Herr Maywald, wo sehen Sie im Kontext der Kita-Schließungen wegen Corona die größten Gefahren im Hinblick auf das Kindeswohl?
Wie in jeder Krise leiden die Schwächsten am meisten. Dies betrifft neben alten und kranken Menschen vor allem die Kinder. In den ersten Tagen rückten die Menschen noch zusammen, weil Not verbindet. Je länger aber die Krise mit allen ihren gravierenden Einschränkungen andauert, desto mehr machen sich bereits vorhandene Konflikte in den Familien bemerkbar und kommen noch neue hinzu. Spannungen zwischen den Eltern, wirtschaftliche Existenzsorgen und Zukunftsängste der Erwachsenen vermengen sich zu einer gefährlichen Mixtur. Das bleibt natürlich auch den Kindern nicht verborgen. Besonders belastet sind in dieser Situation Alleinerziehende, psychisch und suchterkrankte Eltern sowie Familien, die in großer räumlicher Enge zusammenleben. Auch die Kinder selbst werden herausfordernder. Ihre bisher gewohnten Strukturen fallen weg, was sie stark verunsichert. Häufig stellen sie deshalb Fragen, auf die die Erwachsenen – zumindest auf Anhieb – keine kindgerechten Antworten finden. Hinzu kommt, dass wichtige Unterstützungssysteme wegbrechen. Die Schule und die Kita fallen aus. Letztere bietet bestenfalls noch eine Notbetreuung an. Aber auch die Beratungsstellen und sogar die Jugendämter müssen ihre Angebote stark einschränken und können sich häufig nur noch um die dringendsten Probleme kümmern. Es ist davon auszugehen, dass Erschöpfung, Überlastung, Kindeswohlgefährdungen und auch manifeste Misshandlungen, Vernachlässigungen und sexueller Missbrauch in den Familien deutlich zunehmen. Vor allem was im Verborgenen bleibt, das sogenannte Dunkelfeld, dürfte um einiges größer werden.
Haben die pädagogischen Fachkräfte in Kitas denn irgendwelche Möglichkeiten, trotzdem mit gefährdeten Familien in Kontakt zu bleiben?
Ich empfehle, sämtliche Möglichkeiten des „sozialen Austauschs auf Distanz“ wie E-Mail-Verteiler, Gruppenchats, Telefon, Post etc. zu nutzen, um mit den Familien kontinuierlich in Kontakt zu bleiben, und zwar mit den Familien aller Kinder. Die aktuelle Krise sollte die Kitas auch dazu anregen, neue Kontaktmöglichkeiten einzurichten – selbstverständlich nur mit Erlaubnis der Beteiligten und unter Beachtung der Vorgaben des Datenschutzes. Erfahrungsgemäß können schon kleine Aufmerksamkeiten viel bewirken. Die Eltern und Kinder freuen sich, wenn sie erleben, dass man in der Kita an sie denkt und ihnen in dieser schwierigen Situation Mut machen will. Aber auch durch den Versand von Empfehlungen und wichtigen Links an die Eltern, Spielanregungen für die Kinder oder Fotos aus der Kita kann die Einrichtung einen hilfreichen Beitrag leisten. Besonders belastete Familien sollten auf passgenaue Hilfsangebo te außerhalb der Kita aufmerksam gemacht werden. Dafür ist es notwendig, dass insbesondere die Leitung gut vernetzt ist und über eine Art „Landkarte“ psychosozialer und medizinischer Einrichtungen verfügt. Darüber hinaus sollte unbedingt auch im Auge behalten werden, dass auch bisher unauffällige Familien in einer solchen Krisensituation unerwartet in Not geraten können.
Worauf müssen pädagogische Fachkräfte in der Zeit danach besonders achten?
Jeder Schritt auf dem Weg zur Normalität ist ein Grund zur Freude und sollte bewusst wahrgenommen und nach Möglichkeit gefeiert werden. Zugleich ist aber auch davon auszugehen, dass viele Folgen der Corona-Krise noch lange anhalten oder sich sogar erst mit zeitlicher Verzögerung zeigen werden. Die pädagogischen Fachkräfte müssen damit rechnen, dass viele Kinder den Schutzraum Kita nutzen werden, um ihrem bis dahin zurückgehaltenen Bewegungsdrang, aber auch Gefühlen wie Angst, Wut und Traurigkeit freien Lauf zu lassen. In dieser Situation sind klare Strukturen und feste Rituale, aber auch kindgerechte Möglichkeiten der freien Entfaltung wie zum Beispiel Bewegungs- und Kreativangebote besonders wichtig. Außerdem sollten die Fachkräfte gut auf Coronabezogene Fragen der Kinder vorbereitet sein und sich selbst mithilfe seriöser und offizieller Quellen über die Pandemie informieren. Wichtig ist auch, den Austausch innerhalb des Teams zu suchen, um mit den eigenen Verunsicherungen professionell umgehen zu können. Kinder, die in ihrem Wohl gefährdet sind, werden ihr Leid mit größter Wahrscheinlichkeit nur selten offen benennen und stattdessen vor allem non-verbale Signale aussenden oder Auffälligkeiten in ihrem Verhalten zeigen. Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern kann schwieriger werden. Manche Eltern werden für die eigene Unsicherheit oder ihre wirtschaftlich angespannte Situation Entlastung darin suchen, dass sie überhöhte Ansprüche an die Kita herantragen und/oder unberechtigte Vorwürfe gegenüber den Fachkräften äußern. Für diesen Fall sind funktionierende Beschwerdeverfahren unerlässlich, um Klagen auf ihre Berechtigung überprüfen und faire Lösungen finden zu können. Die Zeit nach der Krise wird also mit hohen professionellen Anforderungen verbunden sein, an denen die Kitas aber auch wachsen und durch die sie sich weiterentwickeln können.