Religiosität entspringt dem menschlichen Grundbedürfnis nach Sinn und Eingebundenheit. Dieses Bedürfnis ist unabhängig von Zeit und Epoche, von Bildung und Einsicht, von Kultur und Tradition. Eine religiöse Sicht der Welt grenzt sich beispielsweise von der Philosophie ab, da sie von einer übergeordneten, das Weltgeschehen und das persönliche Schicksal beeinflussenden Macht ausgeht. Religiosität ist in der Regel mit der Definition eines Gottesbegriffs verbunden. Die Auslegung des jeweiligen Gottesbegriffs kann verschiedene Weltreligionen bzw. religiöse Ausrichtungen unterscheiden oder verbinden. Allen gemeinsam ist das Ziel, den einzelnen Menschen mit dem Gott seiner Religion in Beziehung zu bringen und die Glaubensgemeinschaft in der gemeinsamen Ausübung und Pflege des religiösen Lebens anzuleiten.
Das frühkindliche Bedürfnis nach Sinn
Schon recht junge Kinder zwischen 3 und 6 Jahren beschäftigen sich mit Fragen nach dem größeren Zusammenhang aller Dinge, die sie erleben und erfahren. Sie sind hierbei erstaunlich frei in ihren Gedanken, da sie meist noch kein bestimmtes „Dogma“ oder keine spezifische religiöse Bildung prägt. Sie fragen z. B.:
- Wer hat den Mond und die Sterne gemacht?
- Wo wohnt Gott eigentlich?
- Wie kann Gott für so viele Menschen da sein?
- Kommt mein Meerschweinchen auch in den Himmel? Kinder stellen Verbindungen her zwischen erlebten Phänomenen der Welt und suchen Erklärungen, die ihnen logisch und sinnvoll erscheinen und die ihnen eine Antwort ermöglichen. Das religiöse Bedürfnis bei Kindern ist kein Bedürfnis, das künstlich ist oder von außen initiiert werden muss. Selbstverständlich ist die Intensität dieses Bedürfnisses individuell unterschiedlich stark ausgeprägt und äußert sich auf variable Art und Weise.
Woran sich Kinder orientieren
Die persönliche Umgebung jedes Kindes ist ein bedeutsamer Faktor, der die kindliche Beschäftigung mit Fragen nach Gott und dem Welt- und Lebenssinn beeinflusst. Die Haltung der Eltern oder Großeltern kann für ein Kind anregend und einladend sein. Die Stimmung kann aber auch areligiös oder ablehnend sein. Solche Faktoren sagen letztendlich nur bedingt etwas darüber aus, welches Bedürfnis das Kind aus sich heraus entwickelt. Die Sinnsuche bzw. religiöse Suche von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen kann sich selbstverständlich auch unabhängig von Bezugspersonen entwickeln.
Sehnsucht nach Geborgenheit
„Die Sehnsucht nach dem Geliebt-Werden hat der Mensch als Erbe mitbekommen.“1 Fragen nach Gott hält die Theologin Carola Schuster-Brink für eine Form von Sehnsucht nach Geborgenheit und für menschliche Klugheit. Fragen nach dem Warum und Woher und Wohin seien im religiösen Verständnis auch immer Fragen nach Gott. Viele Kinder besitzen Klugheit in diesem Sinne.
Kinder sollten nicht von religiösen Fragen ferngehalten werden, auch nicht ansatzweise. Es käme dem Versuch gleich, sie z. B. von der Beschäftigung mit Sexualität und Tod fernzuhalten. Da sie sich aus eigenem Antrieb für Existenzfragen interessieren, würde man sie alleinlassen, wenn man zu einer so wichtigen Thematik schweigt, um sie vermeintlich zu schützen. Die Auseinandersetzung mit dem Lebenssinn und mit Glauben oder Nicht- Glauben gehört ganz natürlich zum Leben von Kindern und Erwachsenen.
In der Frühpädagogik kann es letztendlich keine zwingende Verpflichtung geben, Kindern den Weg zu einem bestimmten Gottesbild zu ebnen. Der ganz persönliche Weg der Annäherung an die Gottesfrage ist ein individuelles (und familiäres) Recht. Religionsfreiheit steht auch Kindern zu und der eigene Weg macht den eigentlichen Wert der persönlichen Religiosität aus.
Mit Eltern kooperieren
Wie in allen Fragen der gemeinsamen pädagogischen Bemühungen um die Entwicklung der Kinder ist der kontinuierliche Dialog mit Eltern erforderlich. Im Erstgespräch erfahren die pädagogischen Fachkräfte die Religionszugehörigkeit der Familie und nehmen deren Wünsche in Bezug auf religiöse (oder entsprechend auf areligiöse) Erziehung wahr. Dabei erläutern sie den Umgang mit sinnklärenden und religiösen Kinderfragen in der Einrichtung und tauschen sich über die Formen von Berücksichtigung religiöser Geschichten, Traditionen und Feste im Sinne religiöser Bildung aus. Sie werben bei den Eltern um Verständnis dafür, dass sie sich die Art und Weise der Beschäftigung mit interreligiösen Themen vorbehalten, um möglichst allen Kindern gerecht zu werden.
Eltern müssen sich jedoch stets sicher sein können: Dieser Weg wird weder das kindliche Grundbedürfnis leugnen noch eine einseitige oder gar missionierende Ausrichtung haben. Umgekehrt dürfen sich pädagogische Fachkräfte für keine einseitig zu vermittelnde religiöse Haltung instrumentalisieren lassen. Vielmehr gilt es, Eltern zu spiegeln, dass in der Kita – im Sinne von Inklusion – aus religiöser Unterschiedlichkeit keine Auf- oder Abwertungen abgeleitet werden und alle Bildungsbestrebungen der Vermeidung von religiöser Diskriminierung dienen. Das macht Respekt als allseitiges Leitziel transparent.
Zu Respekt und Toleranz beitragen
Die aktuellen gesellschaftlichen Wandlungen stellen unser Gemeinwesen in Bezug auf Friedfertigkeit, Demokratie und Toleranz auf die Probe. Glaubwürdig gelebte Interreligiosität und Religionsrespekt sind dabei die Faktoren gelingender Multikulturalität und Integration. Frühpädagogik kann mit ihrer Bildungsarbeit wirkungsvoll dazu beitragen, dass Kinder und die sie begleitenden Erwachsenen:
- die eigene Religion kennen- und schätzen lernen,
- andere Religionen kennen- und schätzen lernen,
- atheistische Haltungen respektieren lernen,
- das Gefühl entwickeln, Religionsfreiheit für sich und andere als Persönlichkeitsrecht zu erkennen und zu akzeptieren. Interreligiöse Bildungsarbeit erfüllt auch wichtige Aspekte von Partizipation und einer Wertschätzung demokratischer Haltung. Denn religiöse Bildung findet immer im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext statt.
Interreligiöse Praxis
In der interreligiösen Bildung geht es darum, dass Kinder die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Lebensphilosophien und Religionen wahrnehmen und kennenlernen. Spielerisch wird vermittelt, um was es bei den für Menschen bedeutsamen Werten geht und wie diese im Alltag erfahrbar werden. Hierbei Kinder mit ihren Gedanken und Gefühlen, ihrem Vorwissen und ihren familienbezogenen Vertrautheiten einzubeziehen, unterstützt Bestrebungen nach frühkindlicher Partizipation. An den gemeinsamen, verbindenden Werten und (Menschen-)Rechten kann sich dann das interreligiöse Zusammenleben orientieren.
Themenfelder der interreligiösen Impulse:
- „Ich weiß, ich bin geborgen“ – Vertrauen als interreligiöses Thema
- „Wie ist das alles nur entstanden?“ – Schöpfung als interreligiöses Thema
- „Das allerschönste Gefühl!“ – Liebe als interreligiöses Thema
- „Wie geht Beten? – Wie geht Fasten?“ – Anbetung und Verzichten als interreligiöses Thema
- „Bist du wieder mein Freund?“ – Versöhnung und Vergebung als interreligiöses Thema
- „Alle Menschen brauchen Frieden!“ – Gewaltlosigkeit und Frieden als interreligiöses Thema
- „Du bist wichtig und wertvoll!“ – Gleichwertigkeit und Achtung als interreligiöses Thema
- „Danke ist das Zauberwort!“ – Dankbarkeit als interreligiöses Thema
- „Ich bin reicher, wenn ich teile!“ – Mitgefühl und Solidarität in der Gemeinschaft als interreligiöses Thema
- „Auf das Gute dürfen wir hoffen!“ – Hoffnung und Ewigkeit als interreligiöses Thema
Impulse zur interreligiösen Praxis
In der neuen Artikelreihe „Interreligiöse Impulse“ geht es darum, 1. die interreligiösen Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen, 2. die Auseinandersetzung mit interreligiöser Bildung und Erziehung durch konkrete Anregungen zu unterstützen und sie 3. um praktische Erlebnisse zu bereichern. Die Impulse verfolgen das Ziel, die individuellen Fragen der Kinder nach dem Lebenssinn und ihre Bedürfnisse nach Welterklärung pädagogisch aufzugreifen, so wie es auch als Auftrag an Kitas formuliert ist.