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Mehrsprachigkeit bedeutet meist auch, dass Sprecher*innen in ihren jeweiligen Sprachen unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen. Das kann irritieren, ist aber normal. Denn Sprachkenntnisse hängen u. a. davon ab, wie (z. B. „nur“ spielerisch oder für die alltägliche Verständigung) und wie oft (z. B. täglich mehrmals oder einmal in der Woche) die jeweilige Sprache genutzt wird. Diese Kenntnisse sind nicht dauerhaft, ein Kind kann eine Sprache also auch wieder „verlieren“, wenn es sie nicht mehr benutzt.
Mehrsprachig aufwachsende Kinder haben Chancen: Sie nutzen Sprache flexibler als Einsprachige, dadurch bleibt das Gehirn auch in anderen Bereichen meist aufnahmebereiter, z. B. können sie sich Dinge kurzfristig gut merken und ihre Aufmerksamkeit besser steuern. Entwicklungsrisiken bietet Mehrsprachigkeit von sich aus nicht. Wichtig ist nur, dass Kinder – wie einsprachige auch –sprachlich nicht verarmen. Sie benötigen eine sprachlich anregende Umwelt. Dazu zählt u. a., dass sie an echtem menschlichen Austausch teilhaben, digitale Medien sollten also nur ergänzend hinzugezogen werden.
DOI: https://doi.org/10.23769/KIGA-HEUTE-6-7-2018-16-18
Als mehrsprachig gilt in der internationalen Fachliteratur, wer mehr als eine Sprache versteht und verwendet.1 Erwirbt also ein Kind kommunikative Fähigkeiten in mehr als einer Sprache bzw. verwendet es mehr als eine Sprache regelmäßig in natürlichen Sprachsituationen – und hierzu reicht es, wenn es mehr als eine Sprache versteht –, dann ist es mehrsprachig.
Unterschiedliche Fähigkeiten in den einzelnen Sprachen sind normal
Mehrsprachig aufwachsende Kinder erwerben in ihren jeweiligen Sprachen Sprachfähigkeiten in unterschiedlichem Ausmaß – unabhängig davon, ob sie von Geburt an oder später mit einer weiteren Sprache aufwachsen. Daher bedeutet Mehrsprachigkeit nicht Gleichsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist ein komplexer und dynamischer Prozess, der vorrangig dem Einfluss des sozialen Umfelds, der Interaktionspartner*innen und dem individuellen Lebensentwurf sowie der Zeit unterliegt.2 Dies zeigt sich u. a. darin, dass eine mehrsprachige Person meist über sehr unterschiedliche Kenntnisse in ihren jeweiligen Sprachen verfügt. Dies gilt auch bereits für die kindliche Mehrsprachigkeit. So ist es für einen gelingenden Spracherwerb auch weniger entscheidend, wie ausgewogen oder „wie gut“ ein Kind seine Sprachen beherrscht (Kompetenz), sondern es ist vielmehr von Bedeutung, „wie sehr“ es eine weitere Sprache für seine unterschiedlichen sozialen Interaktionen „braucht“ (Funktion). Dies bedeutet, dass den Bezugspersonen bzw. dem unmittelbaren Umfeld eines Kindes eine besondere Bedeutung, Aufgabe und Verantwortung zukommt.
Mehrsprachigkeit ist vielfältig und individuell
Wenn Kinder mehr als eine Sprache zur Bewältigung ihres Alltags in ihrer persönlichen Lebenswelt brauchen, werden viele mehrsprachig. Dies kann sich u. a. aufgrund mehrsprachiger und/oder binationaler Eltern und/oder Mitglieder einer Patchworkfamilie, durch einsprachige Eltern und mehrsprachige Geschwister, in gemischt-sprachlichen oder grenznahen Wohngegenden oder aufgrund von Migration entwickeln. Auch Kinder Alleinerziehender können mehrsprachig aufwachsen, vor allem, wenn sie eine weitere Sprache außerhalb der Familie nutzen. Wächst ein mehrsprachiges Kind mit älteren Geschwistern auf, erwirbt es die deutsche Sprache meist früh. Der Einfluss von Geschwistern auf den Spracherwerb der Kinder wurde lange Zeit unterschätzt. Viele Familien mit Migrationshintergrund, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, verwenden in der Familie nicht unbedingt (überwiegend) die Sprache des Herkunftslandes. So ist es typisch, dass sich der Gebrauch von Sprache häufig mit der Dauer des Aufenthalts in einem Land, mit dem Alter der Kinder sowie mit dem Lebensentwurf einer Familie verändert. In Anbetracht vielfältiger individueller Lebensentwürfe und verschiedener Bezugspersonen ergeben sich auch vielfältige Konstellationen und Verläufe für den Spracherwerb. Diese können sich mit der Zeit bzw. mit zunehmendem Alter des Kindes und somit auch seiner Nutzung der jeweiligen Sprache immer wieder ändern. So kann ein Kind nicht nur eine weitere Sprache erwerben und damit mehrsprachig werden, sondern unter Umständen auch eine von zwei oder mehreren Sprachen wieder verlieren, wenn diese Sprache/n in seinem Alltag keine Bedeutung mehr hat/haben.
Warum Kinder mehrsprachig werden
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Mehrsprachigkeit ist daher weniger das Ergebnis eines erfolgreichen Fremdsprachenlernens als vielmehr eine notwendige Konsequenz, z. B. als Folge von Migration. Vereinfacht lassen sich jedoch zwei zentrale Voraussetzungen des Mehrspracherwerbs unterscheiden: Einige Kinder werden freiwillig mehrsprachig, während der überwiegende Anteil der Kinder keine Wahl hat. Insofern stellt sich den meisten erst gar nicht die Frage, ob sie eine weitere Sprache erwerben sollten oder nicht – ein Großteil der Kinder muss eine weitere Sprache erwerben. So werden bei in Deutschland lebenden Kindern häufig ihrem Alter entsprechende Deutschkenntnisse einfach vorausgesetzt. Die Frage danach, welche zeitlichen und insbesondere qualitativen Kontaktmöglichkeiten zur deutschen Sprache ein Kind bislang hatte, wird dabei aber noch zu selten gestellt.
„Je früher, desto besser“ – stimmt das?
Mit Verweis auf die natürliche Art des Spracherwerbs bei Kleinkindern wird Eltern häufig der Rat „je früher, desto besser“ gegeben. Dass jüngere Kinder spielerisch in eine weitere Sprache finden, heißt jedoch nicht, dass sie auch nachhaltige und/oder spätere bildungssprachliche Kompetenzen in dieser Sprache zeigen. So bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass der Erfolg des Erwerbs einer weiteren Sprache weniger vom Alter zum Zeitpunkt des Erwerbsbeginns, sondern vielmehr von den jeweiligen Lebensbedingungen und den individuellen Anforderungen sowie der Motivation abhängt.3 Auch belegen dies Beispiele von Menschen, die erst im Erwachsenenalter begannen, eine „neue“ Sprache zu erwerben und nach wenigen Jahren über nahezu Native-Speaker-Qualitäten in dieser Sprache verfügten. Daher ist anzunehmen, dass je älter eine Person ist, sie nicht nur über mehr Lebens-, sondern auch Lernerfahrungen verfügt. So kann beispielsweise ein Teenager intellektuelle Spracherwerbsstrategien einsetzen, über die ein 4-jähriges Kind noch nicht verfügte. Der erfolgreiche Erwerb einer weiteren Sprache ist demnach weniger vom Alter abhängig als vielmehr von einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Zu ihnen gehören u. a. auch Motivation, kommunikative Notwendigkeit, Sprachbegabung und Lernbedingungen. Allein das Alter lässt somit keine Prognose über spätere Fähigkeiten in dieser Sprache zu – es kommt vor allem auf die Rahmenbedingungen und Formen der Aneignung einer weiteren Sprache an. Mit dem Ziel einer adäquaten Sprachförderung ist den Bezugspersonen von ein- und mehrsprachigen Kindern gleichermaßen zu empfehlen, dass es am wichtigsten ist, ein Kind sprachlich anzuregen. Dies sollte möglichst vielfältig und im zwischenmenschlichen Kontakt geschehen. Diese auch für den (späteren) deutschsprachigen Schulbesuch wichtige Sprachförderung können Bezugspersonen am besten in der/den Sprache/n leisten, die sie selbst am besten beherrschen – d. h. sie sollten nicht Deutsch verwenden, wenn Deutsch nicht ihre bestbeherrschte, vor allem aber authentische Sprache ist.4
Wer mehrere Sprachen verwendet hat Vorteile
Dem Mehrsprachgebrauch werden positive in Bezug auf Sprachstörungen sogar kompensatorische Effekte zugeschrieben. So gilt z. B. das für den bilingualen Sprachgebrauch typische „Codeswitching“, d. h. der Wechsel zwischen den und das Mischen von Sprachen, als hochgradig komplexes und daher kompetentes Sprachverhalten.5 Diese Fähigkeit zum Wechsel zwischen den Sprachen und das Mischen der Sprachen auf unterschiedlichen Ebenen führt im Vergleich zu einsprachigen Personen z. B. zu besseren (sprach-)kognitiven Regulations- und Kontrollmechanismen, Arbeitsgedächtnisleistungen und zu einer verbesserten Aufmerksamkeitssteuerung. Mehrsprachige Personen können Sprache also meist effektiver verarbeiten. Diese verbesserten Fähigkeiten werden in einem gewissen Ausmaß als schützend im Zusammenhang mit Sprachstörungen im Kindes- sowie im Erwachsenenalter diskutiert.6 Diese im Vergleich zu einsprachigen Kindern besseren exekutiven Funktionen lassen sich bereits im Kleinkindalter durch den Mehrsprachgebrauch im kindlichen Umfeld feststellen.7 Dabei ist es unerheblich, wie ausgewogen die Sprachen angeboten werden oder ob ein Kind die weitere Sprache nicht nur hört, sondern auch spricht.8 So erstaunt es wenig, dass auch geistig beeinträchtigte Kinder von einer mehrsprachigen Erziehung profitieren.9
Mehrsprachigkeit bereichert die Entwicklung
Wichtig ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit lediglich einer von mehreren bedeutsamen Einflussfaktoren auf die kindliche Sprachentwicklung darstellt. Mehrsprachige und kulturell diverse Lebensbedingungen stellen für die ohnehin dynamische und komplex verlaufende Sprachentwicklung kein sprachgesundheitliches Risiko dar, vielmehr bereichern sie die allgemeine kindliche Entwicklung. So steht mehrsprachig aufwachsenden Kindern mehr als eine Möglichkeit zur Verfügung, an sozialen Interaktionen teilzuhaben und anhand dieser entsprechend zu lernen und zu reflektieren. Dabei regen kulturelle und sprachliche Vielfalt zu einer erweiterten Bewusstheit über Gemeinsamkeiten und Unterschiede an; dies wirkt sich u. a. auf eine verbesserte Konfliktfähigkeit aus. Wer bereits über zwei Sprachen verfügt, lernt weitere Sprachen wesentlich leichter.
Jedoch ist der Spracherwerb an sich – und somit auch der Mehrspracherwerb – in entscheidendem Maße von sozialen Einflussgrößen wie den soziokulturellen Bedingungen und dem sozioökonomischen Status abhängig. Daher stellen soziale Problemlagen für jede Form des Spracherwerbs, ganz gleich ob bei mehr- oder einsprachiger Erziehung, erschwerte Bedingungen dar.
Ein- und mehrsprachige Kinder brauchen vor allem eines: sprachliche Anregung
Dass eine Bezugsperson eine Sprache verwendet, sagt nichts darüber aus, in welcher Qualität sie diese verwendet. Manche Kinder – auch einsprachig mit Deutsch aufwachsende Kinder – werden von ihren Bezugspersonen eher wenig sprachlich angeregt. Eine nicht frühzeitig erfolgte und unzureichende sprachliche Anregung – und somit Sprachförderung – durch die unmittelbaren Bezugspersonen des Kindes bildet eines der größten Risiken für die Sprachentwicklung und damit für die spätere gesellschaftliche Teilhabe. Studien legen nahe, dass dies besonders Kinder aus benachteiligten Familien betrifft. Diese Studien weisen auf einen starken Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Eltern, der Anzahl der Wörter und der sozio-emotionalen Ansprache, die Eltern an ihr Kind richten, und der Größe des kindlichen Wortschatzes sowie der späteren Sprachfähigkeiten eines Kindes bereits in den ersten beiden Lebensjahren hin.10
Finanzielle Armut macht oft auch sprachlich arm
Da in Deutschland die Migration zu den häufigsten Ursachen für Mehrsprachigkeit zählt, ist davon auszugehen, dass ein bedeutender Anteil mehrsprachig aufwachsender Kinder einen Migrationshintergrund (MH) hat. Menschen mit MH gelten als verletzliche Gruppe.11 So fällt auf, dass Kinder mit MH im Vergleich zu Kindern ohne MH signifikant weniger einen Kinderarzt in Anspruch nehmen, wobei dies vor allem in der unteren und mittleren Sozialschicht deutlich wird.12 Zahlreiche Studien belegen, dass die in Deutschland lebende Bevölkerung mit MH ein höheres Armutsrisiko besitzt.13 Der Zusammenhang zwischen finanzieller Armut und gesundheitlicher Lage sowie Teilhabeeinschränkungen wurde ebenfalls in mehreren Studien nachgewiesen.14 Auch legen Untersuchungen zum Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie zum Präventionsverhalten nahe, dass familiäre sprachliche Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von unzureichenden Sprachkenntnissen bereits bei 6-jährigen Kindern vorliegende gesundheitliche Beeinträchtigungen sogar noch verstärken können. So sind diese Kinder dann häufig sowohl gesundheitlich als auch sozial benachteiligt.
Sprachförderung: Auch Dialekte miteinbeziehen
Aus Sicht mancher einsprachiger Personen kann es auffällig sein, dass mehrsprachige Personen – und somit auch Kinder – über viele Wörter in nur einer ihrer Sprachen verfügen. Dabei sind der im Vergleich zu einsprachigen Personen häufig geringere Wortschatzumfang sowie Fehler im deutschen Satzbau oft auf unterschiedliche Spracherfahrungen mit Sprecher*innen der jeweiligen Sprachen zurückzuführen. Auch die fehlende Notwendigkeit, entsprechende Themen in der weiteren Sprache behandeln zu müssen, können ein Grund sein.15 Wichtig ist daher, dass ein mehrsprachiges Kind möglichst viele Spracherfahrungen und -kontakte in jeder seiner Sprachen sowie in unterschiedlichen Kontexten machen und haben kann, um seine gesamtsprachliche Entwicklung entsprechend umfassend zu fördern. Die sprachliche Förderung von nur einer Sprache eines mehrsprachigen Kindes oder ausschließlich einzelner Sprachbereiche entspricht nicht den ganztägig und alltäglich an das Kind gestellten Anforderungen. Schließlich dient Sprache insbesondere Kindern vorrangig als Medium sozio-emotionaler Verbindungen. Daher sollte die Sprachförderung bei mehrsprachigen Kindern stets alle Sprachen eines Kindes, auch Dialekte, auf sämtlichen Ebenen und alle Sprachkomponenten betreffen.
Übergreifende Lernstrategien erwerben
Ausgehend von einer Durchsicht der für die Sprachförderung bereitgestellten Materialien, scheint das Augenmerk einer strukturellen Sprachförderung häufig auf dem Wortschatz oder dem Wort- und Satzbau zu liegen. So scheinen weniger die bedeutungsunterscheidenden Merkmale von Wörtern und Sätzen, ihre lautliche Struktur und Melodie, Betonung und Intonation sowie Sprechakte und die personen- und situationsangemessene Verwendung von Sprache im Vordergrund zu stehen. Dabei sind diese neben weiteren Bereichen für den späteren Erwerb der Schrift- und Bildungssprache äußerst wichtig. Insbesondere mehrsprachige Kinder profitieren weniger von einer Sprachförderung, die auf die Vermittlung von Vokabeln zielt, als vielmehr von Sprachförderansätzen, die Sprachbewusstsein fördern und sprachübergreifende Erwerbsstrategien vermitteln. Die hierbei erworbenen Kompetenzen können sie auf sämtliche für sie relevante Sprachen anwenden und sie wirken nachhaltig. So bleibt die Sprachförderung nicht auf einsprachig deutsche Sprachsituationen beschränkt, denn das Kind kann z. B. Spracherwerbsstrategien zum Erhalt von Sprachinput auch in anderssprachigen Kontexten einsetzen.16
Sprachentwicklung ist eine komplexe Entwicklungsaufgabe
Sie stellt daher sowohl für ein- als auch für mehrsprachige Kinder eine Herausforderung dar. Dabei können sowohl für mehr- als auch für einsprachige Kinder vergleichbare Beeinträchtigungen und Risikofaktoren zum Tragen kommen. Hierzu zählen u. a. körperliche und/oder sensorische Beeinträchtigungen, Verhaltens- und emotionale Störungen, Entwicklungsauffälligkeiten unklarer Genese, Traumata, psychische Erkrankungen der Bezugspersonen, Konfliktbelastung in der Familie, soziale Problemlagen, familiäre Armut u. Ä.
Sprachentwicklungsstörungen (SES)
SES zählen zu den häufigsten Entwicklungsstörungen.17 Werden SES nicht frühzeitig erkannt und sprachtherapeutisch behandelt, können sie sich u. a. im Schulalter als Lese-Rechtschreibstörung manifestieren, ein erhöhtes Risiko für Störungen des Sozialverhaltens und emotionale Störungen darstellen und im Erwachsenenalter häufiger zu einem niedrigen Ausbildungsniveau sowie zu sozialer Exklusion führen.18 Daher ist ein frühzeitiger Ausschluss einer möglichen SES im Rahmen einer logopädischen Diagnostik für alle, sowohl für ein- als auch für mehrsprachige Kinder, entscheidend.
SES können verschiedene Ursachen zugrunde liegen, jedoch kann eine mehrsprachige Erziehung bzw. der Erwerb einer weiteren Sprache nicht ursächlich für eine SES sein. So wirkt eine einsprachige Erziehung bei einer vorliegenden SES im Mehrsprachigkeitskontext weder förderlich noch heilend.19
Kinder mit Beeinträchtigungen: Sollten sie mehrsprachig aufwachsen?
Grundsätzlich kann jedes Kind von einer mehrsprachigen Erziehung profitieren, sofern die Sprachen für das Kind echte Alltagsrelevanz besitzen. Dies gilt auch für Kinder, für die der Spracherwerb ohnehin eine Herausforderung darstellt, z. B. für Kinder mit geistigen oder sensorischen Beeinträchtigungen. Dennoch ist es wichtig, jene Kinder frühzeitig zu erkennen, für die der Spracherwerb eine besondere Herausforderung darstellt – dies gilt gleichermaßen für mehrsprachig und einsprachig aufwachsende Kinder.
Differenzierte Diagnostik ist gefragt
Mehrsprachige Kinder mit Sprachauffälligkeiten werden in verschiedenen Bereichen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystems vorgestellt, die sich jedoch in ihrem Verständnis und ihrer Organisationsstruktur und damit auch in ihrem Umgang mit Sprachauffälligkeiten bei Kindern unterscheiden; z. B. Kindertageseinrichtungen, ambulante Pädiatrie und Logopädie. So kann es vorkommen, dass die als sprachauffällig und somit von der deutschsprachigen monolingualen Norm als sprachlich abweichend geltenden Kinder auch gleichzeitig von mehreren unterschiedlichen Fachleuten betreut werden, d. h. Sprachförderung in einer Kindertageseinrichtung und Sprachtherapie in einer ambulanten logopädischen Praxis erhalten. Häufig wird dabei jedoch nicht zwischen einem Förder- und einem Therapiebedarf unterschieden, obgleich zahlreiche Studien belegen, dass von einer in Art und Ausmaß sehr unterschiedlich auftretenden Sprachentwicklungsstörung betroffene Kinder eine individualisierte logopädische Therapie benötigen. Denn aufgrund ihrer Defizite reicht bei diesen Kindern eine vorschulische Sprachförderung nicht aus.20 Hier gilt es also, ein frühes Bewusstsein für mögliche Abweichungen in der sprachlichen Entwicklung auszubilden und entsprechende Auffälligkeiten möglichst frühzeitig wahrzunehmen und differenzialdiagnostisch logopädisch abklären zu lassen.
Lesen Sie außerdem, wie Sie ein- und mehrsprachige Kinder in Sprache und Sprechen interaktiv fördern können.