„Ich bin ein wildes Swein“, ruft Zlatan. Er steht bis zu den Knien in der Matschgrube. Gestern haben die Krippenkinder ein Buch über die heimischen Waldtiere angeschaut. Jetzt zerquetschen sie den Matsch genüsslich zwischen den Fäusten und verreiben ihn auf ihren Bäuchen. Einige der bis 3-Jährigen haben sich zum Sandspielplatz geschlichen. Hier sitzen sie unter der Felsenbirne und beobachten staunend zwei größere Jungs. Unermüdlich versuchen die beiden, auf einem quer über den Sand gespannten Robinienstamm aneinander vorbei zu balancieren, ohne herunterzufallen. Gleich daneben hat sich Lara hoch in den Kletterbaum gewagt. Sie ist viereinhalb. Jetzt angelt sie mit ihrem ausgestreckten Arm nach den roten Kirschen. Lara möchte die Rehkitze füttern. Dicht gedrängt kuscheln sich im großen Weidentipi nämlich drei Mädchen aneinander. Sie sind die Kitze, die von ihrer Mama verlassen worden sind. Vor den Tipis stehen weitere Kinder und beraten lebhaft, wie sie die Rehe füttern können, ohne sie anzufassen. Ganz hinten im Garten, auf einer Lichtung zwischen hohen Hecken, spielen die Großen. Mächtige Felsbrocken dienen ihnen dabei als Schiffe für ihre Reise über die Weltmeere.
Wir befinden uns im Garten der Kita Mäusenest der Pro-Liberis gGmbH in Karlsruhe. Der Garten setzt das Konzept des Erfahrungsgartens um. Dieses basiert auf dem Bildungsverständnis des Erziehungswissenschaftlers Gerd Schäfer. Kinder lernen aus Erfahrungen, so Schäfer. Sie erschließen sich die Welt, indem sie allem, was ihre Neugier weckt, nachspüren. Sie wollen wissen, wie die Dinge zusammenhängen, und durch eigenes Ausprobieren herausfinden, wie sie sich anfühlen, wie sie sich verändern lassen und wie man damit umgeht. Nur wer selber einmal einen Käfer beobachtet hat, ihn über seine Hand krabbeln ließ und ihn davonfliegen sah, weiß, was ein Käfer ist. Die Kinder sammeln so ein Erfahrungswissen, das die Basis ihres Denkens bildet und ihnen überhaupt erst ermöglicht, mit abstrakten Erläuterungen umzugehen. Die entscheidende Aufgabe der frühkindlichen Bildung, so Gerd Schäfer, ist deshalb die Ausbildung eines reichen und differenzierten Erfahrungsschatzes.
Ein Interview mit Anina Laber, Leiterin der Karlsruher Kita Mäusenest
kindergarten heute: Frau Laber, was ist anders in Ihrem Außengelände?
Anina Laber: Wenn man in unseren Garten schaut, ist es ganz offensichtlich, dass wir keine typischen Spielgeräte haben, die man auf jedem Spielplatz findet: Wir haben keine Schaukel, Rutsche, Kletterstangen und kein herkömmliches Spielhaus. Es ist alles so angelegt, wie man es in der Natur vorfinden könnte. Das Konzept dahinter ist, dass sich unser Außengelände in die Natur eingliedert und nicht heraussticht durch eine Bebauung, die unnatürlich ist.
Wie entstand die Idee, den Garten naturnah zu gestalten?
Dazu haben verschiedene Komponenten beigetragen. Da waren zum einen die Architekt*innen, die viel zu diesem Haus beigetragen und den pädagogischen Themen eine große Bedeutung beigemessen haben. Zum anderen befindet sich die Kita in einem Wohnhaus, das an Felder und Wiesen grenzt – also direkt in der Natur liegt. Von außen ist nicht zu erkennen, dass sich hier eine Kita befindet.
Was hat sich durch die spielzeugfreie Gestaltung verändert?
Die Kinder sind insgesamt sehr viel mehr in Kontakt miteinander. Es gibt keine Spielgeräte, die ein konkretes Spiel vorgeben. Bei einer Schaukel wird einem Kind relativ schnell klar, was es damit machen kann. Durch den Verzicht auf solche Geräte überlegen die Kinder viel mehr, was sie machen möchten, wodurch die Natur an Bedeutung gewinnt. Viel Zeit wird z. B. dafür verwendet, Käfer zu beobachten oder die Sachen, die wir mit den Kindern angepflanzt haben, anzuschauen: Wie schnell wächst etwas? Wann können wir Ergebnisse sehen? Wann blüht was? Wann kommen die Radieschen im Garten? Es geht viel mehr ums Denken, um Fantasie, um Kreativität. Die Kinder können sich ausleben, ihre Gedanken, Interessen und Gefühle ausleben und nicht auf das zurückgreifen, was ein Gerät vorgibt.
Auf den ersten Blick sieht man Wiesen, Hecken und Bäume. Auf den zweiten Blick entdeckt man dazwischen unterschiedliche Bereiche. Nach welchem Prinzip ist die Anlage aufgebaut?
Das Konzept ist in Zusammenarbeit mit den Architekt*innen entstanden. Der 450 m² große Garten ist so angelegt, dass, je weiter man sich vom Haus in Richtung freies Gelände entfernt, die Anforderungen steigen: Direkt beim Haus befinden sich die Erfahrungsräume, die mehr für die Krippenkinder wichtig sind wie der Sandsee, die Lehmgrube oder der Duftgarten. Dort geht es in erster Linie um die taktilen und um die elementaren körperlichen Erfahrungen. Weiter weg stehen der Kletterbaum und die Weidentipis. Die Kinder legen ein gewisses Explorationsverhalten an den Tag, wenn sie sich entfernen oder sich verstecken. Weiter weg vom Haus steigen für die Kinder die Herausforderungen.
Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Es geht darum, dass sich die Entwicklungsschritte der Kinder im Garten widerspiegeln. Sie fangen im Kleinen an und gehen immer weiter. Die Kinder sollen an ihren Herausforderungen wachsen und lernen, für sich selbst zu sorgen: An welchem Punkt stehe ich? Zu welchem Ziel möchte ich kommen? Wo sind meine Grenzen? Möchte ich meine Grenzen erweitern? Die Kinder werden angeregt, zu überlegen, bei sich selbst anzukommen, ihre Kreativität und Fantasie auszuleben und zu erleben. Die Natur bietet so viele Schätze. Das lernen die Kinder wertzuschätzen. Sie merken, dass elektronische Geräte wie Tablets oder Smartphones für die Entdeckung ihrer Umwelt nicht von entscheidender Relevanz sind.
Es ist gewollt, dass Sie nicht alle Kinder im Blick behalten können. Verunsichert Sie das nicht?
Wir schauen, dass wir den Kindern verschiedene Nischen und Möglichkeiten bieten, wo sie außerhalb unserer Beobachtung ungestört spielen können. Gerade für ältere Kinder ist es sehr wichtig, dass sie nicht unter ständiger Beobachtung stehen. Es geht darum, dass sie Selbstbewusstsein entwickeln und sich etwas zutrauen. Ständiges Kontrollieren würde dem Konzept widersprechen. Wir kennen unsere Kinder und die Spielorte und können abschätzen, wem wir wie viel Freiraum zugestehen können ohne die Aufsichtspflicht zu verletzen.
Welche Vorgaben bzw. Wünsche gab es?
Vonseiten des Trägers gab es die Vorgabe, dass wir uns in den Ortsteil eingliedern. Darin spielte auch das naturnahe Konzept eine zentrale Rolle. Die pädagogischen Fachkräfte und ich haben uns gewünscht, dass wir wieder mehr zu dem kommen, was Leben ausmacht, und dazu gehört die Natur. Für uns war ein Außengelände wichtig, das den Kindern vielfältige Möglichkeiten bietet und flexibel nutzbar ist, das umgestaltet werden kann – je nach Themen, Bedürfnissen und Interessen der Kinder. Der Garten wächst und verändert sich sozusagen mit ihnen mit.
Sie sagen, der Garten bietet unendlich viele Möglichkeiten. Hängt das Spiel draußen auch mal mit Aktivitäten drinnen zusammen?
Die Spiele drinnen und draußen hängen gerade durch die Gestaltung des Außengeländes sehr oft miteinander zusammen. Dadurch, dass der offene Garten nichts vorgibt, lassen sich ganz viele Spiele von draußen nach drinnen und von drinnen nach draußen transportieren. Zum Beispiel spielen die Kinder draußen Schatzsuche, malen drinnen eine Schatzkarte und basteln einen Schatz dazu. Solche fließenden Übergänge beobachten wir oft. Sie lassen sich auf unterschiedliche Bereiche übertragen.
Muss das Spiel im Erfahrungsgarten anders begleitet werden?
Das Außengelände bietet den Kindern so viele Möglichkeiten, dass sie uns weniger als Impulsgeber*innen brauchen. Wir helfen den Kindern, Lösungen zu finden, wenn sie nicht weiterkommen, erforschen und entdecken mit ihnen.
Trifft das auch für die bis 3-Jährigen zu?
Das trifft auch für sie zu. Sie sind neugierig auf den Garten. Gerade was die unterschiedlichen Ebenen, Materialien und Bereiche betrifft. Die Kinder nehmen uns an die Hand, zeigen und führen uns zu den Spielräumen, die sie gerade interessieren. Wir sind Mitspieler*innen, nicht jemand, der oder die etwas vorgibt.
Bleibt der Garten naturgemäß sich selbst überlassen?
Der Garten bleibt nicht sich selbst überlassen. Wir sind mit den Kindern viele Monate im Jahr mit Gartenarbeit beschäftigt und beziehen sie aktiv mit ein: den Kräutergarten anzulegen und zu pflegen, aber auch verschiedene Gemüse- und Obstsorten anzupflanzen, zu ernten und weiterzuverarbeiten. Eine selbst angelegte Blumenwiese gibt es auch. Beim Pflegen werden wir tatkräftig von den Eltern unterstützt, die für einzelne Gartenteile eine Patenschaft übernommen haben.
Inwiefern hat der naturnahe Garten die pädagogische Arbeit und das Spiel der Kinder verändert?
Die Kinder gehen viel offener miteinander um. Man merkt das an ihrem Sozialverhalten. Sie spielen mehr gemeinsam und weniger nebeneinander her. Bei einer Rutsche gehen die Kinder hoch und rutschen runter, es gibt wenig Kommunikation. Wir beobachten, dass die Kinder anders miteinander umgehen, dass sie ihre Grenzen neu kennenlernen und dass sie Herausforderungen suchen. Wir erleben auch, dass sich die Kreativität und Fantasie der Kinder verändert hat. Wir sind jeden Tag aufs Neue erstaunt, welche Ideen sie haben und wie sie diese umsetzen. Was sie z. B. alles in einem Kieselstein sehen können. Die Kinder nehmen die pädagogischen Fachkräfte in diesem Bereich partnerschaftlich wahr, auf einer anderen Ebene als in den Gruppenräumen.
Kam, z. B. vonseiten der Eltern, der Vorschlag, versuchsweise doch mal ein Spielgerät aufzustellen?
Nein, gar nicht. Die Eltern haben noch nie etwas vermisst. Es ist eher so, dass sich die Eltern aufgrund des Außenbereichs für uns entscheiden, weil sie, wie wir, der Meinung sind, das ist es, was der Kindheit heutzutage fehlt. Die Natur, die Naturbezogenheit, sich etwas Ausdenken. Das stimmt die Eltern positiv.
Welche Projekte stehen in Zukunft an?
Wir haben direkt angrenzend an unseren Garten viele Felder und Wiesen. Für die Kinder ist es unglaublich spannend, was dort passiert. Dort fahren Traktoren, das Feld wird neu bestellt. Wir haben gemeinsam mit dem Elternbeirat beschlossen, dass wir einen Hochsitz bauen, weil die Kinder durch die Zäune und Bäume nichts sehen können. Der Hochsitz soll ihnen ermöglichen, das zu betrachten, was außerhalb der Kita passiert, um so ihren Radius zu erweitern.
Drei Fragen an das Architektenteam Annette und Stephan Heine
Was war Ihnen bei der Planung und Umsetzung des Außenbereichs wichtig?
Von vornherein war mit der Projektleitung des Trägers festgelegt worden, dass im Garten keine Spielgeräte aufgestellt werden. Stattdessen haben wir in einem naturnahen Garten eine Vielzahl von Spielorten ausgebildet, die den Kindern eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Erfahrungen ermöglichen. Es gibt eine Lehmgrube für intensive sensorische Erlebnisse. Einen Sandsee, der die Aufmerksamkeit nach außen, auf die konstruktiven Qualitäten des Materials lenkt. Einen Kletterbaum, dessen Eroberung den Einsatz des ganzen Körpers erfordert, sowie allerlei Dickichte und Weidentipis, die zu Fantasiespielen einladen. Wichtig war uns, auch im begrenzten Rahmen eines Kita-Außengeländes eine hohe Dichte von Erfahrungsfeldern zu entwickeln, zwischen denen die Kinder, entsprechend ihrem momentanen Bildungsbedürfnis, wählen können.
Lässt sich der Erfahrungsgarten prinzipiell übertragen?
Ja, sicher. Das Außengelände einer Kita ist ein wertvoller pädagogischer Raum, bei dem es nicht nur um frische Luft und Naturerfahrungen geht, sondern um die besondere Bedeutung des Draußenspiels für die sensorische, motorische und vor allem die kognitive Entwicklung. Unser Konzept Erfahrungsgarten dient dazu, dieses enorme Potenzial des Außengeländes für den Kitaalltag nutzbar zu machen. Es wäre schön, wenn es zu einem breiteren Verständnis für den Stellenwert der Außenflächen beitragen könnte.
Wie sieht Ihrer Ansicht nach die optimale Nutzung von Außen- und Innenräumen in einer Kita aus?
In den Räumen drinnen können die Kinder ihre Erfahrungen von Draußen verarbeiten. Das Gestalten mit Materialien hilft ihnen, ihre Erlebnisse in Bildern zu reflektieren. Die Dokumentation von Bildungsprozessen unterstützt sie dabei, aktuelle Themen wieder aufzunehmen und fortzuführen. Dabei können sich die Gedankenwelten der Kinder miteinander verbinden und es entsteht ein gemeinsamer Denkraum, der der ganzen Kita den Geist einer Lernwerkstatt verleihen kann. Ein Erfahrungsgarten unterstützt außerdem die pädagogischen Fachkräfte dabei, sich auf die Erlebniswelt der Kinder einzulassen. Wie Brenngläser eröffnen die Spielorte einen besseren Einblick in die Interessen und Gedanken der Kinder.
Die Fragen stellte Susanne Weiss, Redaktion kindergarten heute