Kollegen und Kolleginnen, wir sind ja hier unter uns und kennen uns jetzt auch schon ein bisschen. So langsam können wir uns mal an die ganz heißen Eisen wagen. Lasst uns über Erziehungsstile sprechen – und darüber, wie sie manchmal (fehl-)interpretiert werden. Seit einigen Jahren kommt man um den Begriff „bedürfnisorientierte Erziehung“ nicht mehr herum. Für viele Mütter (und manche Väter) gehört es zum guten Ton, in der Elternzeit MINDESTENS ein Buch zum Thema zu lesen. Aber wenn es schlecht läuft, haben sie vielleicht auch nur einen Podcast gehört. Oder nur die Überschrift gelesen.
Dann kommen völlig entkräftete Eltern und suchen Hilfe, weil ihr Kind jede Minute ihrer Zeit für sich beansprucht, sich in der Kita nicht zurecht findet und keine Abgrenzung akzeptiert. „Es war immer so niedlich, wie der kleine Lockenkopf mit seinem verschmitzten Grinsen an meinen Haaren gezogen hat. Natürlich habe ich mir nichts anmerken lassen, wenn es wehtat. Es war ja immerhin ihr Bedürfnis, zu spielen und die Welt zu erkunden. Wir erziehen bedürfnisorientiert, das ist schließlich das Beste fürs Kind.“
In solchen Momenten will ich schreien, aber ich habe ja gelernt, meine Bedürfnisse zurückzustellen. Also atme ich. Wenn hilfesuchende Eltern das erste Mal hören, dass „bedürfnisorientiert“ auch ihre eigenen Bedürfnisse miteinschließt, gucken sie immer erst einmal komisch. Ja, Britta, dein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit hast du nicht an der Tür zum Kreißsaal abgegeben.
Ich finde es richtig gut, wenn Kinder heute mehr Raum und Zeit gegeben wird, ihre Welt zu entdecken. Wenn Eltern sich die Zeit nehmen, ihnen respektvoll Zusammenhänge zu erklären. Wenn wir ihnen erlauben, Fehler zu machen. Davon würde ich mir sogar noch ein bisschen mehr wünschen, aber ich fange schon wieder an zu träumen. Es lässt sich nur nicht darüber hinweglieben, dass Kinder mit all dieser Freiheit und der achtsamen Kommunikation auch Erwachsene brauchen, die ihnen Orientierung geben. Die Verantwortung übernehmen.
Kinder sind Spaßjunkies mit wenig Selbsterhaltungstrieb. Nicht jedes Bedürfnis, das sie so äußern, ist sinnvoll oder rational nachvollziehbar. Wenn es so wäre, könnten wir sie getrost mit Bastelscheren, Glitzer und wasserfesten Filzstiften in einen Süßwarenladen schicken und gelassen die Tür hinter uns schließen (das würde unseren Job so viel einfacher machen!).
Aber einige Bedürfnisse haben Kinder doch gemeinsam: Sie wollen alle lernen. Sie wollen dazugehören, geliebt und gemocht werden. Das ist eins der tiefsten Bedürfnisse und macht ihren größten inneren Antrieb aus, ein Leben lang. Dafür müssen sie aber auch wissen, dass Haareziehen wehtut.
Ich verstehe bedürfnisorientierte Erziehung so: Dort, wo das Kind seine Sicherheit oder die der anderen gefährdet, wo es eigene und fremde (!) Bedürfnisse vernachlässigt, da braucht es Erwachsene, die ihm da raushelfen. Und (schnell!) die Filzstifte und den Glitzer verstecken.