Kinder nehmen die Welt über ihre Sinne wahr. Die Sinne liefern ständig Informationen, die zu einem gesamten Wahrnehmungseindruck verbunden werden. Mit diesem Eindruck wählen Kinder aus, was sie erkunden wollen. Dabei prüfen sie, ob dieser Eindruck bekannt oder neu ist. Anhand neuer Eindrücke verändern sie ihre Handlungen und so auch ihr Denken über die Welt. Sie entwickeln Vorstellungen und Theorien. Die Sinne sind dabei das Werkzeug ihres Denkens, mit dem sie sich ihr eigenes Weltbild aufbauen (vgl. Schneider 2009). In der Wiederholung von Bewegungsprozessen werden Zusammenhänge der Welt erfasst und gespeichert. So weiß beispielsweise die Hand des Kindes durch das unzählige Aufheben und Fallenlassen von Gegenständen, dass Schwerkraft wirkt. Dieses physikalische Wissen ist im Körper gespeichert. Bewegungen sind daher körperliche Denkprozesse (vgl. Gissel 2007, S. 3f.).
Zeit für Wiederholungen lassen
Komplexe Wahrnehmungserfahrungen entstehen, wenn Fachkräfte den Handlungswiederholungen der Kinder Zeit geben. Die Kinder tun dies nicht nur, um Abläufe zu perfektionieren, sondern vor allem, um Variationen von Handlungsmöglichkeiten auszuprobieren. Komplexität in den Wahrnehmungserfahrungen entsteht, wenn Kinder Materialien in ihren unterschiedlichen Funktionen ausprobieren und mit neuen Dingen kombinieren. Durch eine Materialvielfalt und -menge können Fachkräfte Kindern eine vorbereitete Umgebung bieten, die Ausprobieren erlaubt. Kinder brauchen deshalb kein Funktionsspielzeug, sondern Dinge des Alltags, die sich erforschen und unterschiedlich benutzen lassen.
Forschendes Lernen ermöglichen
Fachkräfte unterstützen forschendes Lernen und die Differenzierung von Wahrnehmungserfahrungen, indem sie die Auswahl des Materials immer wieder verändern und Aktivitäten mitgestalten. Mit jeder Wahrnehmungserfahrung ändert das Kind seine Aufmerksamkeit, um neue Details zu erfassen. In dieser feinen Neuausrichtung erweitern die Sinne ihr Wahrnehmungsspektrum und stützen so die Entwicklung des Kindes.
An den Handlungen des Kindes interessiert sein
Wahrnehmungserfahrungen sind komplexe Lernerfahrungen, die immer in bedeutungsgebende Bewegungshandlungen eingebettet sind (vgl. Fischer 2011, S. 6f.). Kinder sortieren ihre Wahrnehmungseindrücke durch gute und schlechte Gefühle. Ob etwas als gut oder schlecht bewertet wird, unterliegt auch der Bewertung von anderen. Fachkräfte bieten dem Kind durch ihre Resonanz auf sein Handeln Bedeutungen an. Ist die Fachkraft am Erforschungsprozess des Kindes interessiert und bewertet sie das kindliche Tun als sinnvoll, wird das Kind weiter die Welt neugierig erkunden. Das Kind erfährt, dass sein Handeln eine Bedeutung hat.
Praxisbeispiel: Jana und die Knete
Jana (2 Jahre) sitzt mit älteren Kindern zusammen am Basteltisch. Während sich die größeren Kinder beim Bildermalen unterhalten, holt sich Jana Knete an den Tisch. Sie beobachtet die Kinder, wie sie mit Buntstiften ihr Bild malen. Der Stiftkorb steht vor ihr und sie entscheidet sich, ebenfalls einen Buntstift herauszunehmen. Mit ihm versucht sie, auf der Knete zu malen. Dabei entdeckt sie, dass sie mit der Stiftspitze Spuren auf der Knete hinterlässt, und steckt den Stift in den Knetklumpen hinein. Sie holt sich einen zweiten Stift und steckt ihn ebenso in die Knete. Mit beiden Händen hält sie die Stifte fest, holt sie heraus und betrachtet die entstandenen Löcher, steckt sie dann wieder in die gleichen Löcher hinein und lässt sie los. Sie guckt sich ihr Werk an und beobachtet, dass sich beide Stifte plötzlich langsam zur Seite neigen. Sie lächelt vergnügt. Sie ergreift einen Stift und steckt ihn erneut in die Knete, um das Schauspiel zu wiederholen. Er neigt sich wieder langsam zur Seite. Begeistert wiederholt sie die Handlung mehrfach, wobei sie ihn an unterschiedliche Stellen der Knete steckt. Sie beobachtet das langsame Fallen des Stiftes konzentriert, bis sie bemerkt, dass eine Erzieherin vor ihr steht und sie ansieht.
Jana untersucht die verlangsamte Schwerkraft und beobachtet genau das physikalische Phänomen. Von der Fachkraft hängt es nun ab, ob Jana ihre Tätigkeit fortsetzt oder abbricht. Das Kind liest aus der Mimik und den Handlungen der Fachkraft, welche Bedeutung sein Handeln hat. Versteht die Fachkraft Janas Tätigkeit als Forschungsprozess, könnte sie ihr weiteres Material zum Experimentieren anbieten. Mit diesem Impuls wird Jana ihre Wahrnehmungserfahrung erweitern. Damit Kinder in solchen Situationen komplexe Wahrnehmungserfahrungen machen können, brauchen Fachkräfte Beobachtungszeit, in der sie durch Reflexionsfragen wie „Welche Erfahrungen macht das Kind?“, „Welche Themen beschäftigen das Kind?“ oder „Welche Fragen könnten sich hinter der Tätigkeit der Kinder verbergen?“ (Arbeitsgruppe Professionalisierung frühkindlicher Bildung 2005) die Situationen der Kinder sehen und verstehen lernen. Weiterführende Fragen wie: „Wie gelingt es mir, die Gestaltung der Räume und Materialien an den aktuell wahrgenommenen Bedürfnissen der Kinder zu orientieren?“ oder „Inwiefern können Kinder sich neue Handlungsmöglichkeiten erschließen und sich neuen Herausforderungen stellen?“ (Arbeitsgruppe Professionalisierung frühkindlicher Bildung 2005) liefern den Fachkräften Antworten, die hilfreich dabei sind, die pädagogische Qualität weiterzuentwickeln.