Eine Analyse der Zusammenarbeit zwischen Kita und FamilieUnd wo bleiben die Kinder?

In der Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie bleiben Kinder außen vor. Die Wissenschaftlerin Tanja Betz bedauert dies und äußert Ideen, wie eine andere Zusammenarbeit aussehen kann.

Und wo bleiben die Kinder? Eine Analyse der Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie
© Betz et al. 2019, S. 163, mit freundlicher Genehmigung der Bertelsmann Stiftung

kindergarten heute: Der Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie wird insbesondere als Bildungs- und Erziehungspartnerschaft fachlich ein großes Gewicht beigemessen. Zahlreiche Leitlinien und Qualitätsstandards bauen darauf auf. In allen Bildungs- und Erziehungsplänen der Länder ist die Zusammenarbeit ein Schwerpunkt. Begründet wird das damit, dass die Partnerschaft dem Wohle der Kinder diene und ihre Entwicklung positiv beeinflusse. Inwiefern sind die Kinder Akteur*innen dieser Zusammenarbeit?

Tanja Betz: Die Kinder sind in den fachlichen, politischen und rechtlichen Dokumenten gerade nicht Akteur*innen, sondern der Ausgangspunkt von Zusammenarbeit. Für ihr Wohl, ihre Entwicklung, ihre Bildungsbiografie etc. soll zusammengearbeitet werden. Zugleich lässt sich die gelungene partnerschaftliche Zusammenarbeit wiederum an den Kindern ablesen. Damit sind die Kinder auch Ergebnis bzw. Outcome der Zusammenarbeit. Inwiefern sie aber selbst Akteur*innen der Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie sind und wie sie es werden könnten, wird kaum thematisiert. Dies gilt mit Blick auf die Fachdebatte, die politische Rahmung sowie die empirische Forschung gleichermaßen.1

Die Kinder stehen also einerseits immer im Mittelpunkt der Zusammenarbeit und anderseits zugleich auch nicht?

Ja, genau, denn es dominieren eindeutig die Erwachsenen. Die vorgetragenen Argumente und die eingebrachten Perspektiven sind stark von ihnen und den Institutionen ausgedacht. Dies gilt auch, wenn mancherorts die Kinder explizit als Partner*innen von Fachkräften und Eltern benannt werden, wie u. a. im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan. Wie Kinder als Partner*innen in der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft überhaupt zu denken sind und wie sich eine solche Partnerschaft in der Kita-Praxis umsetzen lässt, bleibt nicht nur in der Literatur, sondern auch in der pädagogischen Praxis zumeist offen.

Die Studie „Kinder zwischen Chancen und Barrieren“

Über ein Jahr hinweg haben Forscherinnen den Alltag in vier Kitas unterschiedlicher Trägerschaften teilnehmend beobachtet. Die Forscherinnen führten außerdem Interviews und Gespräche mit Fachkräften, Leitungen und Erziehungsberechtigten zur Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie.

Die Ergebnisse liefern Einblick in die jeweiligen Perspektiven von Fachkräften und Eltern auf Bildungs- und Erziehungspartnerschaft und die Probleme ihrer Umsetzung sowie in die Perspektiven von Fachkräften darauf, wie sie „die“ Eltern sehen. Analysiert wurde auch, welche Erfahrungen Fachkräfte und Eltern mit Zusammenarbeit machen und wie sie diese erleben. Herausgearbeitet wurden dabei Passungen, Spannungen und Konflikte. Auch die strukturellen Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit wurden beleuchtet und Situationen des Kita-Alltags, die deutlich werden lassen, wie konsensuell, aber auch spannungsreich Fachkräfte und Eltern aufeinandertreffen. Zudem wurde der Frage nachgegangen, wie sozial unterschiedlich situierte Eltern sich gegenüber Fachkräften und Kitas positionieren und welche Position Kindern in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Familie, aus Sicht von Fachkräften und Eltern, zukommt.

Die Studie kann kostenfrei heruntergeladen werden unter www.bertelsmann-stiftung.de/chancen-barrieren-kita

In Ihrem Forschungsprojekt „Kinder zwischen Chancen und Barrieren“ haben Sie Fachkräfte und Eltern befragt, was Kinder in der Zusammenarbeit denn wirklich tun. Und, was haben Sie herausgefunden?

Unsere Fragen danach, was Kinder in der Zusammenarbeit tun, welche Beiträge Kinder also zur Zusammenarbeit leisten, löste erst einmal Irritation und Nachdenken aus. Fachkräfte und Eltern sind nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch real – belegt durch die Interviews – ganz selbstverständlich in die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kita und Familie eingebunden und verfügen über sehr viel Detailwissen hierzu. Auf Kinder trifft dies, unseren Analysen zufolge, erst einmal nicht zu.

Was bedeutet das, insbesondere für die Kinder?

Diese Beobachtung ist insofern interessant, als dass erstens kindheitstheoretisch davon auszugehen ist, dass Kinder als Akteur*innen ganz selbstverständlich daran beteiligt sind, das Verhältnis zwischen Kita und Familie auszugestalten. Sie sind bei Begegnungen, Kontakten etc. auf sehr unterschiedliche Art und Weise involviert und leisten eigene Beiträge dazu, wie das Verhältnis zwischen Kita und Familie gestaltet wird. Die Frage ist also, wie sensibel Fachkräfte dafür sind, diese Beiträge der Kinder auch als solche wahrzunehmen, und wie sie die Beteiligung der Kinder an der Zusammenarbeit bewerten.

Zweitens ist dies auch vor dem Hintergrund der Kinderrechte spannend: Was heißt Einbeziehung der Kinder in alle sie betreffenden Entscheidungen denn mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und Eltern?

Dennoch können Sie ja belegen, dass Kinder Beiträge zur Zusammenarbeit leisten.

Ja, Fachkräfte und Eltern beschreiben, wie vielfältig Kinder den Eltern über die Tagesabläufe in den Einrichtungen berichten oder auch, dass sie den Eltern übermitteln, dass sie sich wohlfühlen und ein gutes Verhältnis zu einer Fachkraft haben. Zudem werden spannungsvolle Momente beschrieben wie berichtete Auseinandersetzungen unter Kindern oder zwischen Kind und Fachkraft. Darüber hinaus geben Kinder Informationen an die Eltern weiter, die sich auf die Organisation Kita beziehen, ihre Regeln oder auch Interna unter Fachkräften wie z. B., dass die Fachkräfte noch nicht wüssten, was sie den Eltern bei der Elternversammlung erzählen sollen.

Auch umgekehrt gibt es vielfältige Beispiele dafür, was und wie Kinder den Fachkräften von Zuhause erzählen. Auch hier werden bisweilen spannungsvolle Aspekte deutlich sowie auf die Familie bezogene Informationen.

Welche Aufgaben und/oder Rollen übernehmen die Kinder?

Kinder bearbeiten u. a. das grundlegende Informationsdefizit der Erwachsenen. Sie sind die einzigen Personen, die sich in und zwischen beiden Welten, Kita und Familie, bewegen. Zum einen, so könnte man sagen, tragen sie damit zur politisch geforderten „wechselseitigen Öffnung“2 zwischen Kita und Familie bei. Zum anderen verbinden sie durch ihre Erzählungen die beiden Welten und gewähren Eltern bzw. Fachkräften Einblicke in ihnen sonst nicht zugängliche Erlebnisse, Erfahrungen und Routinen. Dass dies gerade für Eltern bedeutsam ist, zeigt sich ebenfalls in den Interviews.

Neben den Erzählungen initiieren Kinder z. B. auch den Kontakt zwischen ihren Eltern und den Fachkräften und verfolgen dabei bestimmte Interessen. Beispielsweise soll eine Fachkraft – im Auftrag des Kindes – einer Mutter sagen, dass diese früher da sein solle. Auch geht es darum, gemeinsam Probleme des Kindes zu lösen, wenn z. B. ein Spielzeug nicht auffindbar ist und das Kind anregt, dass es gemeinsam gesucht wird. Ein weiteres Beispiel ist, dass ein Kind seine Mutter bittet, einen als „unglaublich“ markierten Sachverhalt aufzuklären, um bei der Fachkraft wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

Welche Aufgaben und/oder Rollen übernehmen die Kinder außerdem?

Sie besetzen eine spezifische Vermittlungsposition zwischen Kita und Familie, auch dann, wenn sie den Erwachsenen den Weg ebnen, dass diese miteinander in Kontakt treten können, wie z. B., wenn die Kinder als Dolmetscher agieren. Darüber hinaus erteilen Fachkräfte Kindern Aufträge, z. B. Schuhe, Turn- oder Badesachen mitzubringen, und instruieren das Kind – als Bote –, doch mit der eigenen Mutter zu sprechen.

Das Kind übernimmt also einen Part in der Organisation des Alltags.

Ja, genau. Die Aufträge der Fachkräfte an die Kinder ragen dabei in die Familie hinein, denn die Fachkräfte sind nicht dabei, wenn der Turnbeutel für den nächsten Tag zu Hause gepackt wird. Diese Aufträge werden dabei von den Fachkräften auch als pädagogische Maßnahme gerahmt. Die Kinder sollen z. B. lernen, selbstständiger zu werden und sich zu kümmern. Zudem gibt es Interviews, in denen deutlich wird: Es geht bei diesen Aufträgen an die Kinder auch um die Erziehung und Information der Eltern. Die Kinder sollen die Eltern z. B. ermahnen, neue Hausschuhe mitzubringen, oder auch die Mutter informieren: „Sag deiner Mama, da gibt’s ein Gesetz, Kinder dürfen nicht geschlagen werden.“

Welches Standing haben Kinder dann? Und ist das für sie vorteilhaft? Wo sehen Sie Schwierigkeiten für die Kinder?

Das ist sehr unterschiedlich und verändert sich ja auch. Zum einen kann es schwierig für Kinder werden, wenn sie ihre Eltern an deren Versäumnisse erinnern und ermahnen sollen, zum anderen kann es als Privileg empfunden werden, etwas zu übermitteln und einbezogen zu werden und dadurch auch viel zu erfahren. In jedem Fall ist das nicht per se gut oder schlecht, sondern man muss genau hinschauen, was Kinder und Erwachsene in solchen Situationen daraus machen.

Was denken Fachkräfte und Eltern darüber, Kinder evtl. mehr und/oder anders in die Zusammenarbeit einzubeziehen?

Die Idee, dass Kinder an (Entwicklungs-)Gesprächen zwischen Fachkraft und Eltern teilnehmen, wurde mehrfach geäußert. Da Gespräche im Beisein der Kinder in den beteiligten Einrichtungen aber kaum umgesetzt werden, ging es in unseren Interviews daher weniger um eigene Erfahrungen als vielmehr um die Vorstellungen der Fachkräfte und Eltern dazu, Kinder in Gespräche einzubeziehen.

Und wie sehen die Vorstellungen dazu aus?

Eltern und Fachkräfte lehnen, den Ergebnissen zufolge, den Einbezug von Kindern in Gespräche entweder eher grundsätzlich ab, oder aber sie legen sehr differenziert dar, unter welchen Voraussetzungen Kinder einbezogen werden könnten. Eine grundsätzliche Befürwortung findet sich nirgends. Genannt wird, dass Eltern/Familien das nicht wollen und z. B. ihrem Kind verbieten teilzunehmen. Wobei das keine zentrale Rolle in den Interviews spielt. Angesprochen wird auch die spezifische Konstellation/Situation in der Einrichtung. Wenn z. B. etwas Positives besprochen werden soll oder wenn es um ein Fehlverhalten des Kindes geht, könnten Kinder an Gesprächen beteiligt werden.

Interessanterweise beziehen sich viele Interviewsequenzen darauf, dass Eltern und Fachkräfte die Beteiligung an Gesprächen vom Kind selbst abhängig machen. Dabei wird ein Maßstab formuliert, wie sich Kinder zu verhalten haben und über welche Fähigkeiten Kinder verfügen müssen, um beteiligt zu werden. Gespräche mit „ruhigen, konzentrierten“, „bisschen vernünftigeren“ und „fitten“ Kindern erscheinen möglich; Gespräche mit Kindern aber, die „dann auch was sagen“ wollen und „dazwischenreden“, werden als schwieriger eingestuft.

Auch das Alter, die (Mutter-)Sprache und die Entwicklung des Kindes werden als relevante Faktoren für die Beteiligung von Kindern oder aber ihre Nicht-Beteiligung an Eltern-Fachkraft-Gesprächen genannt.

Wo sehen Sie Möglichkeiten, Kinder – mehr als bisher – an der Zusammenarbeit zu beteiligen?

Während unserer Teilnahme am Alltag konnten wir zahlreiche Situationen in Kitas beobachten, die sich mehr oder weniger beiläufig ereignen, in denen sich Elternteil und Fachkraft oder auch Fachkräfte untereinander austauschen und dies vielfach mit Beteiligung des Kindes bzw. in Anwesenheit des Kindes bzw. auch von mehreren Kindern. Dies geschieht, ohne dass dies den Beteiligten bewusst sein muss, z. B. in den täglichen Bring- und Abholsituationen. In diesen informellen Situationen gäbe es viele Möglichkeiten, Kinder in eine stärkere Akteur*innen-Position zu rücken. Dies wäre auch in formellen Settings wie Entwicklungs- oder Abschlussgesprächen möglich.

Was können Sie unseren Leser*innen zusammenfassend zu diesem Thema empfehlen?

Wichtig wäre es, sensibel zu sein für die vielfältigen Beiträge der Kinder als Akteure und Akteurinnen der Zusammenarbeit. Sich also bewusst zu machen, was Kinder hierbei alles tun und tun könnten, wie ihre Sichtweisen auf ganz konkrete Situationen der Zusammenarbeit sind und wie sich ihre Position verändert, wenn Fachkräfte und Eltern immer intensiver zusammenarbeiten und sich austauschen. Dabei ist es bedeutsam, nicht nur – wie bislang – die Chancen der Kinder durch die Zusammenarbeit in den Vordergrund zu rücken, z. B. wenn sie eigene Interessen durchsetzen, wenn sich die Beziehung zwischen Kita und Familie verbessert. Denn ebenso gilt es, Barrieren für Kinder und ihre Eltern nicht aus den Augen zu verlieren, z. B mit Blick darauf, dass Kinder, die nicht der Norm entsprechen, an Eltern-Fachkraft-Gesprächen ggf. nicht beteiligt werden. Wie ist es möglich, allen Beteiligten hierbei bestmöglich gerecht zu werden?

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