Das individuelle Begabungsprofil eines Menschen lässt sich in der Regel auf wenige „Leittalente“1 zurückführen, die im Laufe des Lebens eine hohe Stabilität aufweisen. Der „Talentmix“, den jeder Mensch mitbringt, ist individuell sehr unterschiedlich ausgeformt, und es scheint schwierig zu sein, im Laufe des Lebens gänzlich neue Talente zu entwickeln. Wird es dennoch versucht, bleiben die Ergebnisse auch bei hohem Einsatz fast ausnahmslos hinter den Erfolgen zurück, die erzielt werden, wenn die ursprünglichen Talente genutzt werden. Welchen Einfluss der Einsatz der eigenen Talente im beruflichen Kontext hat, wurde unter anderem in der großen „Gallup-Studie“2 untersucht. Im Rahmen dieser Untersuchung legte man Mitarbeiterinnen die Frage vor: „Haben Sie jeden Tag Gelegenheit, etwas zu tun, was Sie besonders gut können?“ Wurde diese Frage von einer überwiegenden Mehrheit der Belegschaft mit einem eindeutigen „ja“ beantwortet, waren hochmotivierte und sehr leistungsstarke Teams anzutreffen, deren Zusammensetzung über einen langen Zeitraum stabil blieb. Der Krankenstand war auffallend gering, die Motivation und Anstrengungsbereitschaft der Teammitglieder erstaunlich hoch. Der beständige Einsatz von individuellen Stärken trägt also in hohem Maß zum beruflichen Erfolg und zur persönlichen Zufriedenheit bei.
Stärken und entfalten Sie bereits vorhandene Talente
Aufgrund solcher Erkenntnisse ist es naheliegend, die anstehenden Aufgaben im Team talentorientiert zu verteilen. Allerdings ist die Komplexität der Anforderungen gerade in Kindertagesstätten sehr hoch. Zusätzlich sind viele Aufgaben von den Beziehungen zu den Kindern geprägt. Die Kinder brauchen vertraute, verlässliche Beziehungen und Bezugspersonen sowie Stabilität in der Begleitung der täglichen Abläufe. Daher ist es aus pädagogischer Sicht nicht zu vertreten, bestimmte Aufgaben zu delegieren. Eine talentorientierte Aufteilung scheint daher unrealistisch. Dennoch wird nicht jede Kollegin alle Aufgaben gleich gut meistern. Wie also vorgehen? Sollte man, um effektiver und zufriedenstellender zu arbeiten, mit viel Energie an zuvor ermittelten Schwächen arbeiten oder zur Erreichung dieser Ziele die Frage stellen, wie es gelingen kann, vorhandene Talente zu stärken? Werden die Ergebnisse der oben erwähnten Studie ernst genommen, könnte folgende Faustregel weiterhelfen: An Schwächen sollte man nur so weit arbeiten, dass sie der Entfaltung der Stärken nicht im Wege stehen und professionelle (Mindest-) Standards nicht unterschritten werden. Da die Verwandlung einer Schwäche in eine ausgeprägte Stärke auch bei hohem Einsatz kaum gelingen wird, liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung bereits vorhandener Talente bzw. persönlicher Stärken.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Frau F. arbeitet in einer großen Kindertagesstätte im sozialen Brennpunkt. Elternarbeit hat einen großen Stellenwert, die Zahl der als schwierig eingestuften Elterngespräche ist hoch. Auf diese Gespräche hat sich Frau F. spezialisiert. Sie wird von den Kolleginnen aus allen Gruppen immer wieder hinzu gebeten und tatsächlich gelingt es aufgebrachte Eltern zu beruhigen oder desinteressiert wirkende Eltern zu motivieren, bestimmte Dinge für ihre Kinder umzusetzen. Wie macht sie das?
Sie verfügt vermutlich über Talente und persönliche Stärken, die in diesen Situationen besonders hilfreich sind. So steht ihr in besonderem Maße das Talent der Einfühlungsfähigkeit zur Verfügung. Sie hört die unausgesprochenen Fragen und Sorgen der Eltern, sie findet die passenden Worte, bleibt gelassen und trifft den richtigen Ton. Die Eltern fühlen sich verstanden. Frau F. erkennt auch die hinter Vorwürfen versteckten Sorgen der Eltern und kann diese benennen, ohne dass die Eltern sich zurückgewiesen fühlen. Sie sieht, welche besonderen Fähigkeiten gerade diese Eltern besitzen. Es gelingt ihr, gemeinsam mit den Eltern herauszufinden, was gut für die Familie ist, was das Kind braucht, aber auch wie die Erzieherinnen Entwicklungsprozesse unterstützen können.
Zum Alltag von Frau F. gehört andererseits auch die Gestaltung von Elternabenden. Soll sie dort die Bildungsbereiche vorstellen, sodass die Eltern verstehen, warum sich die Gruppenräume jetzt in Funktionsräume verwandeln und warum frühkindliche Bildung nicht mit schulischen Bildungsaufgaben zu vergleichen ist, dann fehlen Frau F. oft die passenden Worte. Die Eltern wirken schnell abwesend oder gelangweilt. Hier sind ganz andere Talente gefragt, vor allem das Talent, bei öffentlichen Auftritten etwas erklären zu können, theoretische Dinge so aufzubereiten, dass sie auch für bildungsferne Eltern spannend werden. Die Talente „Einfühlungsvermögen“ und „Einzelwahrnehmung“, welche bei den Gesprächen so hilfreich sind, helfen hier nicht weiter.
Eine Lösung für Frau F. – die individuellen Stärken im Team einsetzen
Muss Frau F. jetzt das öffentliche Auftreten üben? Sollte sie eine entsprechende Fortbildung besuchen? Vermutlich würde sie dennoch keine begnadete Rednerin. Wesentlich effektiver ist es, Frau F. im Bereich Elternberatung zu schulen, um ihr weitere Methoden und Beratungsansätze zugänglich zu machen. Gleichzeitig könnte eine Kollegin, die gerade in öffentlichen Auftritten persönliche Stärken zeigt, mit der Durchführung von Elternabenden betraut werden. Frau F. wäre dann bei den Elternabenden anwesend und könnte beispielsweise die Moderation übernehmen.
Ein derartig arbeitsteiliges Vorgehen ist keineswegs als „Schwäche“ zu verbuchen. Natürlich gehört es zur professionellen Grundausstattung einer Erzieherin, in der Lage zu sein, sich sowohl empathisch einfühlen zu können, als auch ihre Vorgehensweise auf Elternabenden plausibel begründen zu können. Gehen die Anforderungen aber über das „Normalmaß“ hinaus, sind überhöhte und vor allem sehr umfassende Qualitätsansprüche an den Einzelnen bisweilen jedoch unmenschlich und oft auch wenig effektiv. Wenn alle alles können sollen, dann überlässt man den Talenteinsatz dem Zufall und vorhandene Ressourcen bleiben unter Umständen ungenutzt.
Talentorientierte Arbeitsteilung – wie geht das?
Zur talentorientierten Arbeitsteilung gibt es kaum eine sinnvolle Alternative. Allerdings ist dreierlei notwendig, um eine derartige Orientierung in einem Team zu verankern:
1: Die eigenen Talente und Stärken müssen erkannt und wertgeschätzt werden.
2: Die anstehenden Aufgaben müssen hinsichtlich der benötigten Talente analysiert werden. Daraus leitet sich ab, was zu tun ist und was gebraucht wird.
3: Die tatsächlich vorhandene Verteilung und Ausprägung von Talenten muss im gesamten Team anerkannt, geschätzt und genutzt werden.
Eine talentorientierte Aufgabenverteilung, die dem Wohl des Einzelnen und der Leistungssteigerung der Einrichtung dient, gelingt folglich nur, wenn alle drei Faktoren gleichermaßen berücksichtigt werden.
Sie sind Ihr bester „Stärkefinder“
Eine mögliche Herangehensweise in Richtung Talentorientierung ist es, sich seiner eigenen Talente bewusst zu werden. Aber was genau ist ein Talent? Eine besondere Begabung, eine Stärke? In einer Veröffentlichung zum Thema Stärken und Talente beruft sich Howard Gardner3 auf die „10 Intelligenzen“, die mit einem herkömmlichen Talentbegriff gut zu vereinen sind. Dort finden sich beispielsweise Hinweise auf musische oder logisch-mathematische Begabungen. Unabhängig von derartigen Auflistungen lohnt es, sich selbst auf die Suche nach seinen Talenten und Stärken zu machen und den Blick über den umgangssprachlich verankerten Talentbegriff hinaus zu weiten. Errungene Erfolge, Anstrengungsbereitschaft, Motivation und schnelle Auffassungsgabe können Hinweise auf Talente liefern. Da Talente als stabile Persönlichkeitsmerkmale anzusehen sind, hinterlassen sie im Laufe des Lebens viele Spuren - man muss sie „nur“ entdecken.
Eine weitere Möglichkeit besteht im Rückblick in die eigene Kindheit: Welche Tätigkeiten machten Ihnen als Kind besonders viel Freude? Listen Sie solche aus Ihrer Erinnerung auf und versuchen Sie, Ähnlichkeiten zu erkennen. Wo waren Sie besonders erfolgreich, ohne dass es viel Mühe kostete? Wo hatten Sie vielleicht überraschend schnelle Fortschritte zu verzeichnen?
Vergleichen Sie Ihre Erkenntnisse mit Ihren heutigen Vorlieben - nicht nur den beruflichen! Bei welchen Tätigkeiten verlieren Sie das Gefühl für Zeit und Raum? Macht es Ihnen beispielsweise Spaß, Theorien zu wälzen, freuen Sie sich daran, Dinge bis zur Perfektion zu bringen, gelingt es Ihnen, Struktur in ein Chaos zu bringen? Wofür können Sie sich leidenschaftlich einsetzen oder begeistern?
Achten Sie besonders auf Rückmeldungen von Kolleginnen oder Freunden. Wofür bekommen Sie immer wieder positives Feedback oder werden sogar bewundert? Eventuell haben Sie auch Fähigkeiten, die Sie zurückhalten, Bereiche, in denen Sie das Gefühl haben, ständig mit angezogener Handbremse zu fahren, um sich nicht aus dem allgemeinen Niveau herauszuheben. Beobachten Sie sich selbst und die Reaktionen aus Ihrer Umgebung genau.
Stehen Sie zu Ihren Begabungen
Unter Umständen sind aber bei der Suche nach den eigenen Stärken auch Schwierigkeiten zu überwinden, denn oft wird eher an den Schwächen gearbeitet. Das selbstbewusste Ausdrücken eigener Stärken wird schon mal mit Angeberei verbunden und durch persönliche Erfolge aus der Masse herauszuragen, trifft nicht immer auf die Zustimmung der anderen. Dies kann dazu führen, dass die eigene Stärke zurückgehalten oder sogar vollständig ausgeblendet wird. Entdecken und benennen andere diese Stärke, wird sie heruntergespielt und abgewertet: „Nicht der Rede wert - das kann doch jeder.“ Während so der Zugang zu den eigenen Talenten ausgeblendet wird, werden die Talente der anderen sehr genau wahrgenommen. Eventuell stellt sich auch Neid ein: „Die glaubt wohl, dass sie alles besser kann.“ Die Bedeutung des fremden Talentes wird dabei unter Umständen heruntergespielt: „Das brauchen wir hier sowieso nicht“, oder die andere Person wird als Ganzes abgewertet. Es kann auch sein, dass gezielt nach Fehlern gesucht wird: „Bevor sie mit ihren Elterngesprächen immer so angibt, soll sie erst mal lernen …“. Wird hingegen der erfolgreichen Kollegin nachgeeifert, unterstützt der vermutlich geringere Erfolg eine erneute Abwertung der eigenen Person. Andererseits kann es auch sein, dass eine zu große Bewunderung der erfolgreichen Kollegin das eigene Können infrage stellt und man sich dadurch selbst schwächt, wenn man sich nicht der eigenen Stärken vergewissert.
Unsere Talente sind uns oft so vertraut, dass es nicht einfach ist, sie bewusst wahrzunehmen. Wodurch also zeichnet sich eine Stärke oder ein Talent aus? Buckingham4 nutzt zur Verdeutlichung die Abkürzung SIGN, was so viel bedeutet wie:
S = Spitzenleistung
Erfolge, bei denen das Talent im Spiel ist, sind wiederholbar. Man kann sich darauf verlassen, dass einem die Dinge gelingen.
I = Instinkt
Bestimmte Aufgaben ziehen einen magisch an. Auch Hindernisse halten einen nicht davon ab, die Aufgaben zu verfolgen, es gibt eine schier unstillbare Lust, sich in diesem Bereich noch zu verbessern.
G = Glücksgefühl
Regelmäßig stellt sich ein Flow-Gefühl ein. Auch Anstrengendes wird mit scheinbarer Leichtigkeit gemeistert, die Tätigkeit erfüllt einen mit Freude - das Ergebnis erst recht.
N = Notwenigkeit
Man übernimmt Aufgaben, von deren Richtigkeit man zutiefst überzeugt ist. Nach getaner Arbeit stellt sich neben der Erschöpfung eine tiefe Befriedigung ein. Es sind Aufgaben, bei denen Erfüllung gefunden werden kann.
Werden Sie ein talentorientiertes Team
Es ist wichtig, dass die im Team vorhandenen Talente wechselseitig für alle als Bereicherung anerkannt und wertgeschätzt werden. Insofern müssen talentorientierte Teams die Unterschiedlichkeit der persönlichen Stärken nicht nur dulden, sondern grundsätzlich als Gewinn betrachten. Erst das Achten der eigenen Stärke ermöglicht die Anerkennung fremder Talente.
Auf dieser Basis ist es möglich und sinnvoll, sich an eine talentorientierte Aufgabenverteilung zu wagen. Dazu wird eine Analyse der anstehenden Aufgaben insbesondere unter Talentgesichtspunkten notwendig sein. Leitungskräfte können zum Erfolg ihrer Teams beitragen, indem sie die Arbeitsgruppen auch unter Talentgesichtspunkten zusammenstellen - bunte Sträuße sind dabei Monokulturen vorzuziehen.
Das Bewusstsein von und die Wertschätzung gegenüber eigenen sowie fremden Talenten beruhigt Teams. Es gibt weniger Anlass, in Konkurrenz zu denken und zu handeln. Zur Teamkultur gehört es wie selbstverständlich, sich an eigenen und fremden Erfolgen gleichermaßen zu freuen, es entsteht ein lebendiger Austausch darüber, wie Talente eingesetzt und weiterentwickelt werden können. Zusätzlich werden sich Erfolge für das gesamte Team einstellen, die bei aller Anstrengung dennoch entspannt erreicht werden. Nicht zuletzt werden auch die Kinder von dieser Haltung profitieren. Der Grundsatz der Inklusion „Es ist normal, verschieden zu sein“ gilt in derartigen Teams nicht nur, wenn sich Hautfarbe oder intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit stark unterscheiden, sondern auch bei vergleichsweise geringeren Unterschieden, die sich durch unterschiedliche Talentausprägungen ergeben. Die Individualität des Einzelnen wird offen anerkannt und der Umgang mit Heterogenität wird den Kindern schließlich aktiv vorgelebt.
Stärken zu stärken und ressourcenorientiert zu arbeiten gehört im Bezug auf Kinder inzwischen zu einer anerkannten Grundhaltung. Diese gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn Erwachsene zum Modell dafür werden, wie persönliche Stärken entwickelt, eingesetzt und wechselseitig anerkannt werden können.