Ein Blick zurück – Entwicklungen in der Frühpädagogik seit 1971Damals …

Vor 50 Jahren erschien die erste Ausgabe von kindergarten heute. Die Themen, die in den fünf Jahrzehnten seither aufgegriffen wurden, spiegeln zugleich, wie sich Fachpolitik und die Institution Kindergarten bzw. Kita verändert haben und was Fachkräfte bewegte.

Damals
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Die 50er- und 60er-Jahre

Noch in den 1950er- und 60er-Jahren spielt der Kindergarten in Westdeutschland nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das sozialpolitische Engagement der Bonner Republik gilt in erster Linie der Familie. In den mehrheitlich von konfessionellen Trägern betriebenen Einrichtungen wird an der fürsorgerischen Funktion des Kindergartens festgehalten: Der Kindergarten ist „immer nur als Ausnahme und Hilfeeinrichtung (anzusehen) wo die Familie und besonders die Mutter nicht bieten kann, was des Kleinkindes ist“1.

Die 70er-Jahre

Erst der 1970 veröffentlichte „Strukturplan für das deutsche Bildungswesen“ setzt neue Impulse. Darin fordern Bildungsexpert*innen den Ausbau der Kindergartenplätze und ein Umdenken in der Kindergartenpädagogik. Unter der damaligen Regierungskoalition aus SPD und FDP wird in einigen Bundesländern ein Erprobungsprogramm zu verschiedenen Modellprojekten gestartet. Im Fokus dieser „Vorschulerziehung“ steht die Förderung kognitiver Fähigkeiten des Kindes, die durch Bereitstellung von Materialien wie z. B. „Logischen Blöcken“, „Spracherziehung“ und „frühem Lesen lernen“ unterstützt werden soll. Darüber hinaus geht es grundsätzlich um die Frage, wo die Förderung 5-Jähriger besser gelingt: im Elementarbereich, in einer sogenannten Vorschulgruppe des Kindergartens (Fröbel: „Vermittlungsgruppe“) oder durch die Vorverlegung des Einschulungsalters, de facto also in der Primarstufe des Schulsystems. In ihrem Abschlussbericht stellt die Bund-Länder-Kommission 1976 fest, dass sich keine Anhaltspunkte ergeben hätten, die 5-Jährigen einheitlich organisatorisch zuzuordnen. Jedoch wirke sich der Besuch – unabhängig von der institutionellen Form „vorschulischer“ Erziehung – in jedem Fall förderlich auf die Entwicklung der „kindlichen Persönlichkeit“ aus. Das Programm der „Vorschulerziehung“ war kein theoretisch begründetes, frühpädagogisches Handlungskonzept im engeren Sinn, wie wir es in einer Vielfalt von Fröbel bis heute kennen. Vielmehr handelte es sich um ein kompensatorisches Programm für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, basierend auf Ergebnissen der amerikanischen Sozialisationsforschung (Head-Start-Programm).
Zeitgleich entstehen als Gegenentwurf zum „Kindergarten“ und initiiert von der 1968er-Studentenbewegung die sogenannten Kinderläden. Der Kinderladen, der in leer stehenden Ladengeschäften – meist in Groß- und Universitätsstädten – eigenverantwortlich von Eltern betrieben wird, steht für die „antiautoritäre Erziehung“ – eine Mischung aus Gesellschaftskritik und Psychoanalyse. Das damals äußerst populäre Buch „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller setzt sich mit den Folgen einer „autoritären“, auf Verboten und Geboten gründenden Erziehung in Schule und Familie auseinander. Als Teil einer sozialen Bewegung hat diese „antipädagogische“ Auseinandersetzung das allgemeine Bewusstsein von Kindheit für pädagogische „Beziehungsqualität“ und für die Lebensbedingungen sensibilisiert, unter denen Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen.
Kindheit ist beides: eine „Entwicklungstatsache“2 und eine „soziale Konstruktion“. Das Wissen um diesen Zusammenhang ist die Grundlage für das am Deutschen Jugendinstitut (DJI) entwickelte frühpädagogische Handlungskonzept, das soziales und kognitives Lernen miteinander verknüpft („Situationsansatz“). Im Zentrum dieses Ansatzes steht ein Bild vom Kind, das seine Entwicklung durch Selbsttätigkeit mitgestaltet. Es verfügt von Anbeginn an über die Kompetenz, sich emotional und sozial mitzuteilen, auch, um sich „im Medium von Spiel und Kreativität sowie im Medium von Interaktion und Kommunikation mit Erwachsenen und anderen Kindern“ Wissen von sich selbst, den anderen und der Welt anzueignen. 3 Aufgabe der Erzieher*innen ist es, anhand von „Gelegenheitsstrukturen des Kinderalltags“ (Situationen) eine Lernkultur zu gestalten, die Prozesse der Selbstbildung ermöglicht.

Die 80er-Jahre

1980 findet auf Anregung des Bundesbildungsund des Bundesfamilienministeriums in Freiburg eine länder- und trägerübergreifende Fachveranstaltung statt. Unter dem Titel „Elementarbereich ’80 – Der Kindergarten heute – was er kann, was er soll“ diskutieren erstmals Expert*innen aus Wissenschaft, Fachpolitik, Jugendämtern und Wohlfahrtsverbänden die Leitfrage, wie man den Kindergarten als Lebensform gestalten müsse, damit er in seinen Angeboten den Bedürfnissen der Kinder wie auch ihren Familien gerecht wird. Diese in Abgrenzung von der Schulpädagogik sozial-pädagogische Ausrichtung der frühkindlichen Förderung in Deutschland steht in der reformpädagogischen Tradition einer „Erziehung vom Kinde aus“. Sie verleiht der Kita als Lebensform eine „ganz bestimmte und umfassende Identität“. 4 Dieser ganzheitliche Handlungsansatz umfasst und integriert Betreuung, Bildung und Erziehung.
Bereits in den 1980er-Jahren sind Kindertageseinrichtungen faktisch ein unverzichtbarer Bestandteil lokaler Infrastruktur. Dennoch orientieren sich die Träger überwiegend an einer sozialfürsorgerischen Funktion, Familien in einer „Notlage“ auf der Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) zu helfen. Dies wird von der seinerzeit christlich-konservativen Familien- und Frauenpolitik gestützt. „Kindergartenarbeit“ wird spiegelbildlich zur privaten Erziehung von Müttern bewertet. Kindererziehung gilt als „natürliche“ Aufgabe von Frauen, für die sie – auch ohne berufliche Qualifikation – aufgrund ihres Geschlechts ein besonderes Arbeitsvermögen einbringen. Infolgedessen verfügen 1982 auch nur etwa 45% der Mitarbeiterinnen über eine abgeschlossene Ausbildung als Erzieherin. Obwohl Fachorganisationen der Jugendhilfe in Stellungnahmen immer wieder auf die gestiegenen fachlichen Anforderungen an den Erzieherinnenberuf hinweisen, bleibt es in Westdeutschland ein „vergessener“ Beruf.5

Die 90er-Jahre

Erst in den 1990er-Jahren wird – im Kontext der deutschen Wiedervereinigung und der Öffnung des europäischen Binnenmarktes – mit Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ein Reformprozess angestoßen, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Er bezieht sich auf die Qualität sozialpädagogischer Arbeit, auf die theoretische Fundierung frühpädagogischer Konzepte, auf wissenschaftlich begründete Qualitätsstandards für die Rahmenbedingungen und auf die Professionalisierung des Erzieher*innenberufs. Gesellschaftliche Veränderungen, aber auch Gefährdungen zeigen sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Auflösung traditioneller Lebensformen und Lebensführungen. Besonders die Erwerbstätigkeit von Frauen und deren Folgen für den familiären Alltag, aber auch der zahlenmäßige Anstieg von Alleinerziehenden und die Schere zwischen Arm und Reich sind Lebensverhältnisse, die sich auf das Aufwachsen von Kindern auswirken. Um den Gefährdungen von Kindern weltweit entgegenzuwirken, beschließen die Vereinten Nationen 1989 die „Konvention über die Rechte des Kindes“. Im Kern geht es um das Recht des Kindes auf eine intakte „ökologische“, also soziale Umwelt, die das Recht des Kindes auf Erziehung, Bildung und Betreuung sichert.6

Die 2000er-Jahre

Im Kindertagesförderungsgesetz (KitaFöG) von 2009 wird dieser kinderpolitische Anspruch an die ganzheitliche Aufgaben-Trias von „Bildung, Betreuung und Erziehung“ konkretisiert. Neu kommt zum Tätigkeitsspektrum von Erzieher*innen die Betreuung unter 3-Jähriger hinzu. Für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in Kitas werden im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre länderspezifische Bildungsprogramme entwickelt, die den pädagogischen Fachkräften als Orientierung in der Gestaltung der Angebote dienen sollen. Diese Empfehlungen für „Profis in Kitas“ sind jedoch nicht als Lehrplan zu verstehen, der als Grundlage dazu dienen soll, den Bildungsgang des Kindergartenkindes – und damit auch die Ergebnisse – vorausschauend zu planen und zu steuern.

Heute …

Dreh- und Angelpunkt für die Umsetzung des gesetzlichen Förderauftrags des SGB VIII ist heute das frühpädagogische Handlungskonzept, das Raum für die individuelle „Bildungs- und Lerngeschichte“ des Kindes lässt. Die Eigengesetzlichkeit der „Frühen Bildung“ und die „Eigensinnigkeit“ der kindlichen Entwicklung entziehen sich einer rationalen, funktionsorientierten Bestimmung von pädagogischer Qualität. Neben fachlichen Anforderungen hat die früh- bzw. sozialpädagogische Arbeit der Fachkräfte in Kitas eine kinderpolitische und eine ethische Dimension. In einer demokratischen, prozessorientierten, lernenden Organisation sind es die beteiligten Menschen, „die mit und in der Kita lernen, leben und arbeiten, die ihre eigenen Vorstellungen von einer ,guten Kita‘ einbringen“. Diese aufzugreifen und als gemeinsames „kulturelles Identitätsprojekt“7 zu verhandeln und zu steuern, ist Aufgabe des Teams. Aktuell führt uns die Corona-Pandemie die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft wie eine Art Brennglas vor Augen. Pädagogische Einrichtungen müssen sich heute daran messen lassen, ob sie in der Gestaltung ihrer pädagogischen Angebote als sichtbarer und gesellschaftlich bedeutsamer Teil öffentlicher Verantwortung für ein zufriedenstellendes Kinderleben stehen, für eine Lebensform von Kindern, der neben Familie und Schule ein eigener Wert zukommt.   

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