Ein Gespräch mit Gerd Schäfer über Sinne und SinneserfahrungenVielfältige Erfahrungen sind der Schatz der Kindheit

Sie sind allgegenwärtig und werden häufig thematisiert in der Ausbildung ebenso wie im pädagogischen Alltag: unsere Sinne. Aber sind wir uns der Bedeutung der Sinneswahrnehmung tatsächlich bewusst? Und tun wir genug, ihre Entwicklung und Ausdifferenzierung zu fördern? Werden sie evtl. durch Reizüberflutung, moderne Technik und Medien überfordert? Prof. Dr. Schäfer gibt spannende Antworten auf aktuelle Fragen.

kindergarten heute: Herr Prof. Schäfer, Sie haben viel über Sinneswahrnehmung in pädagogischen Zusammenhängen geforscht und geschrieben. ,kindergarten heute‘ richtet sich vor allem an die pädagogischen Fachkräfte in der Praxis und in der Ausbildung. Wie sehen Sie das Thema sinnliche Bildung heute in Kitas und Kindergärten vertreten?

Ich würde sagen, dass das Thema „Sinne“ in der Fachwelt noch nicht angekommen ist. Dies mache ich daran fest, dass im Grunde immer nur von einzelnen Sinnen gesprochen wird. Da wird mal das taktile Moment genannt, dann kommt die Bewegung, das Sehen und Hören. Oft geht es um vernachlässigte sensorische Momente, die einer besonderen Förderung bedürfen. Oder es werden noch die Medien angeführt, die die Sinne überreizen. Man muss aber begreifen, dass die Sinne das Eingangstor unserer Wirklichkeitserfahrungen sind und dass wir die Welt mit sinnlichen Mitteln ordnen müssen, damit wir handelnd und denkend mit Wirklichkeit umgehen können.

Was bedeuten die Sinne für kleine Kinder? Könnten Sie die wichtigsten Aspekte erläutern?

Ich würde zunächst ganz simpel feststellen: Wenn Kinder auf die Welt kommen, kennen sie nichts von dieser Welt. Sie brauchen die ersten Lebensjahre, um sich in dieser Welt zu orientieren, sie so, wie sie ihren Sinnen erscheint, kennen zulernen. Dazu müssen sie sehen, hören, fühlen, tasten, sich bewegen - und das immer mehr ausdifferenzieren. Ein Beispiel: Um zu hören, bringt das Kind bestimmte Voraussetzungen mit und entwickelt nun weitere Fähigkeiten, hinzuhören und das Gehörte einzuordnen und zu verarbeiten. Durch die beständige Wahrnehmung wird das Hören quasi im Gebrauch geeicht. Das gilt für alle unsere Sinne und geschieht im Alltag. Indem Kinder an unserem Alltag teilnehmen und all das tun, was in diesem Alltag zu tun ist, entwickeln sich die Sinne. Dabei spielen alle Sinne zusammen: Was man nicht sehen kann, kann man vielleicht hören oder fühlen usw. Es geht also nicht nur um einzelne besondere Sinne, sondern auch um ihr koordiniertes Zusammenspiel. In einem Alltag, in dem man nichts zu tun hat, entstehen Defizite. Doch eigentlich sind das keine Defizite, sondern Anpassungen an eine allzu bequeme Welt.

Die Konsequenz wäre, in Kitas und Kindergärten „unbequemere“ Situationen und Lebensräume zu schaffen als im sonstigen Alltag?

Ich denke, was man daraus zuallererst lernen muss, ist, dass der Alltag vielfältig sein sollte. Und dass Sinneserfahrungen stets mit Beziehungserfahrungen verbunden sind. Wenn ich als Kind in einer Welt lebe, in der ich liebend gerne mit Menschen zusammen bin, mit denen ich erfahre, wie sie am Leben teilnehmen, kann ich ein ganz anderes Verhältnis z. B. zu meiner Bewegung entwickeln, als wenn ich - von Erwachsenen gut gemeint, aber für mich ohne jeglichen Bezug zum Alltag - über einen Sinnespfad gejagt werde. Alltagserfahrungen ermöglichen eine viel intensivere sinnliche Bildung als jeder Sinnespfad, denn die Sinne sind hier eingebettet in einen bedeutungsvollen Zusammenhang. Es geht also nicht einfach um unbequemere Situationen, sondern um bedeutungsvolle.

Das heißt, Sie sehen gezielte Schulung oder auch isoliertes Training kritisch?

Davon halte ich bei einem gesunden Kind rein gar nichts. Weil dadurch genau das gemacht wird, was den Kindern in der Schule das Lernen immer wieder vergällt: Kinder erfahren nicht, in welchem Lebenszusammenhang das, was sie lernen oder üben sollen, steht. Nehmen wir die Mutter, die ihr Kind mit Mozart beschallt, während sie schwanger ist, weil sie gehört hat, das sei gut für ihr Kind. Doch im Grunde hat die Mutter vielleicht überhaupt kein Interesse an dieser Musik. Damit das Kind in Bezug auf Melodie, Rhythmus etc. angeregt wird, damit es diese Wahrnehmungen weiter differenzieren kann, braucht es eine Umgebung, in der Musik eine Bedeutung hat und Melodien nicht nur abgedudelt werden. Nach der Geburt müsste es also weitergehen mit der Musik. Die Kinder brauchen eine Umwelt, in der es weitergeht.

Könnte man also sagen, dass es darauf ankommt, einen „Spielraum“ zu schaffen, der vielfältige Alltagserfahrungen und vielfältige Beziehungen ermöglicht?

Ja, denn vielfältige Erfahrungen sind der Schatz der Kindheit. Sie ermöglichen es, neue Bilder zu entwerfen. Je mehr Erfahrung ich habe, desto größer sind auch die Möglichkeiten, Neues zu entwerfen. Und damit sind wir beim Spiel. Kinder benutzen die Erfahrung, die sie haben, lösen sie von ihrem Alltag und nehmen diese ins Spiel hinein, in eine Zone, die zunächst mal keine ernsthaften Folgen hat. Hier können sie ausprobieren im Sinne von: Was wäre, wenn …?

Wie können wir pädagogische Fachkräfte dazu ermutigen, darauf zu vertrauen, dass Kinder selbst Wege finden? Dieses Vertrauen macht ja die pädagogische Grundhaltung aus, einem Kind dies auch zuzutrauen und nicht zu meinen, ein Projekt an das nächste reihen zu müssen.

Dieses Selbst-Wege-Finden braucht günstige Bedingungen. Die erste ist, den Kindern eine Umwelt zu geben, die spannend ist. Ich bin der Ansicht, dass der Raum als erster und nicht als dritter Erzieher wirkt. Die Umgebung sollte also vorbereitet sein, aber nicht im Sinne von Maria Montessori, sondern breiter gedacht, im Sinne einer Umwelt, in der es sich zu leben lohnt. Es braucht Räume, in denen Kinder neugierig werden. Ein Kind sollte mit der Frage in den Raum kommen: „Wo gibt es etwas zu entdecken?“ und nicht: „Wo liegt mein Spiel?“ Eine zweite Bedingung ist, mit dem Kind in einer Beziehung zu stehen, in der wir an seinen Aktivitäten teilnehmen, d. h. dass wir uns daran beteiligen, indem wir erfassen, was da vor sich geht. Nur so können wir einem Kind weitere Anregungen geben. Es geht darum, dabei zu sein und Resonanz zu geben, also eine Antwort zu geben, zu zeigen, dass man sich interessiert, dass man neugierig ist, was das Kind erfahren hat.

Welche Bedeutung spielt in diesem Zusammenhang die sinnliche Bildung der pädagogischen Fachkräfte selbst?

Wahrnehmen ist eine Lebenstätigkeit. Sie begleitet auch uns Erwachsene bei allem, was wir neu entdecken. Daher beschäftigen wir uns in unseren Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte zunächst mit der eigenen Wahrnehmung, dem persönlichen Erleben. Der Mensch muss die Möglichkeit haben, sein Leben lang Neues zu entdecken und wahrzunehmen. Selbsttätig und eigenständig - das ist ein Grundprinzip jeden Lernens wie auch der Lust am Lernen! Ich könnte Ihnen jetzt wunderbare Bilder zeigen von Fortbildungen, in denen Erzieherinnen selbst ästhetisch tätig werden. Etwa indem sie einen Kohlkopf dadurch immer bewusster wahrnehmen, dass sie ihn mit ästhetischen Mitteln untersuchen, um zu sehen, was darin für Möglichkeiten stecken. Dadurch kann die eigene Sensibilität wieder geweckt werden. Wichtig ist es, neugierig zu sein, ähnlich wie die Kinder, sonst vergeht den Kindern die Neugier.

Wenn Beziehung so wichtig ist - wie sehen Sie den vieldiskutierten Konsum der Medien und das Reizwort „Medienerziehung“ im Hinblick auf die Sinneswahrnehmung?

Medienerziehung zählt in meinem Verständnis grundsätzlich zur ästhetischen Erziehung. Das meint, Kinder für die Vielfalt ästhetischer Bereiche zu öffnen, ihnen deutlich zu machen, dass die Dinge eine Form haben, dass sie gestaltet werden können, sodass sie ein Empfinden für die unterschiedliche Gestalt und die Gestaltungsweisen bekommen.
Entscheidend ist für mich: Ein Medium ist so gut, wie das, was ich mit ihm machen kann. Wenn ich mit einem Medium etwas gestalten kann, etwas anfangen kann, dann ist das wunderbar! Und dann ist es egal, ob das ein Computer oder ein Bleistift ist. Ich muss es als Werkzeug benutzen können. Es geht darum, dass ich ein Gespür, eine Sensitivität für Gestaltung, für Gestaltungsformen, für gute Gestaltung entwickeln und sensibel und empathisch mit Werk zeugen und Materialien umgehen kann. Wenn ich ein Bild aufgrund seiner Qualitäten beurteilen kann, also ob es z. B. ausgeglichen, farblich differenziert ist etc., wenn ich es erfassen und würdigen kann, so ist dies die Basis von Medienerziehung. Was allerdings nicht funktioniert, ist, Kinder früh mit medialer Welt zu konfrontieren in dem Glauben, dass sie so etwas über die Wirklichkeit erfahren. Kinder früh mit medialer Welt zu konfrontieren bedeutet, ihnen Konserve vorzusetzen, nicht die Wirklichkeit.
Nehmen Sie die DVD „Baby Einstein“ [eine vom Disney Konzern vertriebene DVD, Anm. d. Red.]. Sie zeigt sehr eindrücklich, wie Lernen über diesen Weg misslingt. Man glaubte, dass, wenn man Kindern ab dem Alter von einem halben Jahr Wasser in 50 Kurzsequenzen von 8 bis 16 Sekunden Dauer vorführt - vom Geysir bis über die Wasserleitung zu irgendwelchen Blubberblasen -, sie dadurch die Wirklichkeit des Wassers kennenlernen. Das gelingt aber nicht. Die mediale Welt bekommt erst einen Sinn, wenn man die reale Welt kennt. Wir Erwachsenen haben genügend Erfahrung, um uns vorstellen zu können, was ein Geysir ist, auch wenn wir noch nie einen gesehen haben. Man benötigt dazu viele Erfahrungen aus anderen Kontexten, um sich das entsprechende Bild zusammenzubasteln.

Sie sprachen vorhin davon, dass es Aufgabe der Erzieherinnen sei, Räume zu schaffen, bei denen Kinder gleich spüren, wo es etwas zu entdecken gibt. Welche Bedeutung spielt eigentlich Ruhe für die Sinnesentwicklung?

Ruhe, Alleinsein - dies sind äußerst wichtige Aspekte. Ich will Ihnen ein schönes Beispiel aus unserer Lernwerkstatt schildern: Mehrere Jungs beschäftigen sich etwa eine Woche lang mit einem Projekt über Dinosaurier. Sie haben Äste im Wald gefunden, und ihnen kam die Idee, dass es sich dabei um Dinosaurierknochen handeln könnte. Sind es welche, ja oder nein? Und von welchen Dinosauriern stammen sie? Diese Fragen trieben sie um. Die Jungen führten echte Expertengespräche - sie hatten Filme gesehen und kannten nicht nur die Namen. Sie waren begeistert von ihrem Thema, begannen aber, nachdem die erste Euphorie verflogen war, selbst an der Echtheit der „Knochen“ zu zweifeln. Es war faszinierend, zu beobachten, was während der Woche geschah. Im einen Moment erzählten sie die wildesten Geschichten über diese Dinosaurier, dann wieder machten sie sich differenzierte Gedanken, inwiefern das wirklich Dinosaurierknochen waren oder nicht. Sie entwickelten Kriterien, die beweisführend sein sollten, fragten sich also z. B., wie sich ein Knochen und wie sich der eine oder andere Stock anfühlte. Sie brachten all ihr Erfahrungswissen über Knochen ein.
Drei Tage lang waren die Kinder mit hochkomplexen Überlegungen beschäftigt. Am vierten Tag klinkte sich einer, der dieses Thema vorangetrieben hatte, völlig aus. Er nahm sich ein Eimerchen mit Wasser und ging ins Gelände, um sich an den Lehmhängen eine Rutsche zu bauen. Er transportierte Wasser in Eimerchen auf die steilen Hügel, schüttete das Wasser den Hang herab und baute sich eine Wasserrutsche. Er rutschte den ganzen Vormittag den Abhang hinunter. Die Betreuerin dachte: Na ja, jetzt hat er wohl das Interesse an der Dino-Frage verloren. Am Nachmittag kam der Junge in die Werkstatt zurück. Er wollte malen. Und er setzte sich hin und malte eine Riesenstory über Dinosaurier und erzählte dazu. Es war wunderbar!
Was bedeutete der Vormittag bei der Lehmrutsche und das Bildermalen für das Kind? Ich halte das für eine schöpferische Pause. Er musste Abstand nehmen, etwas ganz anderes machen, die Sache verinnerlichen. Dann erst ging es weiter.

Sie sagen, der Junge musste die Sache „verinnerlichen“ - was genau läuft bei diesem Verarbeitungsprozess ab?

Nach einer konkreten Beschäftigung kann ein Verarbeitungsprozess eintreten, in dem das Handlungsgeschehen verinnerlicht, d. h. zu inneren Szenen und Bildern umgewandelt wird, mit denen man, von Realitätsbedingungen losgelöst, umgehen kann. Handlungen werden zu inneren Geschichten. Doch Geschichten können auch wieder in Handlungen umgesetzt und dabei weiter verändert werden, wie das die Rollenspiele der Kinder zeigen. Aus inneren Geschichten entstehen fiktive neue äußere Wirklichkeiten. Auf diese Weise erfahren Kinder, was man mit den Dingen machen kann. Diese Umwandlungsprozesse brauchen Zeit und Gelegenheit, soziale Unterstützung und in manchen Fällen auch Alleinsein.

Phasen der Ruhe und des Alleinseins sind also durchaus notwendig für Lernprozesse. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die pädagogischen Fachkräfte?

Für den Bildungsraum in Kitas und Kindergärten ist als erster und wichtigster Aspekt zu nennen, nicht permanent „Action“ für die Kinder zu machen. Es gilt grundsätzlich und im Grunde täglich neu zu akzeptieren, dass Kinder sich auch isolieren dürfen und das Bedürfnis haben, sich zurückzuziehen. Dies sollte man ihnen durch eine entsprechende Raumgestaltung oder durch Orte, an denen die Kinder für sich sein können, ermöglichen. Um es mit Winnicott, einem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker, zu sagen, geht es darum, Kindern zu ermöglichen, „allein zu sein in Anwesenheit eines anderen“. Das heißt: Der andere ist da, aber ich bin allein und werde nicht gestört und kann so meiner Sache nachgehen.
Die zweite Anforderung ist die Bereitschaft zum Innehalten - ich nenne es die „Pädagogik des Innehaltens“. Bereit zu sein, nicht sofort Lösungen zu haben, nicht sofort zu wissen, wo es langgeht, sondern Geduld zu haben, zuzuschauen, abzuwarten, bis man genügend Indizien hat, um daraus Schlüsse zu ziehen, um sinnvoll handeln zu können. Dieses Sich-Zurücknehmen ist, so glaube ich, die größte Anforderung an die Erzieherinnen. Es setzt eine hohe Beobachtungsfähigkeit voraus. Deswegen ist mir das wahrnehmende Beobachten so wichtig - d. h. alles aufzunehmen, auf sich wirken zu lassen und dann erst zu reagieren. Es geht also nicht darum, zu beobachten, welche Standards werden hier erfüllt, sondern um die Fragen: Was läuft hier ab? Wie wirkt das auf mich? Und wie könnte ich darauf sinnvoll antworten?

Das heißt, wahrnehmendes Beobachten setzt einen intensiven reflektorischen Prozess der pädagogischen Fachkräfte in Gang?

Ja, und - das ist mir wichtig - man kann das lernen! Man kann sich diese Zeit geben, das geht im Alltag. Es geht allerdings nicht, wenn ich ständig Angebots- und Förderprogramme durchziehe.

Sollte man Erzieherinnen nicht stärker ermutigen, diesen Qualitätsanspruch zu haben und ihn auch durchzusetzen? Der Druck von den Eltern im Hinblick auf nachweisliche Förderung scheint ständig zu wachsen.

Ich kann die Perspektive der Eltern grundsätzlich verstehen. Daher ist es in der Tat eine weitere, mindestens ebenso hohe Anforderung an die Fachkräfte, Eltern zu erläutern, was im Bildungsprozess geschieht und was sie aus welchen Gründen tun. Erläutern die Fachkräfte dies nicht, muss es für die Eltern so aussehen, als ob die Kinder „nur“ spielen.
Die Stimme der Kinder zu sein, auch gegenüber den Eltern, das ist eine wichtige Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte. Allerdings müssen sie dazu auch tatsächlich nah dran sein am Kind und seiner augenblicklichen Weltaneignung. Das ist eine wirklich schwierige Aufgabe. Die Erfahrung zeigt aber, dass es gehen kann! In unseren Fortbildungen, die nicht nach zehn Tagen zu Ende sind, sondern als unser Qualitätsentwicklungsverfahren in der Regel über drei Jahre laufen, ist ein Großteil der Teilnehmer zumindest in Grundzügen in der Lage, sich ein Stück weit zurückzunehmen, innezuhalten und den Eltern zu vermitteln, was im pädagogischen Prozess geschieht.

Ich habe erlebt, wie in einer Kita Kinder um einen runden Tisch saßen. Eines hat damit begonnen, seine Brotbox auf- und zu- zu machen. Die anderen sind ihm gefolgt: klipp-klapp, klipp-klapp. Die Erzieherinnen haben das zugelassen - und die Kinder hat das über eine halbe Stunde lang beschäftigt.

Fantastisch! Und nun muss man sich vorstellen, dass die Welt der Kinder aus lauter solchen Erfahrungsmustern besteht. All diese Episoden, die sie so in ihrer Welt wahrnehmen, bilden in ihrem Kopf Erfahrungsmuster. Sie können die Welt zunächst einmal anhand dieser Erfahrungsmuster begreifen und diese dann wiederum benutzen - um Neues zu begreifen.

Die Wertschätzung des „Neuen“ scheint mir in Ihren Texten ein ganz wichtiger Aspekt. Sie ermutigen immer wieder zu freierem Denken - auch zum Querdenken. Warum sind Ihnen der Respekt vor Vielfalt und das unabhängige „Querdenken“ so wichtig?

Weil wir sonst keine Zukunft haben. Neu- oder Querdenken war natürlich schon immer wichtig, in unserer Zeit scheint es mir aber besonders notwendig. Ich denke da beispielsweise an unseren Umgang mit Natur und Technik. Wir haben für die sich abzeichnenden Probleme in vielen Bereichen keine Lösungen. Die müssen nachfolgende Generationen finden, und das können sie nur, wenn sie nicht nur das denken, was wir gedacht haben, sondern fähig sind, eigene Lösungswege zu gehen. Fehler spielen dabei eine gewichtige Rolle. Ich muss die Freiheit haben, Fehler zu machen - wenngleich hoffentlich keine lebensbedrohlichen -, aus denen ich lernen kann.
Unsere Hirnforscher sagen, was nicht benutzt wird, geht verloren. Für die Sinne heißt das, was wir sensorisch nicht oder einseitig entwickeln, begrenzt uns. Eine kulturelle Entwicklung ist nicht gut möglich, wenn die Sensorik immer weiter abstumpft. Für die Zukunft brauchen wir vielfältig wahrnehmende und neue, ungewöhnliche Wege beschreitende Menschen.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen und was hat Sie all die Jahre motiviert, die Sinnesbildung so intensiv zu erforschen?

Das hat vermutlich biografische Wurzeln. Im Grunde resultiert meine intensive Auseinandersetzung daraus, dass ich kein guter Schüler war und unter der Schule vielfach gelitten habe, und zwar von der Grundschule an. Ich konnte nicht von heute auf morgen etwas lernen und dieses dann wiedergeben. Dagegen hatte ich als Kind sehr viel Zeit, mich mit den Dingen, die um mich herum waren, zu beschäftigen, also erforschend zu spielen. Mit drei Jahren bin ich z. B. von zu Hause ausgerissen und an die Donau gegangen, weil mich das Wasser fasziniert und angezogen hat. Meine Eltern haben Ängste ausgestanden, bis sie mich wiedergefunden haben. Ich habe das öfters gemacht, und sie konnten mich nicht halten. Ich wollte immer schon die Sachen erfahren, erfassen und begreifen. Dazu hat mir die Schule keine Zeit gegeben.

Herr Prof. Schäfer, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Das Gespräch führte Dr. Christina Kotte, Freiburg

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