Dr. Katharina Gerarts: Corona führt uns gnadenlos vor Augen, was im Grunde allgemein bekannt ist oder zumindest geahnt wurde, niemand aber so recht aussprechen wollte: Dass es zum Beispiel um die Anwendung der Kinderrechte in Deutschland nach wie vor schlecht bestellt ist. Durch Corona trat der hinlänglich bekannte und gravierende Zusammenhang von Herkunftsfamilie und Bildungserfolg noch prägnanter zutage. Das Recht auf Bildung, festgeschrieben als Menschen- und Kinderrecht, wurde während der Corona-Pandemie massiv eingeschränkt. Dasselbe gilt für die Mitbestimmung junger Menschen. Wann sind die Kinder und Jugendlichen in der gesamten Debatte um Corona und die Auswirkungen eigentlich selbst zu Wort gekommen? Die Bundesschülervertretung kam hier als einziges bundesweit wirkendes Gremium junger Menschen zu Wort. Wohl auch aus dem Grund, dass es ansonsten keine Gremien gibt, die von Politik und Gesellschaft aktiv befragt und eingebunden werden, wenn es um die Belange von Kindern und Jugendlichen geht. In vielen gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen wäre dies jedoch dringend angeraten. Kinder- und Jugendbeteiligung ist nach wie vor vom Good-will Erwachsener abhängig. Eine systematische Verankerung von Mitbestimmungsmöglichkeiten fehlt. Ich bin gespannt, ob es uns nach Corona gelingen wird, die strukturellen Ungerechtigkeiten aktiv anzugehen und zu beseitigen.
Dr. Katharina Gerarts, Dipl.-Pädagogin, Kindheitswissenschaftlerin und Vorstandsmitglied der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie in Bensheim.
Ramtin Kashef: Für uns Pädagog*innen war das Jahr 2021 äußerst herausfordernd und verlangte im Kita-Alltag ein hohes Maß an Flexibilität. Mein Wunsch, dass Kinder in diesem Jahr durch die Pandemieregelungen nicht abgehängt werden, hat sich nicht erfüllt. Von der Politik fordere ich, dass sie die Rechte von Kindern nicht länger ignoriert, sondern im Grundgesetz verankert - ohne endlos über Details zu diskutieren, wie Kinder und Jugendliche an Entscheidungen partizipieren dürfen, die ihre Lebenswelt betreffen. Und ich wünsche mir mehr soziale Gerechtigkeit für Kinder. Während Erwachsene in Clubs ohne Masken feiern, tragen Kinder diese weiterhin die meiste Zeit des Tages, lassen sich mehrmals wöchentlich testen und verarbeiten noch immer die Folgen von Lockdowns, Quarantänen und ständig veränderten Corona-Auflagen in Kitas und Schulen. Von den Eltern wünsche ich mir auch in Zukunft Verständnis für unsere tägliche Arbeit und dass die Kinder im Vordergrund stehen, nicht die Dienstleistung. Von den Trägern wünsche ich mir, weiterhin zu fordern, dass die Bildungseinrichtungen geöffnet bleiben, solange es aus pandemischer Sicht möglich ist, weil Kinder nun mal Kinder brauchen. Auch setze ich auf eine Diskussion aller Beteiligten über die „neue Normalität“, in der wir lernen mussten, auf Abstand zu gehen, Mundschutz zu tragen, weniger Mimik zu sehen, ständig mit der Krankheit konfrontiert zu sein und uns mit extremen Einstellungen auseinanderzusetzen. Für mich selbst bedeutet das nach zwei Jahren Pandemie bereits Normalität. Ihre Folgen werden uns aber die nächsten Jahre noch beschäftigen.
Ramtin Kashef, staatlich anerkannter Erzieher im element-i Kinderhaus Sterngucker in Karlsruhe.
Brigit Kofmel: Corona, Oh la-la! Ich nehme die Pandemie als weitgreifende und tiefschürfende Krise wahr. Viele Missstände und fragwürdige Strukturen, mit denen ich schon vorher besonders wegen meines Kindes gerungen habe, zeigten sich in Lockdown-Zeiten umso deutlicher und unerbittlicher, sodass ich gar nicht drumherum kam, mich damit auseinanderzusetzen. Ich habe das Glück, in einer Kita mit einem Team zu arbeiten, das immer den Raum dafür zu schaffen versucht, die jeweils eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, zu benennen und ihnen nachzugehen. Und das gilt für alle - Kinder wie Erwachsene. Durch die Pandemieauflagen geriet dieses Anliegen jedoch oft in Gefahr. Denn es schien kein guter Zeitpunkt für individuelle Wünsche, Belange, Nöte, Dringlichkeiten oder persönliche Impulse zu sein. Wir alle sind aufgerufen zu Solidarität, Zusammenhalt, Rücksichtnahme und geschärfter Aufmerksamkeit im Miteinander. Doch ich stelle fest, wie sehr mich dieser Aufruf überfordert, ja sogar ärgert. Sofort muss ich an die Bereiche denken, in denen schon ich als privilegierte Europäerin mir mehr Solidarität, Akzeptanz und Feingefühl wünschen würde (als Frau, als alleinerziehende Mutter, als Erzieherin etc.). Dazu gesellen sich schnell Gedanken an weit massivere Missstände als meine. Aus diesem strapaziösen gedanklichen Teufelskreis finde ich nur heraus, indem ich kleinteilig vorgehe: Ich horche aufmerksam in mich selbst hinein, versuche, meinem Umfeld gut zuzuhören, mich rückzuversichern, ob ich eine Äußerung richtig verstanden habe, und herauszufinden, wie dem jeweiligen Bedürfnis unter den momentanen Gegebenheiten entsprochen werden kann. Gerade in Bezug auf das Zusammenleben mit Kindern (privat wie beruflich) finde ich dieses Vorgehen hilfreich und wichtig. Mir ist sehr daran gelegen, diese Grundhaltung schnell und nachhaltig zu verinnerlichen. Gerade in diesen Zeiten, in denen viele Handlungsspielräume, vor allem die der Kinder, immer mehr zu schrumpfen drohen, hilft mir diese Haltung, wach, neugierig, aktiv und flexibel zu bleiben. Eigenschaften, deren Entwicklung am deutlichsten bei den Kindern zu beobachten ist, mit denen ich meinen Alltag teile. Ich tue es ihnen gleich, verfolge momentan aber auch konkret das Ziel, dass die Masken, zumindest in den Schulen, möglichst bald fallen.
Brigit Kofmel, Erzieherin, alleinerziehende Mutter, Köln.
Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl: Steuern wir auf neue Kitaschließungen zu, wenn die Inzidenzen unter den ungeimpften Kindern im Spätherbst stark ansteigen? Wir als Stiftung „Achtung! Kinderseele“ sagen: Vor einer solchen Entscheidung müsste das seelische Wohl der Kinder sehr genau in den Blick genommen werden. Schwere Corona-Erkrankungen sind bei unter 6-Jährigen zum Glück extrem selten. Im Hinblick auf deren psychische Gesundheit und körperlich-geistige Entwicklung haben die bisherigen Kitaschließungen aber bereits großen Schaden angerichtet. So betont ein Ministeriumsbericht für das Bundeskabinett, dass „die 2021 durchgeführten Schuleingangsuntersuchungen ein besorgniserregendes Bild zeigen“. Danach wiesen Kinder vor der ersten Klasse „deutlich vermehrt Defizite im sprachlichen, motorischen und sozial-emotionalen Bereich auf.“ Der Bericht verweist darüber hinaus auf diverse Studien, die belegen, dass Kinder durch die Pandemie „in einem hohen Maße psychisch belastet sind“: Depressive Verstimmungen, Ängste, Hyperaktivität und exzessiver Medienkonsum haben deutlich zugenommen. Wir fordern deshalb, dass die Gesellschaft jede erdenkliche Anstrengung unternimmt, um die Entwicklungschancen und das seelische Wohl von Kindern nicht weiter zu beeinträchtigen. Dazu gehört auch, dass Eltern und Erzieher*innen den Kindern durch sensible Kommunikation, altersgerechte Information und besonnenes Handeln Sicherheit vermitteln und sie darin unterstützen, die Freude an Bewegung, freiem Spiel und kreativem Gestalten zurückzugewinnen.
Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Achtung! Kinderseele“ und Anne Reis, Stiftungskommunikation.