In Konflikten gegenüber Kindern fair reagierenEin vorwurfsfreier Tag

Vorwürfe tun weh. Grund genug, einen Tag ganz bewusst ohne auszukommen. Unser Autor schlägt Kita-Teams vor, das auszuprobieren.

Ein vorwurfsfreier Tag
© Nadja Bronzel/Röser Media, Karlsruhe

Hochgezogene Augenbrauen, ein kritischer Blick. Dem nonverbalen Vorwurf in Mimik und Körpersprache folgt meist der verbale: „Du weißt ganz genau, dass …“ Oder: „Wegen dir mussten wir …“ So oder ähnlich klingen Vorwürfe, wenn das Verhalten einer Person einer anderen missfällt oder deren Erwartung enttäuscht wurde. Ein Vorwurf unterscheidet sich von konstruktiver Kritik darin, dass kein Verständnis für die Beweggründe eines vermeintlich problematischen Verhaltens mitschwingt und auch keine Lösung angeboten wird. Hinter Vorwürfen verbirgt sich nicht selten die Einschätzung, er oder sie „hätte anders gekonnt, aber nicht gewollt“ oder provoziert mit Absicht. Baut sich eine innere Vorwurfshaltung auf, ohne dass sie angesprochen wird, dann entlädt sie sich irgendwann in destruktiver Kritik oder verletzenden Worten. Der/die Angegriffene fühlt sich gekränkt, zieht sich zurück oder kontert. Egal, ob der Vorwurf berechtigt war oder nicht, damit lässt sich ein Konflikt nicht lösen.

Die Wirkung von Vorwürfen auf Kinder

Soziale Kompetenz ist ein zentraler Bestandteil frühkindlicher Bildungsarbeit. Bei der Vermittlung sollte die Latte jedoch nicht zu hoch hängen, schließlich glänzen in dieser Disziplin auch Erwachsene nicht immer. In der Kita erleichtert ein soziales Miteinander das Leben in der Gemeinschaft ungemein. In diesem Umfeld lernen Kinder, die unmittelbare Erfüllung eigener Bedürfnisse an die Erfordernisse einer gemeinschaftlich geteilten Umwelt anzupassen. Beispielsweise im Interesse der Gemeinschaft auf etwas zu verzichten oder etwas zu tun, auch wenn sie dazu keine Lust haben. Wenn Kinder auf eine freundliche Aufforderung, sich im Konfliktfall kompromissbereit zu verhalten, wiederholt nicht oder ablehnend reagieren, sind pädagogische Fachkräfte vielleicht dazu geneigt, durch einen Vorwurf den Druck zu erhöhen, zumindest aber ihre Enttäuschung auszudrücken. Doch können sie ernsthaft annehmen, dass Vorwürfe in der pädagogischen Interaktion mit Kindern auf wundersame Weise Früchte tragen? Kinder mögen daran gewohnt sein, von Erwachsenen als jene, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung alles besser wissen wollen, zurechtgewiesen zu werden. Doch sollte daraus nicht voreilig der Rückschluss gezogen werden, Kinder steckten Vorwürfe locker weg. Ein Vorwurf ist verletzend, weil er emotional aufgeladen und destruktiv ist. Er enthält eine abwertende Botschaft, die das Kind nicht auf sein Verhalten, sondern bezogen auf seine Person missverstehen kann. Aus „dein Verhalten hat mich enttäuscht“ wird in der Wahrnehmung des Kindes „du hast mich enttäuscht“. Bleibt es bei Einzelfällen, wird damit kein Schaden angerichtet. Im Berufsalltag begegnen pädagogische Fachkräfte aber auch Kindern, die sie über einen längeren Zeitraum herausfordern, sie womöglich auch an ihre Grenzen bringen. Dann besteht das erhöhte Risiko, wiederholt in die Vorwurfsfalle zu treten. Erfolgen die Vorwürfe in Gegenwart anderer Kinder, tragen sie zur Stigmatisierung bei und beeinflussen das Selbstbild des betroffenen Kindes. Sein Verhalten wird dann irgendwann als für das Kind charakteristisch angenommen. Dies äußert sich in Sätzen wie: „Immer musst du dazwischenreden.“ – „Kannst du nicht einmal fünf Minuten ruhig sitzen.“ – „Na klar, Lukas drängelt vor. Das ist mal wieder typisch.“ – „Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst nicht …“ Besonders beschämend wirken Äußerungen, die nicht nur das Verhalten, sondern das Kind direkt oder indirekt abwerten: „Wegen dir konnten wir nicht ...“ – „Du nervst!“ – „Die Kinder haben so schön im Hof gespielt. Kaum bist du draußen, gibt es Streit!“ Vorwürfe können auch spöttisch vorgebracht werden: „Erkan kommt, jetzt ist es aus mit der Ruhe.“ 

Vorwürfe sind unangemessen

Nicht nur wegen ihrer Wirkung haben Vorwürfe in der pädagogischen Interaktion mit Kindern nichts verloren. Streng genommen setzen Vorwürfe die Mündigkeit des Gegenübers voraus. Kita-Kinder sind jedoch erst dabei, sich und andere kennenzulernen. Sie sind auch nicht frei in allen Entscheidungen, sondern müssen sich zu Hause und in der Kita oft mit vorgefundenen Bedingungen arrangieren, auch wenn diese den eigenen Bedürfnissen widersprechen, und dann die hervorgerufenen Gefühle regulieren lernen. Aggressivität, Widerstand und Ruhelosigkeit sind fast immer Indikatoren dafür, dass etwas im Umfeld des Kindes einer Regulierung der Gefühle im Wege steht. Bereits der Verzicht auf Vorwürfe trägt zur Entspannung der Situation bei.

Warum der Verzicht schwerfällt

Obwohl sich Vorwürfe gegenüber Kita-Kindern aus pädagogischer Sicht verbieten, hat dies meiner Erfahrung nach nicht dazu geführt, dass sie konsequent vermieden werden. Sie gehören nach wie vor zum vertrauten Repertoire vieler Erwachsener und werden leider selten hinterfragt. Paradoxerweise will niemand mit Vorwürfen konfrontiert werden, trotzdem schafft es kaum jemand, sie anderen gegenüber nicht anzuwenden. Kindern gegenüber ist die Hemmschwelle auch deshalb deutlich herabgesetzt, weil weniger negative Konsequenzen zu befürchten sind. Nicht immer ist jedem und jeder die Vorwurfshaltung bewusst: „Jaja, der Peter kann einfach nicht still sitzen.“ Sie müssen nicht einmal ausgesprochen werden, um von Kindern als solche wahrgenommen zu werden. Ein Aufstöhnen oder eine Änderung der Tonlage reichen bereits.
Personalmangel, Uneinigkeit oder mangelnde Absprachen im Team oder private Belastungen erhöhen den Stress und damit die Anfälligkeit für unpädagogische Spontanreaktionen, wie Vorwürfe es sind. Sie entlasten kurzfristig, wie ein Ventil, indem sie angestautem Ärger und Unmut Luft verschaffen. Von Erzieher*innen wird erwartet, zu funktionieren, kontrolliert zu reagieren, sich ihrer Vorbildfunktion stets bewusst zu sein. Zugleich sollen sie authentisch sein. Es ist ehrlicher, einen Vorwurf auszusprechen, als ihn sich zu verkneifen. Wird er Kindern erklärt, ist das ein Schritt aufeinander zu, der gegenseitiges Verständnis ermöglicht.

Vorwurfsfreier Tag – ein Praxisversuch

Einen Tag ohne Vorhaltungen oder Schuldzuweisungen durchzuführen, empfiehlt sich für alle, die auf Vorwürfe verzichten wollen, es aber ehrlicherweise nicht hinreichend schaffen. Ich selbst arbeite noch daran und merke mein Scheitern manchmal erst dann, wenn ich ein Unbehagen verspüre. Das Team-Projekt „Vorwurfsfreier Tag“ soll sensibilisieren. Es geht nicht darum festzustellen, welche*r Kolleg*in der oder die Spitzenreiter*in darin ist, Vorwürfe vorbildlich und konsequent zu umschiffen. Jede*r Mitarbeiter*in führt für sich ein Protokoll, die Notizen werden auf der nächsten Teamsitzung ausgewertet. Die Selbstüberprüfung „Mein Tag ohne Vorwürfe gegenüber Kindern“ könnte folgende Fragen enthalten: 

  • In welcher Situation habe ich mich zu einem Vorwurf verleiten lassen?
  • Warum habe ich emotional reagiert?
  • Gab es Kinder, bei denen sich Vorwürfe gehäuft haben?
  • Was könnte die Ursache für das herausfordernde Verhalten sein?
  • Welche Reaktion könnte das nächste Mal einen Vorwurf ersetzen? 

Der Vorwurfsfalle entgehen Erwachsene am besten, wenn sie ihre Haltung zum betreffenden Kind überdenken. Die oben beispielhaft wiedergegebenen Formulierungen zu unterdrücken, bringt wenig. „Würdest du jetzt bitte aufräumen“ zu sagen und innerlich vor Wut zu kochen, ist grotesk. Kinder beim Erwerb sozialer Kompetenzen zu unter stützen, setzt voraus, sie ohne Vorbehalt anzunehmen und zu versuchen 

  • die Motivation für das gezeigte Verhalten zu ergründen,
  • ihnen dabei möglichst den Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und den entstehenden Folgen aufzuzeigen,
  • miteinander eine Lösung zu finden.

Alternative Reaktionen: „Ich habe gesehen, dass du dich mehrmals vorgedrängelt hast. Warum tust du das?“ Jüngere Kinder sind mit Warum-Fragen möglicherweise überfordert. Manche schweigen, anderen sprudelt die Antwort geradezu heraus. Bleibt eine Antwort aus, kann die pädagogische Fachkraft vermuten: „Macht dir die Übung Spaß? Fällt es dir deshalb schwer, abzuwarten, bis du an der Reihe bist?“ Fragen regen Kinder an, über ihr Verhalten nachzudenken und darüber zu sprechen. Genauso wichtig ist es, ein Verhalten eines Kindes, das bei anderen Missfallen erregt oder zu ungewünschten Folgen für die Gruppe führt, anzusprechen und dabei auch die Möglichkeit einer Verhaltenskorrektur anzubieten. „Du warst wütend und hast die Sandburg zerstört. Jetzt sind die Kinder sauer auf dich. Du siehst auch nicht gerade glücklich aus. Frag die anderen, ob du ihnen helfen darfst, die Burg wieder aufzubauen.“ – „Kinder, ihr seid zu laut, die jüngeren Kinder können keinen Mittagsschlaf halten. Was könnte helfen, dass die Kinder einschlafen? Wer schafft es, sich leise zu unterhalten?“ Erzieher*innen müssen nicht für alles Verständnis haben. Enttäuscht, erschrocken oder verärgert zu sein, ist authentisch und kann vorwurfsfrei geäußert werden.
Wer von sich weiß, in welchen Situationen das Risiko steigt, in die Vorwurfsfalle zu geraten, kann Vorkehrungen treffen. Zum Beispiel bestimmte Aktivitäten mit Unterstützung einer Kollegin/ eines Kollegen durchführen oder vorab einen Plan B überlegen, etwa ein alternatives Angebot für die Kinder. Wichtig ist, dass sich alle im Team auf ein einheitliches Vorgehen einigen und alle die beschlossenen Regeln beachten. Völlig vorwurfsfreie Erziehung ist ein Idealzustand. Aber wie heißt es so schön: „Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.“ Jeder unterlassene Vorwurf ist ein Erfolg.

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