Ada und Yasmin malen mit Buntstiften mehrere Prinzessinnen auf Papier und schneiden diese aus. Sie öffnen den Schrank, in dem es für jedes Kind eine eigene Schublade zum Aufbewahren von persönlichen Basteleien, Fundstücken aus der Natur u. Ä. gibt. Ihre hervorgeholten Schubladen stellen sie auf den Spieltisch. Statt die Puppen nur in den Schubladen zu verstauen, beginnen Ada und Yasmin den Inhalt neu anzuordnen. Eine ganz neue Spielidee ist entstanden.
Badewannen aus Käseschachteln
Die Kinder fangen an, für ihre Papierfiguren dort Wohnungen einzurichten. Nach und nach gestalten sie die ca. 25 x 40 cm großen Schubladen zu Puppenstuben um. Hierbei bedienen sie sich der unterschiedlichsten Materialien, die ihnen frei zugänglich zur Verfügung stehen:
- Keksschachteln werden zu Betten umgestaltet, indem sie zurechtgeschnitten und mit Decken aus buntem Tonpapier ausgestattet werden.
- Frischkäseschachteln werden zu Badewannen.
- Strohhalme, die klein geschnitten werden, sowie abgebrochene Buntstiftminen dienen als „Puppenessen“.
- Aus einer winzigen Schachtel und einem Papierstreifen wird ein PC.
- Reste von Bügelperlenbildern werden zu Tellern, Handtüchern und Teppichen
- Darüber hinaus benötigte Gegenstände (z. B. Besen, Essen u. Ä.) werden gemalt und ausgeschnitten.
Mit diesen einfachen Mitteln erschaffen die Kinder sich selbstständig ein fantasievolles Repertoire, das immer wieder verändert und erweitert wird. In den Schubladen sind die Puppenstuben gut aufgehoben und können nach Bedarf hervorgeholt werden, um an das vorangegangene Spiel anzuknüpfen. So spielen die Kinder wahlweise im Rollenspiel Prinzessinnen- und Meerjungfrauengeschichten oder interpretieren Märchen, die sie im Märchenprojekt kennengelernt haben. Neben solchen fantastischen Themen spielen die Kinder mit ihren „Puppen in der Schublade“ auch Situationen und Erlebnisse aus dem realen (Familien-)Leben nach.
Von der Puppenstube zum Rollenspiel
Immer wieder kommen andere Kinder an den Spieltisch und schauen den beiden Mädchen interessiert zu. Yasmin und Ada haben während der Entwicklung und ständigen Erweiterung ihrer Spielidee mehrere Nachahmer*innen unterschiedlichen Alters gefunden, die ihrerseits auch Puppenstuben eingerichtet haben. So werden jetzt oftmals mehrere Schubladen parallel bespielt und es entstehen Rollenspiel-Situationen mit bis zu sechs Kindern.
Die Puppenstuben-Gemeinde wächst auch nach Wochen immer noch weiter an. Die neueste Entwicklung ist bei einer Gruppe von drei Jungen zu beobachten, die Tiere und Figuren aus Papier ausschneiden und damit verschiedene Szenen darstellen. Aus einem Pappkarton haben sie eine Savannenlandschaft mit einer Wasserstelle und selbst gemalten Tieren, wie Krokodilen, einer trinkenden Giraffe und Fischen, gebastelt. Diese Szene im Karton ergänzen sie immer weiter. So haben sie – inspiriert von den „Puppenstuben in der Schublade“ – gemeinsam eine neue Spielidee entwickelt.
Die Bedeutung des Freispiels
Der kleine Einblick in einen kreativen und interaktiven Spielprozess zeigt das breite Kompetenzspektrum, das im freien Spiel zur Entfaltung kommt. So stärkt das intensive, engagierte und ausdauernde Spiel die emotionale Kompetenz der Kinder. Die gegenseitige Inspiration und Unterstützung fördert ihre Sozialkompetenz. Die Kompetenzen im motorischen Bereich werden durch die unterschiedlichsten Basteltechniken, die eine differenzierte Grob- und Feinmotorik erfordern, erweitert. Auch die kognitiven Kompetenzen erfahren durch das freie Spiel eine wesentliche Stärkung: Die Sprache wird differenzierter, der Wortschatz wird erweitert, das Farb- und Formverständnis sowie die räumliche Wahrnehmung werden gefördert und die Fantasie angeregt.
Die „Puppenstuben in der Schublade“ sind ein Beispiel dafür, wie fundamental das freie Spiel für die kindliche Entwicklung ist. Über das Spiel machen die Kinder sich ihre Welt erfahrbar, agieren selbstbestimmt und haben die Möglichkeit, vielfältige Lernerfahrungen zu sammeln. Dabei werden sie von den Erzieher*innen verlässlich begleitet, inspiriert und zu neuen Entwicklungsschritten im Sinne einer ganzheitlichen Pädagogik ermutigt.