, gestritten, gelacht, geliebt und geschafft. Um die siebzig bis achtzig Figuren, natürlich überwiegend Kinder, tummeln sich auf jeder Doppelseite. An jeder Ecke passiert ein harmloser Streich oder etwas, das man eigentlich nicht darf und das gerade deswegen einen Riesenspaß macht. Mitgutschs Miniaturwelten bersten vor Lebenslust, augenzwinkerndem Humor und Einfallsreichtum. Sein Blick auf die Alltagswelt ist warmherzig und voller Übermut. Er eröffnet Kindern eine Welt, die sie mit offenen Armen aufnimmt.
Die zugrunde liegende Absicht
Natürlich und wie nebenbei kann man dabei eine Menge lernen. Zuallererst über das Leben, das auf Panoramabildern inszeniert wird. Dabei schaut der Betrachter von einem erhöhten Standpunkt aus auf den Schauplatz. So kann Mitgutsch ein Maximum unterschiedlichster Figuren und Szenen darstellen und in eine Dramaturgie bringen. Mittels Vogelperspektive aber behält der Betrachter trotz dieses Detailreichtums den Überblick, jede kleinste Szene ist als Teil des Ganzen erkennbar. Dass sie auch gleich wichtig ist, signalisiert der Künstler, indem jede Figur - ob im Hinter- oder im Vordergrund - gleich groß ist. Mitgutsch bietet dem Betrachter so größtmöglichen Freiraum: Jeder kann ganz alleine selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge er die Bildszenen betrachtet und sich das Bildgeschehen als Ganzes erschließt. Diese Ausgangsposition bei der Rezeption stärkt die Orientierung und die Selbstständigkeit des kindlichen Betrachters, der sich nun zutrauen kann - vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrungen - das Dargestellte zu deuten, zu verstehen, zu begreifen und weiterzuspinnen.
Ideen zur Sprachförderung
Wimmelbücher machen die Welt für Kinder lesbar. Sie öffnen ihnen die Augen für die Phänomene ihrer Umwelt und unterstützen sie darin, in „den ersten sieben Jahren ihres Lebens eine Art optisches Archiv“1 - anders gesagt, ein mentales Lexikon - anzulegen. Je nach Altersstufe gibt es zahlreiche Möglichkeiten, beim gemeinsamen Betrachten sprachliche und erzählerische Fähigkeiten der Kinder zu fördern.
Benennen und Beschreiben
Als grundlegendste Möglichkeit kann hier gelten, Bildphänomene begrifflich zuzuordnen. Indem Kinder das, was sie sehen, benennen, wird ihr bestehender Wortschatz gefestigt und erweitert. Für diese einfachste Rezeptionsform von Wimmelbüchern dürften 2-jährige Kinder ausreichend Vorkenntnisse mitbringen: einen gewissen Grundwortschatz, um einzelne Objekte zu benennen und Geschehen in „Zwei- Wort-Sätzen“2 wiederzugeben. Kinder lernen während des gemeinsamen Betrachtens, das was sie sehen, zu verstehen und zu versprachlichen. In einem nächsten Schritt kann man die einzelnen Objekte in ihrer Besonderheit beschreiben. Hier machen Suchspiele am meisten Spaß. Etliche von Mitgutschs Wimmelbüchern sind bereits als Such-Bücher angelegt. Bei diesen Suchspielen müssen Kinder - mehr oder weniger unterstützt vom mitlesenden Erwachsenen - individuelle Merkmale des Suchobjekts erkennen und beschreiben, während beim eigentlichen Suchvorgang obendrein ihre Beobachtungsgabe geschult wird.
Formulieren und Kommunizieren
Dann geht es ans gemeinsame Erforschen, was auf den Seiten genau los ist. Die Konstruktion von Sinn, die gefordert ist, wenn Kinder das Geschehen als Kontext erfassen und in eigenen Worten wiedergeben sollen, ist deutlich anspruchsvoller als ein Benennen und Beschreiben einzelner Bildsujets. Daher ist Mitgutschs narrativer (erzählerischer) Bildstil darauf ausgerichtet, seine Bildinhalte zu vereinfachen, indem er sie typisiert und damit schnell wieder erkennbar macht.
Da kleinere Kinder eine Bildfläche vornehmlich punktuell erfassen, beginnt man am besten mit der Szene, die sie am meisten interessiert und geht dann zur nächsten über. Die dargestellten Alltagsszenen ermöglichen beim gemeinsamen Betrachten ein reges Gespräch über unterschiedliche Wahrnehmungen des Dargestellten und mögliche Interpretationen der Zusammenhänge. Man kann seinen persönlichen Eindruck mit dem des Kindes abgleichen und fördert so seine Fähigkeit, präzise zu formulieren und zu kommunizieren. Durch das Wahrnehmen und Denken aus unterschiedlichen Blickwinkeln werden erste Grundlagen für ein differenziertes Verständnis fiktionaler Stoffe eingeübt.
Fragen, Deuten und Erzählen
Mit zunehmendem Alter können Kinder den Fokus auf größere Zusammenhänge legen und einzelne Szenen zueinander in Beziehung setzen. Alle Szenen einer Doppelseite finden annähernd gleichzeitig statt. Die Simultandarstellung macht Kindern zum einen anschaulich, dass das gelebte Leben aus unzähligen verschiedenen Wirklichkeiten besteht, die gleichzeitig stattfinden und erlebt werden: Während ich glücklich bin, stößt einem anderen gerade etwas Schlimmes zu. Zum anderen wird sichtbar, wie viel unterschiedliche Aktionsmöglichkeiten in einem bestimmten Lebensraum möglich sind. Hier können Kinder Assoziationsketten bilden und so Funktionszusammenhänge herstellen sowie kausale Zusammenhänge erkunden: Welches Verhalten ergibt sich aus dem Vorhergehenden oder aus welchen Umständen? Könnte man nicht auf dieselbe Situation ängstlich, belustigt oder sogar mutig reagieren? Mitgutsch „schult … mit viel Humor die Beobachtungsgabe des Kindes für das soziale Verhalten seiner Mitmenschen“.3 Während dem gemeinsamen Bildbetrachten, dem Fragenstellen und Deuten des Gesehenen, geht das dialogische Bilderlesen meist in eine kreative Phase über: dem Weiterspinnen der Geschichten. Die kindlichen Betrachter verknüpfen hierbei das Gesehene mit eigenen Erlebnissen und individuellen Erfahrungen und denken sich aus, wie alles weitergehen könnte.
Das Wimmelbuch heute
Mitgutsch hat nicht nur mit seinen Wimmelsachbüchern bis heute Erfolg, das Wimmelbuch konnte sich zudem als eigenes Genre durchsetzen. Zu verdanken ist dies auch denjenigen, die das Originalkonzept künstlerisch und didaktisch weiterentwickelt haben. In weiterführenden Konzepten wird eine Intention besonders in den Vordergrund gerückt: beispielsweise die Suchfunktion, der thematische Aspekt oder das Erzählerische. In Suchwimmelbüchern geht es um den Spaß am Suchen, didaktisch eingesetzt in genreübergreifenden Wimmel-Bildwörterbüchern von Christine Brand: „Komm mit uns in die Stadt!“ (Oetinger 2009). Eine literarisch spannende thematische Ausrichtung bietet Melanie Brockamp mit „Mein Märchen-Wimmelbuch“ (Coppenrath 2008). Erfolgreich ist Rotraut Susanne Berner mit ihrem Zyklus „Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winter-Wimmelbuch“ (Gerstenberg). Die vier Bücher bieten so vielfältigen narrativen Stoff, dass ihr Wimmelwerk als „Bilderroman“4 bezeichnet wurde.
Fazit
Wimmelbücher stellen mit ihrer ‚offenen Struktur‘ ganz offenbar einen geeigneten Einstieg in eine Vorform des Lesens und erzählenden Mitlesens dar“5. Sie fördern durch ihren visuell anschaulichen Detailreichtum und das damit verbundene aufmerksame Bildbetrachten die sprachlichen Fähigkeiten und Einsichten in fiktionale Zusammenhänge. Sie unterstützen die kindliche Weltaneignung, bieten Gesprächsanlässe und entzünden die Lust am eigenen Erzählen.