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Literacy-Centers sind Rollenspielbereiche, die unter einem bestimmten Thema stehen. Die Kinder orientieren sich an reellen Gegebenheiten und Rollenvorbildern, die sie im Vorfeld erkunden und beobachten. Die Rollenspielbereiche sind mit den dazugehörigen Schriftmaterialien ausgestattet. Ein besonderes Merkmal ist, dass pädagogische Fachkräfte oder Eltern sich in diesen Rollenspielbereichen als SpielpartnerInnen, z. B. Kundin, Lieferant, Beraterin etc. anbieten.
Wer schon einmal einen Dreijährigen gefragt hat, ob er seinen Namen schreiben kann, wird oftmals ein selbstsicheres „Ja“ als Antwort erhalten und anschließend mehrere Striche und Kringel als Beweis. Im Literacy-Center stehen Kindern eine Fülle von Schriftmaterialien wie z. B. Schreibmaschine oder PC, Stifte, Blätter, Quittungsblöcke, Zeitschriften, Formulare, Terminkalender etc. zur Verfügung, mit denen sie auf spielerische Weise zeigen können, was sie über die Funktion von Schrift schon wissen. In ihre Spielhandlungen nehmen sie ganz natürlich die schreibenden und lesenden Tätigkeiten auf und experimentieren mit Schriftsprache. Die Erarbeitung eines Literacy-Centers erfolgt nach den Prinzipien der ganzheitlichen Projektarbeit. Gemeinsam mit den Kindern erarbeiten sich die Fachkräfte „ein klar benanntes Thema, das einen Bezug zur Lebenswelt der Kinder hat und sie interessiert. Das Literacy-Center ist zeitlich begrenzt und unterstützt das zielorientierte, teamorientierte, reflektierte und exemplarische Lernen der Kinder“ (Reichert-Garschhammer und Kieferle 2011, S. 133).
Die Vorbereitung
Erster Schritt ist die Themenfindung. Fündig werden Erzieherinnen beispielsweise bei den Beobachtungen und Dokumentationen in den Portfolios. Gespräche mit den Kindern sowie Spielthemen, die die Kinder beschäftigen, können ebenfalls Anregungen für Literacy- Centers sein. Aktuelle Anlässe oder Projektthemen wie z. B. „Meine Familie und ich“ können dazu führen, dass aufgrund der unterschiedlichen Nationalitäten im Kindergarten ein Reisebüro oder das Restaurant „Café International“ als Literacy-Center eingerichtet wird oder der Bau eines Neubaugebiets zur Einrichtung eines „Architekturbüros“ führt. Im Vordergrund der Überlegungen zu einem Thema sollten jedoch stets der Lebensweltbezug und das Interesse der Kinder stehen.
Im zweiten Schritt werden die Eltern als Bildungspartner über das Thema des Projekts informiert. Möglicherweise befinden sich unter den Eltern Experten zum Thema und es besteht die Möglichkeit, diese als Bildungspartner zu gewinnen, indem der Arbeitsplatz besucht werden kann oder die Eltern im Kindergarten von ihrem Arbeitsplatz erzählen und falls machbar typische Geräte aus dem Arbeitsalltag mitbringen und zeigen. Durch sogenannte „Sprechende Wände“ in Form von Fotodokumentationen werden Eltern und andere Bezugspersonen über den Verlauf des Projekts informiert.
Im dritten Schritt wird zusammen mit den Kindern das Thema erforscht. Kinder und Erzieherinnen überlegen, was sie zum Thema wissen möchten und wie sie sich diese Informationen beschaffen können, z. B. durch die Recherche in verschiedenen Medien (Bücher, Internet), Befragen von Experten, Eltern etc. Die pädagogischen Fachkräfte planen gemeinsam mit den Kindern Ausflüge, um vor Ort das Berufsfeld eines Buchhändlers, einer Ärztin, Einzelhandelskauffrau etc. zu erkunden. Nach der Exkursion werden die notierten Fragen gemeinsam beantwortet.
Im vierten Schritt wird das Literacy-Center eingerichtet. Die pädagogischen Fachkräfte und die Kinder überlegen und sammeln gemeinsam auf Plakaten, welche Einrichtungsgegenstände sie für ihr Literacy-Center brauchen und wie sie diese beschaffen können. Manches kann über Eltern ausgeliehen werden, einiges ist in der Kindertageseinrichtung bereits vorhanden, anderes wird handwerklich selbst hergestellt. So entstehen für einen Friseursalon z. B. Faltblätter mit Preisen, Terminzettel, Preislisten, Frisurbücher, für ein Büro Briefmarken, Bestellformulare, Rechnungsvordrucke, für einen Blumenladen Blumen (z. B. aus Filz, Pappe, Krepppapier) sowie Schilder für verschiedene Blumensorten.
Die Durchführung
Schritt fünf besteht aus dem Herzstück des Literacy-Centers: dem Rollenspiel. Kinder übernehmen im Rollenspiel die Perspektiven der Rollenträger sowie deren spezielles Sprachhandeln. Dies erfordert ein hohes Maß an kognitiven Leistungen, sprachlichen Fähigkeiten und Selbstregulation. Im Rollenspiel finden zwischen den Kindern Interaktionsprozesse und ko-konstruktive Prozesse statt. Sie machen miteinander Spielhandlungen aus („Du musst das jetzt aufschreiben“, „Kannst du mich anrufen und was bestellen?“), sie reden über ihr Spiel und geben Gegenständen eine andere Bedeutung (ein Stock wird zum Handy). Die Kindern probieren neue Verhaltensweisen aus und nutzen den geschützten Rahmen.
Die Reflexion
Zum Abschluss und während des gesamten Projekts sollten das Rollenspiel und die gemeinsamen Prozesse mit den Kindern reflektiert werden. Hier können verschiedene Verhaltensweisen und ‚Rollen‘ besprochen werden. Es können weitere Ideen und Spielhandlungen entworfen, aufgenommen und es kann überlegt werden, welches Material dafür benötigt wird. Durch Fotoma terialien und/oder Videoaufzeichnungen sowie den entstandenen Schriftmaterialien können am Ende des Projekts Reflexionsprozesse mit den Kindern angestoßen werden. Dadurch werden den Kindern ihre Lern- und Entwicklungsprozesse bewusst und sichtbar (vgl. Fthenakis u.a. 2009, Reichert-Garschhammer, Kieferle 2011).
Während der Planung, Durchführung und Gestaltung des Literacy- Centers erfahren die Kinder vielfältige Gelegenheiten der Partizipation sowie der Entscheidungsfindung. Doch das Rollenspiel gibt nicht nur Kindern Lerngelegenheiten. Indem sich pädagogische Fachkräfte oder Eltern am Rollenspiel beteiligen, werten sie das Spiel auf. Sie übernehmen verschiedene Rollen und beeinflussen das Spiel als Mitspielerin oder Spieltutorin unterschiedlich stark. Am geeignetsten ist die Rolle der Mitspielerin, da die Kontrolle über das Rollenspiel hier in den Händen der Kinder bleibt und sie der pädagogischen Fachkraft eine Rolle zuweisen sowie ihr Handlungsmöglichkeiten vorgeben können. Die Rolle der Spieltutorin sollte nur dann eingenommen werden, wenn die pädagogischen Fachkräfte durch Beobachtungen feststellen, dass das Rollenspiel der Kinder stagniert, sie neue Spielideen oder Rollen einbringen wollen und den Kindern damit auch Handlungsvorschläge für ihre Rolle geben möchten. Die pädagogische Fachkraft sollte darauf achten, sensibel mit ihrer Rolle umzugehen und den Kindern die Kontrolle über das Spiel zu geben. Beide Rollen eignen sich, um neue Verhaltensweisen und Schrifthandlungen einzubringen und den Wortschatz der Kinder zu erweitern. Studien belegen, dass die Lese- und Schreibaktivitäten der Kinder durch Literacy-Center-Rollenspielbereiche verstärkt werden, sie ein höheres Wissen über die Funktionen von Schriftmaterialien erhalten und ihren Wortschatz erheblich erweitern. Wesentlich ist jedoch auch, dass diese Herangehensweise an Literacy-Erziehung Kindern und pädagogischen Fachkräften vielerlei Gelegenheiten ermöglicht, mit- und voneinander zu lernen sowie gemeinsam im Sinne der Ko-Konstruktion aktiv zu werden und Lern- und Bildungsprozesse zu initiieren (vgl. Morrow 1990, Roskos und Neumann 1994).