Herr Dr. Segerer, in Ihrem Buch beschreiben Sie eindrücklich das Insektensterben. Wieso wird es verharmlost?
Wir Deutschen verbrauchen die Ressourcen von 3,2 Erden. Um das Insektensterben zu stoppen, müssten wir nachhaltig leben und wirtschaften. Es gibt Interessengruppen, wie die Agrarindustrie, den Bauernverband und Teile der Politik, denen es nicht gefällt, dass wir unsere Wirtschaftsweise ändern müssten. Milliarden stehen auf dem Spiel. Der Handel mit Dünger, Pestiziden und Saatgut ist ein Milliardengeschäft.
Das Perfide ist, dass Argumente von uns Wissenschaftlern ausgehebelt werden, um so das Insektensterben zu relativieren. So heißt es beispielsweise, dass wir nicht genug Daten hätten. Wie mächtig die Agrarlobby ist, zeigte sich 2001, als die damalige rot-grüne Regierung einen Versuch zu einer Agrarreform unternahm. Dieser ist kläglich am Widerstand der Bauernlobby gescheitert.
In Ihrem Buch schildern Sie Ihre eigenen Naturerlebnisse in der Kindheit. Warum brauchen Kinder unmittelbare Naturerfahrungen?
Die Natur ist sehr komplex. Nur, wenn Kinder mit Tieren und Pflanzen in Kontakt kommen, haben sie die Möglichkeit, Zusammenhänge in der Natur zu verstehen. Keine Skizzen, keine App oder Fotos können dies vermitteln. Die Naturkreisläufe unmittelbar erleben zu dürfen, bleibt den Kindern heute leider verwehrt. Aus Naturschutzgründen dürfen Kindergärten und Schulen beispielsweise keine Kaulquappen oder Raupen mehr fangen, um sie beobachten zu können, – jedenfalls nicht ohne hohen bürokratischen Aufwand zur Erlangung einer Ausnahmegenehmigung.
Tiere fangen, um sie schützen zu können – ist dies kein Widerspruch?
Nur wenn Kinder Tiere – ich spreche hier ausdrücklich von den wirbellosen Tieren – sammeln dürfen, können sie ein Verständnis für die Natur entwickeln. Der Artenschutz ist meiner Meinung nach ein Feigenblatt. Die Insekten sind ein gutes Beispiel dafür. Es gibt ein Millionenheer an Insekten, die eigentlich dazu da sind, das sie von anderen Tieren wie Fledermäusen oder Vögeln gefressen werden. Kinder, die Käfer sammeln, oder die rund 200 Schmetterlingssammler in Deutschland sind nicht das Problem. Das Insektensterben ist hauptsächlich Folge der intensiven Landwirtschaft und des Flächenverbrauchs.
Sie fordern (mehr) umweltpädagogische Lerninhalte in Kitas und Schulen. Wieso ist Ihnen das als Biologe ein Anliegen?
Wir stehen am Rande des ökologischen Kollapses. Die Kinder sind unsere Zukunft. Ich habe die Hoffnung, dass wenigstens die nächste Generation den Karren aus dem Dreck ziehen kann. Dafür muss sie zunächst die ökologischen Zusammenhänge verstehen und ein umweltpoltisches Bewusstsein entwickeln. Fundiertes Wissen und neue Ideen sind gefordert. Es braucht nichtsweniger als einen Systemwandel zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Wer, wenn nicht die heutigen Kinder, können dies umsetzen?
Was können Kitas für den Artenschutz denn ganz konkret tun?
Der Erhalt einzelner Arten ist nicht vorrangig. Es sollte nicht darum gehen, zu entscheiden, welche Arten geschützt werden und welche nicht. Viel wichtiger sind der Lebensraumschutz und die Erhaltung von Biotopen und deren Vielfalt. Kitas können solche Naturzusammenhänge kindgerecht vermitteln. Ganz konkret: Gehen Sie mit den Kindern raus und beobachten Sie gemeinsam die Natur. Legen Sie mit ihnen einen Teich oder eine Blumenwiese an. Anhand solcher Lebensräume lässt sich schon einiges an Naturwissen vermitteln. Die Kinder wiederum können ihren Eltern das Gelernte zeigen.
Stellen Sie sich das Jahr 2033 vor, also wenn ein heute 3-jähriges Kind erwachsen ist: Was wäre ein pessimistisches, was ein optimistisches Szenario?
Mein pessimistisches Szenario: Es geht so weiter wie bisher. Das Artensterben beschleunigt sich, der Klimawandel geht weiter, wir verbrauchen weiter zu viele Ressourcen, soziale Spannungen und Migration nehmen zu. Durch die Erderwärmung sterben die Korallenriffe, die artenreichsten Lebensräume der Meere. Die Regenwälder kollabieren, dadurch wird der Klimawandel weiter befeuert und unzählige Arten sterben aus.
Mein optimistisches Szenario: Wir begreifen endlich, dass wir grundlegend etwas verändern müssen. Wir etablieren eine öko-soziale Marktwirtschaft, in der das Allgemeinwohl über dem Profitstreben steht. Die sozial- und umweltpoltischen Grenzen dürfen nicht überschritten werden. Es bedarf einer Agrarwende, bei der Ökolandbau und nachhaltiges Wirtschaften im Vordergrund steht. Dünger und Pestizide werden verboten und dürfen nur im äußersten Notfall eingesetzt werden. Der Naturverbrauch muss gestoppt werden.
Meine Hoffnung gilt der kommenden Generation, dass sie endlich begreift, dass wir so nicht weiter machen können!
Interview: Barbara Brengartner, Redaktion kindergarten heute