Beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule erleben Kinder einen strukturellen Zustandswechsel vom Kindergarten- zum Schulkind (vgl. Carle; Samuel, 2007). Das Kind wird dabei mit neuen Ansprüchen und Anforderungen konfrontiert, außerdem ändern sich innere Einstellungen, da es sich an die Kultur der Schule anpasst (vgl. von Bülow, 2011). Wie erfolgreich Kinder diese Herausforderungen meistern, hängt sowohl von den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als auch von den vorschulischen Erfahrungen ab. Damit der Wechsel nicht als Bruch erlebt und das Kind in seiner Bildungsbiografie belastet wird, fordern Politik und Wissenschaft Anschlussfähigkeit zwischen beiden Institutionen und Kontinuität in der pädagogischen Arbeit. In diesem Kontext wurden in den letzten Jahren Initiativen und Modellprojekte mit unterschiedlichen Zielsetzungen ins Leben gerufen. Zum einen gibt es Initiativen, die den Bildungsraum Kindergarten beispielsweise über die Einführung von Bildungsplänen stärken oder die Schuleingangsphase immer mehr flexibilisieren wollen (z. B. durch mehrere Einschulungszeitpunkte, flexible Verweildauer in den Eingangsklassen und jahrgangsgemischten Anfangsunterricht). Zum anderen gibt es Projekte zur Förderung der Kooperation zwischen Fachkräften oder zur domänenspezifischen Förderung der Kinder.
Die bruchlose Bildungsbiografie
Im baden-württembergischen Modellprojekt „Bildungshaus 3 – 10“ arbeiten Kindergärten und Grundschulen zusammen und verzahnen ihre pädagogische Arbeit. Ein Ziel des Projekts ist die Realisierung einer „bruchlosen Bildungsbiografie“ (vgl. Ministerium für Kultus Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2007). Damit sind unterschiedliche Erwartungshaltungen wie z. B. die Vermeidung von Rückstellungen von Kindern im Einschulungsprozess oder die Flexibilisierung der Schuleingangsstufe verknüpft. Im Modellprojekt steht das Erleben des einzelnen Kindes im Zentrum, das den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule nicht als Bruch, sondern als Kontinuum erleben soll. Unter Kontinuum ist allerdings keine Vereinheitlichung zu verstehen, denn gerade die Unterschiedlichkeit der Fachkräfte in Kita und Schule kann positiv auf die Herstellung von Kontinuität wirken: „Kontinuität beim Übergang von der Tageseinrichtung in die Schule kann gerade dadurch gefördert werden, dass die Fachkräfte beider Einrichtungen die unterschiedlichen Wege des Lernens der Kinder unterstützen und anregen und damit dem Prinzip der Entwicklungsangemessenheit in dem Sinne gerecht werden, dass sie die Kinder weder überfordern noch unterfordern“ (Liegle, 2011, S. 167).
Individuelle Förderung ermöglichen
Kinder im gleichen Alter unterscheiden sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebensumstände, genetischen Veranlagung etc. in ihrer Entwicklung stark voneinander. Um dem Prinzip der Entwicklungsangemessenheit gerecht zu werden, ist es für Kindergarten und Grundschule von zentraler Bedeutung, Kinder mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Blick zu nehmen. Die Beobachtung der Lern- und Bildungsprozesse und deren systematische Dokumentation sollen eine individuelle Förderung ermöglichen, die der Heterogenität der Kinder stärker Rechnung trägt. Im Kindergarten existieren bereits vielfältige erprobte Materialien und Instrumente, die verschiedene Ziele verfolgen: beispielsweise eine ganzheitliche Entwicklungsbeobachtung (Entwicklungstabelle nach Beller) oder die Entdeckung der Themen eines Kindes (z. B. Bildungs- und Lerngeschichten). Einige Kindergartenkonzepte, wie das infans-Konzept, beinhalten eine komplexe Zusammenstellung von Beobachtungsbögen, die Basis der pädagogischen Arbeit sind. In der Grundschule konzentriert sich die Beobachtung und Dokumentation stärker auf die Entwicklung im kognitiven Bereich und die Leistungsmessung. Bislang ist für die individuelle Beobachtung und Dokumentation wenig Material vorhanden, sodass Lehrkräfte oft auf selbst entwickelte Instrumente zurückgreifen. Mittlerweile gibt es in einzelnen Bereichen aber auch Konzepte zur Portfolio-Arbeit (Winter, 2007) und zur Beobachtung und Dokumentation in offen gestalteten Unterrichtsformen (Hagener, 2007). Beide Institutionen verfolgen mit ihren Ansätzen unterschiedliche Ziele: Während im Kindergarten die Interessen und Themen des Kindes und die Konzentration auf Stärken im Vordergrund stehen, nehmen in der Schule die Leistungs- und Entwicklungsstände und das Feststellen von Defiziten einen höheren Stellenwert ein. Diese Unterschiede sind jedoch graduell; grundlegend ist das gemeinsame Ziel, Kinder auf der Basis individueller Beobachtungen in ihren Bildungsprozessen zu begleiten und zu unterstützen. In der engen Zusammenarbeit der Einrichtungen kann dies noch gezielter geschehen. Allerdings muss neben den inhaltlichen Unterschieden auch beachtet werden, dass beide Institutionen auf Systemebene verschieden sind, was sich z. B. in den zeitlichen Strukturen, den Räumlichkeiten, dem gesellschaftlichen Auftrag, der Ausbildung und dem beruflichem Selbstverständnis der pädagogischen Fachkräfte zeigt.
Kooperation
Die Modellstandorte im „Bildungshaus 3 – 10“ haben den Auftrag, gemeinsame Beobachtungs- und Dokumentationskonzepte zu entwickeln, die sich sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule einsetzen lassen. Wie diese aussehen, ist davon abhängig, wie eng die Einrichtungen miteinander kooperieren. Es gibt Standorte, die einmal pro Woche gemeinsam arbeiten, aber auch Einrichtungen, in denen die Kinder täglich zusammenkommen. Außerdem spielt eine Rolle, welche Ziele mit dem Modellprojekt verfolgt werden: ein Konzept, das vor allem schwächere Kinder in den Blick nimmt und in ihrer Schulfähigkeit fördert, erfordert eine andere Form der Beobachtung als Konzepte, die eine ganzheitliche Förderung und Öffnung der pädagogischen Arbeit anstreben. Im Folgenden wird beispielhaft das Konzept des Modellstandorts Arnach/ Bad Wurzach vorgestellt. Hier wird seit einiger Zeit ein ausgearbeitetes Beobachtungs- und Dokumentationskonzept eingesetzt.
Kinder entwickeln sich im Miteinander
Die Grundschule und der städtische Kindergarten Arnach bilden das Bildungshaus KeiM „Kinder entwickeln sich im Miteinander“. Seit 2006 verzahnen beide Einrichtungen ihre pädagogische Arbeit: Von Montag bis Donnerstag spielen und lernen Kindergarten- und Schulkinder in der sogenannten KeiM-Zeit, zwischen 10.00 und 12.00 Uhr, in gemeinsamen Angeboten. In dieser Zeit finden Wahlangebote statt, die von den Zwei- bis Zehnjährigen besucht werden. Dabei wird an einem gemeinsamen Oberthema gearbeitet, mit dem sich die Kinder in unterschiedlichen Bereichen (z. B. Kunst, Musik, Natur- und Sachwissen, Technik, Textiles Werken, Religion, Sport und Spiel) auseinandersetzen können. Während die Zweijährigen die Wahlangebote eher punktuell nutzen (z. B. beim Experimentieren mitmachen, dann aber wieder ins Freispiel gehen), nehmen Kinder ab vier Jahren regulär teil. Die Angebote sind immer jahrgangsgemischt, aber unterschiedlich strukturiert, sodass einige für alle Altersbereiche zugänglich sind, andere sich besonders für jüngere oder ältere Kinder eignen. Die Auswahl des Kindes wird von seiner Bezugserzieherin bzw. Klassenlehrkraft begleitet. Bei der Gestaltung der Angebote, die gemeinsam von Erzieherinnen und Lehrkräften vorbereitet und durchgeführt werden, wird auf projektartiges Lernen und Methoden des offenen Arbeitens Wert gelegt. Diese methodischen Gesichtspunkte spielen in der getrennten Zeit ebenfalls eine große Rolle. Ein wesentliches Moment der Arbeit im Kindergarten ist das Freispiel, während in der Grundschule vor allem nach dem Konzept der Freien Stillarbeit in den Kernfächern Mathematik und Deutsch gearbeitet wird.
Beobachtung
Wenn Kinder den ganzen Vormittag über sehr offen und selbstbestimmt arbeiten, spielen und lernen, dazu Wahlmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen wahrnehmen können, in denen sie nicht von ihrer Bezugserzieherin oder Klassenlehrkraft begleitet werden, sondern mit weiteren pädagogischen Fachkräften zusammenkommen, ist ein gutes Beobachtungs- und Dokumentationskonzept unerlässlich. Um dieses institutionsübergreifend realisieren zu können, muss der Datenschutz bedacht werden. Bereits bei der Anmeldung im Kindergarten werden die Eltern über die enge Zusammenarbeit mit der Schule informiert und unterzeichnen eine Einwilligungserklärung, in der sie dem Austausch über das Kind zwischen beiden Einrichtungen zustimmen.
Jede Klassenlehrkraft und Gruppenleitung beobachtet die Kinder ihrer Klasse oder Gruppe individuell. In der KeiM-Zeit werden die Kinder ab vier Jahren zusätzlich von allen Lernbegleitern, das sind alle Erzieherinnen und Lehrkräfte, die im Bildungshaus mitarbeiten, beobachtet. Mithilfe von Rückmeldebögen können die Lernbegleiter die Gruppenleitungen oder Klassenlehrkräfte über Besonderheiten informieren. Außerdem finden regelmäßige Austauschrunden über Kinder statt. Die Vorschulkinder werden noch einmal gezielt von einer Lehrkraft und einer Erzieherin beobachtet, wenn sie an der Freien Stillarbeit teilnehmen. Diese Beobachtungen werden schriftlich festgehalten.
Das Logbuch als alltägliche Dokumentationsform
Jedes Kind ab vier Jahren führt ein Logbuch. Darin nimmt sich das Kind für die kommende Woche Ziele aus dem Orientierungs- bzw. Bildungsplan vor und dokumentiert diese. Für alle Kindergartenkinder wurden von den Erzieherinnen konkrete Ziele aus dem Orientierungsplan formuliert und festgehalten. Die Kinder zwischen vier und sechs Jahren entscheiden nach Absprache mit der Fachkraft, welche Ziele sie nacheinander erreichen wollen und dokumentieren diese im Logbuch. Die Lernbegleiter lenken und unterstützen diesen Prozess. Die Kinder bekommen von den Eltern und den Lernbegleitern wöchentlich eine schriftliche, positive Rückmeldung im Logbuch. Für alle Grundschulkinder sind Ziele für Deutsch und Mathematik in Form von Checklisten formuliert. Im ersten Schuljahr werden die Listen von der Lehrkraft geführt. Ab dem zweiten Schuljahr befinden sie sich im Logbuch und die Kinder entscheiden nach Absprache mit der Lehrkraft, welche Ziele sie bearbeiten. Freitags bespricht die Klassenlehrkraft mit jedem Kind die Ziele der vergangenen und nächsten Schulwoche. Dabei wird der individuelle Lernstand reflektiert. Das Kind erhält eine Rückmeldung über sein Arbeitsverhalten und seinen Lernfortschritt.
Das Portfolio als besondere Dokumentationsform
Im Portfolio werden für die Kinder bedeutsame Arbeiten und Leistungsnachweise gesammelt. Im Kindergarten werden alle Arbeiten der Kinder aus den Angeboten gesammelt, damit die Kinder diese präsent haben, wenn sie später in der Schule Themen wieder aufgreifen und vertiefen. In der Schule entscheiden die Kinder selbst, welche Arbeiten sie im Portfolio archivieren möchten. Für Eltern, Lernbegleiter und Kinder wird darin im Laufe der Jahre der Lernfortschritt dokumentiert.
Herausforderungen
Die Zusammenarbeit im Bildungshaus KeiM in Arnach/Bad Wurzach ist das Ergebnis eines über sechs Jahre gewachsenen Prozesses. Auch wenn das grundlegende Ziel von Beobachtung und Dokumentation in Grundschule und Kindergarten gleich ist, erfordert die Erarbeitung eines gemeinsamen, inhaltlich und organisatorisch geeigneten Beobachtungs- und Dokumentationskonzepts Aushandlungsprozesse, insbesondere über die konkreten Ziele, die mit der Beobachtung erreicht werden sollen. Das Feststellen von Entwicklungsständen und Förderbedarfen, das Erkennen von Interessen und Themen der Kinder und die Schaffung einer Grundlage für Elterngespräche und -beratung sind z. B. Ziele, die in Kita und Grundschule unterschiedlich intensiv verfolgt werden können. Dennoch spielen alle drei in beiden Institutionen eine wichtige Rolle. Bei den kooperierenden Einrichtungen muss zunächst vor allem der Wunsch vorhanden sein, eine gemeinsame Lösung zu finden und Zeit, um die nicht immer einfachen Aushandlungsprozesse zu gestalten. Diese beziehen sich sowohl auf die unterschiedlichen Vorstellungen vom Bild des Kindes und seiner Bildungsprozesse sowie auf die Rolle der Fachkräfte und die gegenseitigen Erwartungen. Bei den Modellstandorten fällt jedoch auf, dass die Unterschiedlichkeit der Einrichtungen auch als Bereicherung erlebt wird. Gefördert werden kann die Zusammenarbeit durch eine intensive Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Institution, die z. B. durch gegenseitige Hospitationen erleichtert werden kann. Unerlässlich ist, dass sich alle Beteiligten darauf einlassen, ein neues und unbekanntes Terrain zu betreten. Nur wenn Reflexionsprozesse über das eigene pädagogische Handeln und ein Austausch über die beruflichen Grundorientierungen stattfinden, kann eine enge Zusammenarbeit gelingen. Ein zentrales Moment dafür sind gegenseitige Wertschätzung und ein respektvoller Umgang. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und der Differenzen zwischen den pädagogischen Fachkräften in Bezug auf ihre Ausbildung, Bezahlung und den beruflichen Status entstehen diese Umgangsformen nicht automatisch, sondern müssen sich erst entwickeln.
Resümee
Beide Einrichtungen erleben in der eng verzahnten pädagogischen Arbeit eine Bereicherung. Die Entwicklungsstände der Kinder können zuverlässig erfasst, Förderbedarfe früh festgestellt und individualisierte Bildungsprozesse realisiert werden. Nicht zuletzt können die Eltern von Fachkräften beider Institutionen kompetent beraten werden, sodass die Zusammenarbeit mit den Eltern an Qualität gewinnt. Den Übergang in die Grundschule erleben die Kinder gleitend und positiv.