Spielzeugfreie Zeit fördert die Entwicklung der PersönlichkeitWenn aus Kartons Schlösser werden

Drei Monate ohne vorgefertigte Spielsachen. Was machen da wohl die Kinder? Das untersuchte ein Münchener Programm. Hier die Ergebnisse.

Wenn aus Kartons Schlösser werden
© Lumi Images - Dario Secen - mauritius_images

Die Lebenswelt von Kindern ist heute geprägt von einer Fülle an vorgefertigtem und instruierendem Spielzeug. Diese Fülle kann einerseits Spiel-Impulse geben, andererseits aber auch Fantasie und Kreativität einschränken. Zudem kann Spielzeug dieser Art mangelnde Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit kompensieren oder es erleichtern, allein über den Besitz zu einer Gruppe dazuzugehören.1 Die eigentlich erforderlichen lebenspraktischen Fähigkeiten, die sogenannten Lebenskompetenzen, können durch die Verwendung solchen Spielzeugs nur unzureichend entwickelt werden. Doch gerade die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist nach aktuellem Forschungsstand für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung unabdingbar und deren Förderung gilt inzwischen als zentrale Strategie der Gesundheitsförderung und Suchtprävention.2 Zu den Lebenskompetenzen gehören laut WHO

  • Selbstwahrnehmung,
  • Empathie,
  • kreatives Denken,
  • kritisches Denken,
  • die Fertigkeit, Entscheidungen zu treffen,
  • Problemlösefertigkeit,
  • kommunikative Kompetenz,
  • interpersonale Beziehungsfertigkeiten, also z. B. Freundschaften schließen und aufrechterhalten,
  • Gefühlsbewältigung und
  • Stressbewältigung.3

Ab in den Urlaub!

Mit dem Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten4 wurde bereits 1992 genau hier angesetzt: Für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten schickten Erzieher*innen und Kinder das Spielzeug gemeinsam „in den Urlaub“. Möbel, Decken und Kissen durften bleiben. Außerdem durfte auf konkrete Nachfrage der Kinder Material, jedoch kein vorgefertigtes Spielzeug genutzt werden. Der oftmals stark strukturierte Kindergarten-Alltag wurde aufgebrochen und die Möglichkeit zum Freispiel geschaffen.5 Den Kindern sollte so der Anlass gegeben werden, sich u. a. mit eigenen Bedürfnissen und dem eigenen Rhythmus auseinanderzusetzen sowie auf Gruppenprozesse einzulassen und in verschiedenen Rollen auszuprobieren. Auch die Fachkräfte mussten andere Rollen einnehmen: Spielund Themenangebote fielen weg und sie begleiteten die Kinder im Spiel sowie in den Lern- und Aushandlungsprozessen.
In München wurde das Projekt im Kindergartenjahr 2017/18 wiederbelebt. Dabei unterstützten externe Fachkräfte die sechs teilnehmenden Einrichtungen punktuell bei der Umsetzung, koordiniert durch das „Pädagogische Institut − Zentrum für kommunales Bildungsmanagement“. In diesem Rahmen wurden die beteiligten Fachkräfte, Leitungen und Eltern befragt, um den Erfolg des Projekts zu ermitteln (s. Kasten). Die teilnehmenden Einrichtungen kannten das o. g. Projekt nicht und hatten es vorher nicht umgesetzt.

Fachkräfte bestätigen Kompetenzgewinn

  • Die Fachkräfte sollten einschätzen, wie viele Kinder ihre Lebenskompetenzen durch das Projekt weiterentwickeln konnten. Dabei wurden bestimmte Bereiche abgefragt, die laut Literatur grundsätzlich besonders gut durch das Projekt gefördert werden können (z. B. kommunikative Fähigkeit, Beziehungsfähigkeit, Kreativität). Auch wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, zeigen sie dennoch eine Tendenz auf: So gab die Hälfte der Fachkräfte − in vielen Fällen sogar deutlich über die Hälfte − an, dass es entweder bei allen oder bei den meisten Kindern zu einem Kompetenzzuwachs durch das Projekt gekommen sei (s. Grafiken). Zudem wurden die Fachkräfte gefragt, welche weiteren Veränderungen sie im Laufe des Projektes wahrgenommen hätten (offene Antwortmöglichkeit). Erlebt wurde, dass … (Mehrfachnennungen):
  • die Kinder sich mehr miteinander beschäftigten und vermischten, z. B.: „Selten spielten Kinder für sich allein“; „Manche Kinder haben mehr Interesse an uns Erzieher*innen und am Leben der anderen Kindern gezeigt“; „Die Kinder haben mehr nachgedacht, gefragt, sich mehr für Dinge um sie herum interessiert“.
  • die Kinder mehr partizipierten, weniger Hilfe benötigten und Regeln selbst entwickelten, z. B.: „Die Kinder bewegten sich bewusst im Haus und haben Freude daran entwickelt, allein entscheiden zu können“; „Sie haben nicht mehr so viel nach Erwachsenen gefragt, um die Situation zu klären“.
  • die Kinder mehr Ideen hatten, z. B.: „Die Kinder waren kreativer, haben mehr mit Naturmaterialien gespielt“; „Die Gartenliebe und Naturbeobachtung ist bei den meisten Kindern auch danach geblieben“.
  • zurückhaltende Kinder mehr aus sich herausgekommen sind.

Aha-Erlebnisse auch bei den Eltern

Die Eltern zeigten anfangs eine gewisse Skepsis. Sorgen der Eltern, die zur Skepsis beitrugen, lösten sich im Laufe des Projektes aber oftmals auf. So schrieb beispielsweise ein Elternteil vor dem Start: „Ich hatte Angst, dass mein Sohn sich zurückzieht (schüchternes Kind)“, und nach dem Projekt: „Mein Sohn hat neue Freunde, hat mehr erzählt, hat auch selbst bestimmt, zu Hause gab es weniger Konflikte.“ Ein geringer Anteil blieb auch danach gegenüber dem Projekt etwas kritisch. Insgesamt zeigte die Auswertung der Elternbefragung aber, dass auch diese eine umfassende Kompetenzentwicklung durch das Projekt erlebten:

  • 26% gaben an, dass es zu einer sehr starken Weiterentwicklung der Kreativität gekommen sei, weitere 51% nahmen eine leichte Steigerung wahr.
  • Mit insgesamt 72% (18% sehr stark, 54% etwas) benannten die Eltern den Bereich „eigene Lösungen entwickeln“.
  • 30% gaben an, dass es im Bereich Selbstständigkeit zu einer sehr starken Weiterentwicklung gekommen war, ein weiteres Drittel (36%) bewertete dieses Kriterium mit „etwas“.
  • Jeweils ein Viertel (24% bzw. 27%) gab an, dass es zu einer sehr starken Weiterentwicklung in den Bereichen „Kommunikative Fähigkeiten“ und „Selbstvertrauen“ gekommen war. Etwa ein weiteres Drittel (38% bzw. 35%) benannte hier, dass das Projekt etwas zur Weiterentwicklung beigetragen hatte.
  • Bei „Beziehungsfähigkeit“ und „Gruppenzugehörigkeit“ konnten jeweils 19% der Eltern eine sehr starke Weiterentwicklung feststellen, 39% bzw. 35% bewerteten diese Bereiche mit „etwas“.
  • Im Bereich „Konfliktlösefähigkeit“ gaben 41% an, dass es zu einer Weiterentwicklung kam (7% sehr stark, 34% etwas).

Fazit: Mut zu spielzeugfreien Zeiten

Die Auswertung zeigt, dass sowohl Fachkräfte als auch Eltern eine umfassende Stärkung der Lebenskompetenzen bei den Kindern wahrnehmen – und dies bereits nach erstmaliger Durchführung des Projektes. Aus der Literatur ist bekannt, dass dieser Effekt durch Wiederholung sogar verstärkt werden kann. Dies bestätigen auch andere Praxiserfahrungen. Eine Ermutigung für alle Verantwortlichen, spielzeugfreie Zeiten im Konzept der Einrichtung zu verankern. 

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