Redaktion kindergarten heute: Mit Ihrer neuen Publikation wenden Sie sich den Übervierjährigen in der Kita zu. Aus welchen Gründen halten Sie es für wichtig und notwendig, diese Altersgruppe gesondert in den Blick zu nehmen?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt unserer Forschungstätigkeit und auch unserer Beratungsaktivitäten im Bereich der Kinder unter drei. Das Thema war für alle Einrichtungen und Träger von großer Bedeutung. Wir stellten fest, dass die unter Dreijährigen in engagierten Einrichtungen sehr gut angekommen sind und dass sie, wenn sie vier werden, mehr zu tun und zu denken erwarten als die uns bislang „bekannten“ Vierjährigen, die traditionell mit drei oder gar sechs Jahren in Einrichtungen kamen. Diese neuen Vierjährigen brauchen vielfältige Eroberungsfelder und eine zugewandte Beantwortung ihre Themen und Fragen betreffend. Das war auch der Grund, weshalb wir mit der Frühpädagogin Sybille Fischer immer wieder ins Gespräch über diese Altersgruppe gekommen waren.
Dr. Joachim Bensel: Auch in Diskussionen mit Fachkräften wird immer wieder deutlich: Gerade in altersgemischten Gruppen taucht das Problem auf, dass sich die Fachkräfte intensiv den „Startkindern“ unter drei zuwenden und dann das Gefühl haben, die älteren Kinder aus dem Blick zu verlieren. Deshalb muss unser Aufmerksamkeitsfokus wieder verstärkt auf die Vier-, Fünf- und Sechsjährigen gerichtet sein. Vor allem die Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sollen - trotz der vielen Kleinen - bis zum Schuleintritt die nötigen Voraussetzungen haben, um in der Schule zurechtzukommen. Wichtig ist uns dabei, den Fokus nicht auf die Schulvorbereitung im klassischen Sinne zu richten, bei der man den Erwerb von Vorläuferfähigkeiten im Blick hat, stattdessen geht es für die Kinder zum Beispiel darum, sich in der Gruppe zurechtzufinden, also um soziale und emotionale Aspekte. Aus der NUBBEK-Studie wissen wir, dass gerade Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund relativ spät, also mit drei oder vier Jahren, in die Einrichtungen kommen. Gerade für diese Kinder ist es wichtig, dass sie Bildungsgerechtigkeit erfahren und Zugang zu vielfältigen Bildungsaspekten haben.
Was ist „neu“ an den Übervierjährigen?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Früher galten die Kinder kurz nach dem vierten Geburtstag als die „Kinder im Jahr nach der Eingewöhnung“. Nach diesem Verständnis wurden die Drei- oder Dreieinhalbjährigen als „Eingewöhnungskinder“ angesehen. Man hat sich um ihr Ankommen gekümmert, dazu gehörte zum Beispiel, wie ihnen das Abschiednehmen von den Eltern gelingt, wie sie sich in die Gruppe integrieren usw. Erst nach dem vierten Geburtstag - meist dem ersten Geburtstag in der Einrichtung - begann man, die Kinder in ihrer kognitiven, motorischen und sozialen Entwicklung zu fördern. Deshalb sind die heutigen „Ü-Viers“ anders. Auch durch das Zusammensein mit vielen Kindern aus Familien mit anderen Lebensformen oder aus anderen Ländern ist ihre Gruppe heterogener geworden.
Welches sind die Entwicklungsthemen der Vier- bis Sechsjährigen und mit welchen speziellen Herausforderungen sind diese Kinder in der Kita konfrontiert?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Die Sozialkompetenz ist ein zentraler Entwicklungsbereich der Vier- bis Sechsjährigen in einer Kindergruppe. Es geht darum, einen Platz in der Gruppe zu finden und sich dort zu bewähren. Weitere wichtige Themen sind Selbstwirksamkeit und Partizipationserfahrungen. Auf verschiedenen Entwicklungsebenen tut sich gleichzeitig etwas. Die Kinder fangen an, bewusst zu überlegen. Jedes Kind weiß jetzt: Ich kann auf Erfahrungen zurückgreifen, die ich gemacht habe, und muss nicht alles wiederholen, also identisch machen, sondern mir überlegen, wie könnte es besser klappen. „Letztes Mal ist es so nicht gut gegangen, das mache ich jetzt anders. Und zwar vielleicht so …“ Die Kinder nehmen Informationen auf, die sie von Erwachsenen bekommen oder von anderen Kindern übernommen haben. Diese Informationen halten sie sprachlich fest und integrieren sie in ihr Tun und in ihre Planungen. Auch im Bereich der Grob- und Feinmotorik passieren wichtige Entwicklungsschritte. Bewegungsabläufe werden verfeinert: Ich kann nicht nur laufen und rennen, ich kann jetzt auch schon rückwärtsgehen, hüpfen, balancieren, im schnellen Lauf Kurven machen, abrupt abstoppen, ausweichen. Ganz genauso wie ich jetzt auch anfange - wenn ich das darf -, mich mit unterschiedlichen Werkzeugen immer mehr vertraut zu machen. Fertigkeiten werden erworben. Die Kinder lernen außerdem, ihre Handlungen zu planen und sie entwickeln erste Zeitvorstellung: „Wenn ich das so machen möchte, dann muss ich zuerst das und dann jenes machen. Und an das muss ich auch denken!“ Die emotionale Entwicklung ist ein weiteres wichtiges Thema. Die Vierjährigen haben schon Grundfähigkeiten für Emotionsäußerungen, -wahrnehmung und deren Differenzierung erworben. Sie sind empathisch, können zwischen ihrem Empfinden und den Gefühlen der anderen differenzieren, auch wenn sie diese noch nicht korrekt benennen können. Die kognitive Perspektivenübernahme nimmt ebenfalls zu. Die Kinder sind jetzt in dem Alter, in dem sie wissen, dass eine Person sich unerwartet verhält, weil ihr nötige Informationen fehlen. Mit fünf und sechs folgern sie, dass dies daran liegt, dass die anderen von einer anderen Ausgangssituation ausgehen, weil sie beim wichtigen Ereignis nicht dabei waren.
Dr. Joachim Bensel: Insgesamt betrachtet entwickeln sich die sozialen und emotionalen Fähigkeiten in diesem Alter gewaltig. Die Kinder können sich nun besser aufeinander abstimmen, sie spielen in größeren Gruppen länger zusammen, sprechen viel miteinander, planen gemeinsam, wie ein Spiel verlaufen soll, wer welche Rolle einnimmt und wer was wann sagen soll. Dieses intensivere Sozialspiel führt auch dazu, dass es zu Konflikten kommt, da es um die große Frage geht: „Wie schaffe ich es, mich selbst zu regulieren, wie schaffe ich es aber auch in Konfliktszenen, Lösungen zu finden, mit denen dann alle weitermachen können?“ Hierbei sind die Fachkräfte in ihrer Rolle als kompetente Begleitung stark gefragt.
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Konflikte gibt es auch in jüngeren Kindergruppen. Der Unterschied ist, wie die über Vierjährigen mit Konflikten umgehen und wie sie den Tathergang besprechen. Es bleibt nicht bei: „Das ist böse und das ist lieb gewesen“ oder „Der ist schuld, ich nicht“. Mit Unterstützung der Fachkräfte überlegen die Übervierjährigen immer differenzierter: „Was wollen wir? Wenn wir weiter miteinander spielen wollen, dann müssen wir gemeinsam diese Hürde aus dem Weg räumen“.
In Ihrer Publikation nennen Sie sechs Kompetenzbereiche, an denen sich pädagogische Fachkräfte bei der Begleitung und Förderung der vier- bis sechsjährigen Kinder orientieren können. Welche Erkenntnisse und Erfahrungen liegen dieser Auswahl zugrunde?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Die Grundstruktur der Auswahl ist von den Ergebnissen der internationalen Resilienz- und Entwicklungsforschung abgeleitet und den von der WHO (World Health Organisation - Weltgesundheitsorganisation) formulierten Lebenskompetenzen angenähert. Primär haben wir uns dabei diese Frage gestellt: Was bedeuten diese Kompetenzbereiche für das Kind, welche Fähigkeiten erwirbt es jetzt, im Alter von vier bis sechs Jahren, worauf richtet es selbst seinen Fokus? Es ist aber nicht so gedacht, dass alle Kinder genau diese Kompetenzen in diesem Zeitraum entwickeln und präsentieren müssen. Am Beispiel des ersten Bereichs lässt es sich gut erklären: Es geht um Beziehungsfähigkeit, emotional-soziale Kompetenz und um Solidarität. In Beobachtungen und auch in den vielen wissenschaftlichen Arbeiten wird deutlich, dass sich am Aktionsfeld dieser Kinder, an ihren Reaktionsmustern und auch an ihren Interessen einiges deutlich verändert: Das Beziehungsgeschehen mit anderen spielt für das Kind eine zunehmend größere Rolle und es wird ihm immer wichtiger, Beziehungen zu haben. Dafür braucht es spezielle Kompetenzen. Die von uns gewählte Struktur spiegelt wider, wofür sich die vier- bis sechsjährigen Kinder zu interessieren beginnen und welche Begleitung sie hierbei brauchen. Die Kinder präsentieren ihre Themen. Wenn ein Kind etwas absichtsvoll plant, geht es hierbei um zu stärkende Eigenmotivation. Diese wird zum Beispiel im zweiten Kompetenzbereich beschrieben. Die Eigenmotivation ist wiederum verknüpft mit der Selbstwahrnehmung, hoffentlich auch mit Selbstreflektion und Selbstwirksamkeit. Wenn es also etwas ganz Großes in Angriff nimmt, gilt es, Erfahrungsmöglichkeiten zu schaffen und mögliche Kooperationspartner zusammenzubringen, damit die Kinder untereinander verschiedene Strategien abschauen und ihre eignen weiterentwickeln können. Kommt es zu Störungen und Verlustgefühlen braucht es professionelle Unterstützung.
Dr. Joachim Bensel: Ich möchte hervorheben, warum unsere Auswahl bewusst von anderen Veröffentlichungen, die sich mit den Kompetenzen von Kindern in den letzten Jahren vor der Schule beschäftigen, abweicht. In unserer Publikation finden Sie keine klassische Einteilung von Kompetenzen, die als Vorläuferfähigkeiten für den Schulbereich angesehen werden. Mit Vorläuferfähigkeiten sind zum Beispiel erste mathematische Fähigkeiten oder der Einstieg ins Schreiben gemeint. Schrift und Zahlen spielen bei uns zwar auch eine große Rolle, aber in einem anderen Kontext. Es geht uns oft nicht darum, die Kinder möglichst gut auf die Schule vorzubereiten. Der Grund ist, dass wir inzwischen wissen, dass die „social life skills“, also die sozialen Lebenskompetenzen, entscheidend dafür sind, wie Kinder in ihrem späteren Leben zurechtkommen, wie ihre Entwicklung im späteren Leben verläuft, wie sie mit sich selbst und anderen kooperieren, letztendlich auch, wie sie den Übergang in die Schule meistern und dort zurechtkommen. Entscheidend für den Schulerfolg ist nicht die kognitive Kompetenz. Entscheidend ist, ob Kinder die Motivation aufbringen, dem Unterricht zu folgen, sich auf Inhalte einzulassen und wie sie mit den anderen Kindern und den Lehrpersonen zurechtkommen. Und dafür sind viele Fähigkeiten, die in der Mappe behandelt werden, entscheidend: Stressbewältigung, Selbstregulation, Beziehungsfähigkeit, Erfahrungshunger und Denkfreude. Die Kitas wollen den Kindern etwas fürs Leben mitgeben. Vorschulpädagogik ist ein Begriff, den man nicht mehr verwenden sollte. Die Elementar- oder Frühpädagogik hat eine eigene Wertigkeit und Wichtigkeit, sie muss sich positionieren, denn die frühen Jahre sind aus neurophysiologischer Sicht die prägenden Jahre.
Könnten Sie noch etwas zur Kombination der Entwicklungsthemen sagen?
Dr. Joachim Bensel: Wenn ich zum Beispiel die Beziehungsfähigkeit, die sozial-emotionale Kompetenz und die Solidarität betrachte, dann sind diese sich inhaltlich nahe, verbinden sich. Um beziehungsfähig zu sein braucht ein Kind sozial-emotionale Kompetenz. Eigenmotivation, Selbstinteresse und Gefühlsregulation haben viel damit zu tun: „Wie sehe ich mich, wie fühle ich mich, wie kann ich mich zu etwas motivieren?“. Im darauffolgenden Bereich geht es eher um Körper, Bewegung und Ernährung und wie gehe ich mit Stress um? Die einzelnen Aspekte eines Lebenskompetenzbereichs sind eng miteinander verbunden.
Wie können Fachkräfte die Sammelmappe nutzen?
Dr. Joachim Bensel: Es wird fortlaufend thematische Ergänzungslieferungen zu unterschiedlichen Schwerpunkten geben, die vielfältig genutzt werden können. Ein Team entscheidet selbst, wann es welche thematischen Ergänzungen für die pädagogische Arbeit mit den Kindern heranziehen möchte. „Ist es das Thema Vielfalt, Respekt und Verantwortungsübernahme, das bei unseren Kindern aktuell ist beziehungsweise für das wir den Kindern bisher wenig geboten haben?“ Das setzt natürlich ein kompetentes Team und eine kompetente Leitung voraus, die aufgrund ausgewerteter Beobachtungen, interner oder externer Evaluationen und Reflexionen zu dem Punkt gekommen sind, wo sie bei sich eine pädagogische Lücke sehen oder neues Futter brauchen.
Die Altersspanne vier bis sechs Jahre ist relativ groß und entsprechend heterogen ist die Zusammensetzung der Kinder. Welchen konzeptionellen und strukturellen Rahmen benötigt die individuelle und entwicklungsadäquate Begleitung dieser Kinder?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Bei unseren Beobachtungen stellen wir immer wieder fest, dass es die strukturellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen sind, die den Ausschlag geben, ob die Pädagogik die Fragen, Themen und Interessen der Kinder beantworten kann. Beispiele hoher Prozessqualität finden sich zum Beispiel in INFANS-Einrichtungen, die Heterogenität der Kindergruppen professionell entgegenkommen. Dieses und andere gute pädagogische Konzepte, die eine Öffnung vorsehen und in denen gruppenübergreifend gearbeitet wird, sind gute Voraussetzungen für das Gelingen einer entwicklungsadäquaten Begleitung aller Kinder. Wichtig ist dabei, dass sich das Team wirklich als Team versteht und dass es unter den Teammitgliedern Spezialisten und Spezialistinnen geben darf, die ihr jeweiliges Expertenwissen einbringen. So wird profunde Diversität gelebt, im Team und mit den Kindern. Wenn alle das Gleiche machen, wenn alle die gleichen Räumlichkeiten haben, wenn in jedem Raum die gleichen Bilderbücher und das gleiche Material in jeder Bauecke zu finden ist, dann ist es schwer, ja unmöglich, den Kindern Vielfalt und echte Anreize zum Weiterdenken und Wachsen zu bieten. Ein variationsreiches Angebot mit Vertiefungsmöglichkeit sehen wir in Einrichtungen, die gruppenübergreifend arbeiten und in denen es Funktionsschwerpunkte gibt, die mal für die Größeren, mal für die Kleineren, aber auch für Novizen oder „Experten“ gestaltet sind. Und dort, wo die Kinder regelmäßig beobachtet, die Beobachtungen dokumentiert sowie ausgewertet und im Team besprochen werden. Es geht um ein individuelles Eingehen auf die Kinder, weniger mit Blick auf das Geburtsdatum des Kindes, als vielmehr auf seine Aktionen, seine Überlegungen, seine Fragen, mit welchen Büchern es sich beschäftigt, mit welchen Kindern es im Moment hauptsächlich zusammen ist oder an welchem inneren Thema es gerade arbeitet.
Dr. Joachim Bensel: Um konkrete Beispiele zu den Rahmenbedingungen zu nennen: Es muss genug Personal da sein, die Fachkraft-Kind-Relation muss stimmen, die Gruppen dürfen nicht zu groß sein oder es muss die Möglichkeit geben, die Gruppe zeitweise zu trennen, damit in kleineren Gruppen zu speziellen Themen, die nur für einige interessant sind, gearbeitet werden kann. Diese strukturellen Rahmenbedingungen müssen auch konzeptionell verankert sein, um sich in der pädagogischen Arbeit wirklich zeigen zu können. Zum Beispiel heißt das, dass das Team sich absprechen muss: „Heute gehen wir mit den Kindern, die sich besonders für das Bauen interessieren, zur Baustelle in der Nachbarschaft und schauen uns diese einmal genauer an.“ Genau hierfür muss genug Personal da sein, damit Derartiges überhaupt möglich ist. Die schlechteste Lösung für die Entwicklung der Vier- bis Sechsjährigen ist eine pädagogische Arbeit in sogenannten altersgemischten, „geschlossenen“ Gruppen. Das leuchtet ein, denn dort sind die Rahmenbedingungen schlecht. Die Fachkraft-Kind-Relation ist unzureichend, denn der Raum muss sowohl für die Kleinen, die Mittleren als auch für die Großen Herausforderungen bieten. Welche spannenden Erfahrungen sollen wache und interessierte Fünf- und Sechsjährige dort machen können, wenn der Raum auch gleichzeitig für die Kleinsten sicher eingerichtet sein muss? Das ist nur möglich, wenn man die Gruppen öffnet und die Kinder, die zum Beispiel Experten in „Naturwissenschaften“ sind, sich auch mal zurückziehen können und in ihren Funktionsbereichen, in Bildungsinseln und im Außengelände tätig sein können. Das geht mit einer „Vier-Ecken-Pädagogik“ nicht.
Und was ist dann, im Gegensatz dazu, die beste Lösung für die Entwicklungsunterstützung der Vier- bis Sechsjährigen?
Dr. Joachim Bensel: Die beste Möglichkeit, gute Prozessqualität mit genügend Personal zu bieten, ist es, offen und altersgemischt zu arbeiten. Also ein Erfahrungsspektrum abzubilden, bei dem Groß von Klein und Klein von Groß lernt, aber auch die Möglichkeit besteht, zwischenzeitlich in entwicklungsgleichen Gruppen interessen- und themenbezogen zu agieren. Außerdem müssen die Kinder den Bereich, das Thema selbst wählen können, mit dem sie sich gemäß ihrer Vorstellung auseinandersetzen. Das bedeutet, dass die älteren Kinder „zur Bildung“ nicht aus der Gruppe rausgenommen werden, um ihnen, in wie auch immer gearteten Vorschulgruppen, Spezialunterricht zu erteilen. Meist bearbeiten dann die Kinder vordefinierte Aufgaben, müssen ruhig am Tisch sitzen, die richtige Stifthaltung präsentieren usw. Manche bekommen sogar ein T-Shirt, auf dem „Schulstürmer“ oder Ähnliches steht. Die Botschaft an die Kinder ist: „Der nächste wichtige Schritt für euch ist die Schule, wir machen euch jetzt ‚schulfit‘ und demnächst seid ihr Schulkinder“. Dazu ist die Mappe „Kinder über vier in der Kita“ nicht gedacht, sondern sie unterstützt Fachkräfte dabei, die Kinder bei ihren vielen Fragen leichter als bisher adäquat zu begleiten. Dafür ist es wichtig, die Angebotsvielfalt zu erhöhen, die individuelle Begleitung zu verbessern und die Räume zu öffnen. Es geht darum, das Material bereitzustellen und die Gedanken der Fachkräfte im Hinblick darauf zu erweitern, noch mehr mit den Kindern gemeinsam zu gestalten. Dann gelingt mit Mut zu offenen Enden, zum Querdenken, dass die Kinder mit fünf oder sechs Jahren nicht kindergartenmüde sind.
Wie wirkt sich der Fokus auf die über Vierjährigen auf die konkrete Alltagsgestaltung und das pädagogische Handeln der Fachkräfte aus?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Die pädagogische Beantwortung der Fragen und Themen der Kinder durch die Fachkraft hat große Bedeutung. Es geht darum, gemäß dem Entwicklungsstand der Kinder zu agieren, nicht gemäß dem Geburtsdatum. Interessensgruppen spielen zusammen im Gebäude, im Außengelände, Spiele finden nicht in Altersgruppen statt. Das Alter ist der schwächste Zuordnungsfaktor, schwächer übrigens als das Geschlecht. Wenn die Einrichtung ein gutes Beobachtungskonzept hat, dann kann das Team feststellen, wofür die Kinder „Spezialisten“ sind und darauf reagieren.
Dr. Joachim Bensel: Das ist ein Phänomen, das für die ganze Kindheit gilt: Dass wir die individuellen Zeitpunkte der Kinder, wann sie die „Zone der nächsten Entwicklung“ erreichen, für jedes Kind und seine Themen separat bestimmen müssen. Das gilt für die unter Dreijährigen genauso wie für die über Dreijährigen und die über Vierjährigen. Die Entwicklungspsychologen wissen heute, dass zwischen dem Eintritt in eine neue Fähigkeit, ob es nun das Laufen lernen, das Sauberwerden oder kognitive Fähigkeiten sind, zwischen den Kindern Riesenabstände völlig normal sind, man nicht von Entwicklungsverzögerung oder Ähnlichem spricht. Es macht also keinen Sinn, allen Vierjährigen ein spezielles Angebot zu machen, weil man denkt, sie müssten jetzt soweit sein, dass sie sich dafür interessieren. Sondern jedes Kind muss individuell in den Blick genommen werden. Auch die Neurophysiologen betonen, dass die Kinder dort „Nahrung“ bekommen müssen, wo ihre Gehirne gerade „Nahrung“ suchen. Hierbei kommt dem Instrument der individuellen Beobachtung eine große Bedeutung zu. Durch die Beobachtungen kann die Fachkraft sehen, für welche Themen sich die Kinder im Moment interessieren. Es gibt nicht die Entwicklungsthemen der Vierjährigen, die Entwicklungsthemen der Fünfjährigen, sondern es gibt das Entwicklungsthema für Edda, das Entwicklungsthema für Nevio.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Katrin Strüber