Ganz im Sinne des Zeitgeistes hieß einer meiner Beiträge „Anpassung oder Opposition?“1 – gemeint natürlich als Erziehungsziele, auch und gerade im Kindergarten.
Damals schrieb ich: „Erziehung zur Opposition sollte bedeuten, den jungen Menschen schon als Kind so zu behandeln, dass er bereits in seiner Kindheit, vor allem aber als Jugendlicher und Erwachsener, fähig ist zu ‚widerstehen’. Es ist übrigens auch christlich ‚ins Angesicht zu widerstehen’. Erziehung zur Opposition heißt wesentlich, einen Menschen zu befähigen, es von seiner ganzen Persönlichkeit her zu ertragen, von anderen evtl. als der ‚Nicht-Angepasste’ behandelt zu werden, weil er kritisiert und opponiert.
Das will aber doch nicht besagen, dass es verdienstlich sei, dauernd gegen den Strich zu leben. (…) Während eine permanente Opposition bei einem Menschen zu einer permanenten Frustration führen kann, dürfte es allerdings sehr verdienstlich sein, im gegebenen Augenblick gegen den Strom zu schwimmen.“
Als Autor habe ich eine Maxime: Alles, was ich schreibe, sollte ich nach zehn Jahren noch gern lesen und vertreten können. Das gilt auch hier. Aber: Es verhält sich doch etwas anders. Erwähnenswert bleibt, dass „wir alle“ auf der antiautoritären Welle der 1970er-Jahre mitschwammen: Es war nicht nur schick, gegen „die Autorität“, antiautoritär zu sein, sondern man wollte einen neuen Menschen. Manche sprachen von Aufarbeitung der verbrecherischen Kriegs- und Nazivergangenheit, die es nachzuholen oder überhaupt erst zu beginnen gelte. „Die Deutschen“ des 20. Jahrhunderts hatten ihren Henker selbst gewählt – eben weil sie zu angepasst, zu unkritisch, zu wenig oppositionell gewesen waren und sich verführen ließen.
Aber – und das ist meine Position heute – Pädagogik braucht kritische Geister und eine Erziehung zur Opposition. Was wir vor einem halben Jahrhundert allerdings zu wenig oder gar nicht bedacht haben – jedenfalls in der theoretischen Pädagogik – ist das „Wofür“.
Doch: Hätten wir heute einen partnerschaftlichen Erziehungsstil in den Einrichtungen ohne jene Phase der Erziehung zur Opposition? Oder: Hätten wir heutige Selbstverständlichkeiten wie Partizipation, Kinderkonferenzen und Beschwerdemanagement?
Aktuell vertrete ich explizit eine Pädagogik mit der positiven Zielformulierung „Weltbürger*innen“, die auf den zentralen Werten von Frieden, Gerechtigkeit und Natur fußt.
Fazit: Gegen diese Werte und Ziele hatte vor 50 Jahren niemand etwas. Aber: Neben der Sympathie für Alexander Sutherland Neill („Das Prinzip Summerhill“) u. Ä., teilweise sogar für Gerhard Botts „Erziehung zum Ungehorsam“, wäre damals schon eine positiv formulierte, lebensbezogene Pädagogik möglich und nötig gewesen.
Ein zweiter Punkt, über den ich heute anders denke: offener Kindergarten – offene Arbeit. Über kaum etwas wurde in den vergangenen 50 Jahren so heftig diskutiert wie über dieses Phänomen. kindergarten heute war von Anfang an dabei. 1973 veröffentlichte ich gemeinsam mit Sabine Schuck den Beitrag „Der offene Kindergarten“. Damit, so dachte ich, sei der Begriff „Offener Kindergarten“ besetzt und ich wähnte mich als dessen Erfinder. Doch es sollte anders kommen. Wir meinten mit offenem Kindergarten damals, „dass Eltern, die ihre Kinder im Kindergarten haben, (…) Gelegenheit erhalten, das reale Geschehen im Kindergarten mitzuerleben. Das geschieht dadurch, dass sie der Gruppe im Kindergarten einen Besuch abstatten, um so den wirklichen Gruppenablauf selbst zu sehen. Über die Zeitdauer und die Häufigkeit derartiger Besuche muss im Einzelnen entschieden werden; ebenfalls darüber, wie viele Eltern die Kindergärtnerin bzw. die Gruppe verkraften kann.“2
Doch dann kamen die 1990er-Jahre und kindergarten heute brachte gleich Anfang 1992 meinen Beitrag „Haben Sie schon Ihren Kindergarten auf den Kopf gestellt?“. Marta Högemann, die damalige Chefredakteurin, freute sich, dass kindergarten heute eine bundesweite Debatte darüber ausgelöst hatte, ob der Kindergarten gemäß seiner Tradition in stabilen Gruppen mit eindeutiger Zuständigkeit der Erzieherin für „ihre“ Gruppe und „ihre“ Kinder bleibt oder ob die Kinder sich im gesamten Kindergarten aufhalten können usw. Die Redaktion erhielt damals 120 Leserbriefe. Die Welle „Offener Kindergarten“ – nicht nach meinem Verständnis, sondern im Sinne von Auflösung der Gruppen – bewegte sich mehr oder weniger vom Norden in den Süden der Republik. Die zahlreichen Podiums- und Fortbildungsveranstaltungen infolge der Debatte in kindergarten heute waren sehr gut besucht.
Fazit: Mein offener Kindergarten von damals – Transparenz der Kindergartenarbeit durch Teilnahme der Eltern am Geschehen – hat nichts von seiner Bedeutung verloren. In zahlreichen Einrichtungen dürfte heute nach unserem wissenschaftlich fundierten Modell von vor 50 Jahren gearbeitet werden. Dem anderen „Offenen Kindergarten“ gegenüber habe ich meine Position geändert. Ich selbst vertrete heute im „Lebensbezogenen Ansatz“ bezüglich der Gruppenorganisation das Konzept der „ergänzenden Lernorte“, d. h.: klare Gruppenorganisation mit verantwortlichen Fachkräften, gruppenübergreifende Bildungsangebote an eigenen Lernorten, die fachlich begleitet sind.
Norbert Huppertz, Freiburg
In den frühen 1970er-Jahren herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung gegen das Althergebrachte, die „alten Zöpfe“ der Gesellschaft und besonders der Universitäten. Die progressiven Kindergartenpädagog*innen reflektierten das Bild und die Aufgabe des Kindergartens: Er sollte nicht nur eine Kinder-Bewahranstalt sein, sondern kleinen Kindern aller Schichten die Chance geben, intellektuelle, schulvorbereitende Angebote zu bekommen. Das Programm hieß „Bildungsförderung im Vorschulalter“. Verlage und Spielzeugfirmen fingen an, ein breites Angebot an Lehrspielen anzubieten. Sie ließen sich von den aktuellen Erkenntnissen der Pädagogik, Mathematik und Sprachwissenschaft inspirieren.
In der Mathematik stand zu dieser Zeit die Mengenlehre im Lehrprogramm. Darin geht es nicht um konkrete Zahlen, sondern um gemeinsame Merkmale von Gruppen von Elementen. Daraus entwickelte der Verlag Herder ein kleinkindgerechtes Spiel: die Logischen Blöcke. Jeder Spielstein darin hat vier Merkmale: Farbe, Form, Stärke und Größe. Die Kinder sollen entdecken, dass ein Spielstein zu vier verschiedenen Gruppen gehören kann.
Voraussetzung für Spiele mit den Logischen Blöcken in den damaligen Kindergärten war allerdings, dass sich a) eine Fachkraft mit dem Spielmaterial vertraut macht und b) genug Zeit hat, sich zu einzelnen Kindern oder zu kleinen Gruppen zu setzten, um mit ihnen das Spiel zu erarbeiten.
In meinem Beitrag3 von 1972 betone ich mehrmals, dass die Erzieherin den Kindern je nach Auffassungsvermögen Denkhilfen geben soll. Das kann sie auch tun, indem sie eine falsche Aussage macht und abwartet, ob das Kind den Fehler bemerkt. Das braucht Zeit und gute Kenntnisse der geistigen Leistungsfähigkeit des einzelnen Kindes. Im Beitrag werden viele verschiedene Spiele als Beispiele für die Prinzipien der Mengenlehre erläutert.
Die meisten Kindergärten, die ich im Laufe der Jahre kennenlernte, konnten jedoch nicht dem Anspruch genügen, dass sich ein*e Erzieher*in länger einem Kind widmet und ihm individuell beim Erkennen der Prinzipien hilft. Viele Einrichtungen haben zu wenige Erzieher*innen. Gleichzeitig macht die Tendenz, auch 2-Jährige aufzunehmen, individuelle Förderung praktisch extrem schwierig.
Die Erkenntnisse, die durch die Spiele mit den Logischen Blöcken gewonnen wurden, sind nach wie vor grundlegend, auch wenn sie nicht mehr prominent im Lehrplan eines Mathematikstudiums stehen. Die Prinzipien der Mengenlehre wie etwa „jedes Element hat mehrere Merkmale“ oder „die Elemente lassen sich nach Merkmalen sortieren“ können im Kindergarten sogar auf die Kinder übertragen werden: Wer ist ein Mädchen? Wer hat Geschwister? Wer hat einen Hund zu Hause?
Natürlich wäre es wünschenswert, dass es in Kindergärten wieder mehr Zeit für intensive individuelle Förderung auf sprachlichem wie intellektuellem Gebiet gibt.
Karin Grossmann, Regensburg
Ausgangspunkt meines Beitrags4 von 1972 war der damalige Zustand der meisten Kindergartenspielplätze: ein Abbild der öffentlichen Spielplätze – einseitig und langweilig, nicht verbunden mit einem Gesamtkonzept des Kindergartens. Ziel der Überlegungen war eine theoretische Begründung, veranschaulicht an praktischen Vorschlägen, die das Spiel und die Tätigkeiten der Kinder im Außenbereich mit dem Gesamtprogramm des Kindergartens verbinden und benachteiligte Kinder besonders fördern sollten. Eine der Ausgangsthesen war die Behauptung, dass Formen und Materialien des Kinderspiels kulturell, gesellschaftlich bedingt und von der „spezifischen Sicht des Kindes“ abhängig sind. Auch wenn die damalige Kritik so nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, erachte ich auch heute eine differenzierte Begründung und Ergänzung der Spielplätze für notwendig, da sich die gesellschaftlichen Bedingungen, die „Sicht vom Kind“, die rechtlichen Vorgaben geändert haben und sich mehr Kinder länger in den Tageseinrichtungen aufhalten.
Eine von mir 2019 durchgeführte Stichprobe von 23 Konzepten von Tageseinrichtungen und deren Spielplätzen hat ergeben, dass diese heute strukturierter gestaltet sind: dass neben den üblichen Geräten wie Schaukeln, Rutschen, Klettergerüsten, Sandkästen, Bewegungshügeln, Wasserspielmöglichkeiten weitere Spielmöglichkeiten für den Außenbereich angeboten werden.
In den Konzepten werden sie im Rahmen der Bewegungserziehung mit dem Mangel an Bewegungsmöglichkeiten im Wohnumfeld begründet. Innen- und Außenbereich werden jedoch konzeptionell nicht als Einheit gesehen. Das „Bild vom Kind“ wird in den Konzepten nicht mehr vorrangig als sozial, sondern als „kompetent“, „kreativ“, seine Entwicklung in Interaktion mit der Umwelt „selbsttätig gestaltend“, als „Baumeister*in seiner/ ihrer selbst“ gekennzeichnet. Das aber spiegelt sich nicht hinreichend im Außenbereich der Einrichtungen wider. Darüber hinaus fehlen bis auf wenige Ausnahmen Anregungen zur Natur- und Umwelterziehung sowie -erkundung wie z. B. Gartenbeete, Futterstationen für Vögel, Wetterstationen und sonstige Anregungen zum Beobachten, Pflegen, Messen, Vergleichen.
Dieter Höltershinken, Dortmund