Was ist Ihre Definition von gefühlsstarken Kindern, wodurch zeichnen sie sich aus?
Gefühlsstärke ist kein medizinischer Fachbegriff und keine Diagnose, sondern es ist einfach ein Begriff, der Eltern, pädagogischen Fachkräften und manchmal auch Betroffenen selbst helfen soll, über eine besondere Spielart der Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen, die aber gleichzeitig ganz normal und weit verbreitet ist. Gefühlsstarke Kinder haben ein hochreaktives Nervensystem, sie sind reizoffen, erleben Gefühle intensiv und haben deshalb oft Schwierigkeiten mit der Regulation.
Wie stellen Eltern und Bezugspersonen fest, dass ein Kind gefühlsstark ist?
Diese Kinder sind von Geburt an wach und aufmerksam, aber sie überreizen auch schnell. Sie fallen oft schon als Babys auf, schreien und weinen mehr als Altersgenoss:innen und tun sich schwer, in den Schlaf zu kommen. Sie sind neugierig und hartnäckig, aber manchmal ist ihnen auch alles zu viel. Einerseits brauchen sie viel Ko-Regulation, andererseits wehren sie Unterstützung oft ab, weil sie so autonom sind. Die Kinder fordern viel Körperkontakt und Nähe. Sie wirken häufig herausgefordert vom Leben und ein bisschen unzufriedener als andere Kinder. In vielen Fällen sind sie schnell in der motorischen Entwicklung, sie wirken rastlos in dem, was sie tun. Gefühlsstärke ist für mich auch ein spannungsreiches Temperament – diese Kinder sind einerseits sehr sensibel, sehr zart, können aber andererseits sehr intensiv und heftig auftreten. Wichtig zu wissen ist, dass Gefühlsstärke ein subjektiver Terminus ist. Anders als bei ADHS beispielsweise muss kein Kriterienkatalog erfüllt sein. Es geht mehr um das Gesamtbild eines Kindes und die Beobachtungen der Umwelt.
Welche Unterschiede gibt es zwischen gefühlsstarken und hochsensiblen Kindern?
Zunächst einmal gibt es natürlich große Überschneidungen. Bei beiden ist das leicht überreizte Nervensystem im Zentrum des Empfindens, beide sind hochreaktiv. Gleichzeitig geht Hochsensibilität oft mit einem eher schüchternen, zurückhaltenden Temperament einher. Hochsensible Menschen schützen sich vor Überreizung, indem sie sich zurückziehen und zum Teil soziale Interaktionen meiden. Bei gefühlsstarken Kindern, wie ich sie beschreibe, ist das Temperament noch mal widersprüchlicher. Sie überreizen ständig und stürzen sich trotzdem mit vollem Elan in die Welt. Sie machen ihren Zustand nicht nur mit sich selbst aus, sondern gehen damit auch offensiv in Beziehung – sie sagen quasi: „Hier, das sind meine großen Gefühle, hilf mir, sie zu tragen!“
Welche Herausforderungen gibt es für gefühlsstarke Kinder in der Kita?
Menschen, die mit Kindern arbeiten, haben häufig eine innere Vorstellung davon, wie ein Kind mit 2, 3 oder 4 Jahren ist und was man von ihm erwarten kann. Aber gefühlsstarke Kinder sprengen diesen Rahmen und verhalten sich nicht altersgerecht. Wenn man als Fachkraft seine Erwartungen an das Kind dann nicht anpassen kann, führt dies häufig zu einer Art Negativspirale. Warum meckert das Kind so viel, warum weint es so häufig, warum fordert es so viel mehr als andere Kinder im selben Alter? Dann ist es wichtig, die Perspektive zu weiten und sich klarzumachen, dass gefühlsstarke Kinder einfach unterschiedliche Voraussetzungen haben und sich in ihrer eigenen Timeline entwickeln.
Was können Fachkräfte im Alltag tun, um die Kinder zu unterstützen?
Schon ganz kleine Veränderungen im Kita-Alltag können bewirken, dass sich gefühlsstarke Kinder wohlfühlen, gut einbringen können und damit insgesamt die Stressbelastung für alle Beteiligten sinkt. Zum Beispiel haben gefühlsstarke Kinder eine starke Fokussierung auf eine Bindungsperson – sie brauchen einen Menschen, der für sie der sichere Hafen ist, um sich regulieren zu können. Da können Fachkräfte ansetzen und die Priorität darauf legen, dass eine Person in der Kita eine sichere Bindungsperson für das Kind wird. Idealer - weise kann das Kind selbst die Person auswählen. Außerdem haben diese Kinder oft ein starkes Bedürfnis nach Rückzug und Rückzugsorten. Ich habe beispielsweise mit einer Kita gearbeitet, die ein Zelt angeschafft hat für das gefühlsstarke Kind – darin lagen Kissen und ein paar Bilderbücher. In dieses Zelt durfte sich das Kind jeder - zeit bei Bedarf zurückziehen, auch während des Morgenkreises.
Und was können Fachkräfte ganz akut tun, wenn das Kind mit Wut und starken Gefühlen reagiert?
Die Verhaltensweisen, die uns bei dem Kind stressen, sind im Zweifelsfall Signale dafür, dass das Kind überfordert und überreizt ist. Deshalb wäre es grundlegend falsch, darauf mit Sanktionen zu reagieren. Besser ist es, Druck rauszunehmen und ein Ventil zum Stressabbau zu finden – zum Bei - spiel Bewegung im Außenbereich, Rückzug oder körperliche Nähe.
Viele Eltern machen die Erfahrung, dass sich ihr Kind in der Kita viel angepasster und kooperativer verhält als zu Hause. Ist das bei gefühlsstarken Kindern auch so?
Gefühlsstärke in sich selbst ist ein Spektrum. Es gibt Eltern, die mir erzählen, dass ihre Kinder in der Kita sehr angepasst sind und sich tatsächlich unglaublich anstrengen, den sozialen Erwartungen zu genügen. Das sind dann oft die Kinder, die beim Abholen in der Garderobe plötzlich völlig entgleisen. Die ganze Anspannung des Tages entlädt sich und die Eltern haben ihre liebe Not, die Kinder bis zum Abend wieder reguliert zu bekommen, weil diese ihre ganze Kraft in einen guten Kita-Tag gesteckt haben. Es gibt aber auch Kinder, gerade, wenn sie noch jünger sind, die diesen Sprung nicht schaffen. Sie brauchen konsistent Hilfe bei der Regulation, auch im Kita-Alltag – und die sollten sie dann bekommen.
Wie verläuft die Entwicklung bei gefühlsstarken Kindern?
Gefühlsstarke Kinder entwickeln sich auf ihrer eigenen Timeline, aber sie entwickeln sich. Wenn sie eine sanfte Führung und Unterstützung bei der Regulation ihrer Gefühle bekommen, kommen sie am Ende der Kita-Zeit oft erstaunlich gut zurecht. Spannend ist, dass bei gefühlsstarken Kindern die Schere zwischen der kognitiven und der sozial-emotionalen Entwicklung häufig weit auseinandergeht. Diese Kinder denken häufig über komplexe Dinge nach und stellen Fragen über Gott und die Welt. Umso schwerer ist es natürlich für Erwachsene zu verstehen, warum ein so kluges Kind plötzlich ausrastet, weil der Apfelsaft alle ist. Darauf müssen wir uns innerlich einstellen – dass wir uns einerseits mit dem Kind, zum Beispiel über Klimaschutz, unterhalten können, als wäre es schon viel älter, es aber andererseits bei Gefühlsausbrüchen so auffangen müssen, wie wir ein wesentlich jüngeres Kind auffangen würden.
Schließt sich diese Lücke zwischen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten mit der Zeit?
Ja, aber es dauert eine Weile, oft bis zum Ende der Grundschulzeit. In der Pubertät sind gefühlsstarke Kinder meist kaum noch auffällig, weil sie gelernt haben, mit ihren starken Gefühlen umzugehen. Hier merkt man aber große Unterschiede je nach Umfeld: Wenn gefühlsstarke Kinder nicht ausreichend Ko-Regulation erfahren haben, sondern mit den Momenten der Überforderung alleingelassen wurden, reagieren sie später oft mit aggressivem und impulsivem Verhalten.
Das heißt, die Unterstützung der Gefühlsregulation ist wirklich das A und O?
Genau – und das kommt in der Kita allen Kindern zugute, nicht nur den gefühlsstarken. Es ist wichtig, dass man Kindern ein möglichst gutes Vokabular in Bezug auf Gefühle und emotionale Zustände mit an die Hand gibt. Je differenzierter sie über ihre Gefühle sprechen können, desto besser können wir mit ihnen arbeiten. Wenn Kinder kicken, treten und trampeln, vergeben wir häufig das Etikett „wütend“, aber das trifft oft gar nicht den eigentlichen Schmerz des Kindes. Fühlt es sich überfordert, überreizt, eifersüchtig, allein, ruhebedürftig? Das Etikett „Wut“ kann so viele andere, differenzierte Gefühle überkleben, über die wir mit Kindern sprechen können.
Was sind die Stärken gefühlsstarker Kinder?
Häufig sind die Stärken und Schwächen gefühlsstarker Kinder zwei Seiten einer Medaille. Die Kinder sind perzeptiv und wahrnehmungsoffen, sie sind empathisch und haben feine Antennen. Das kann eine große Stärke, manchmal aber auch eine große Bürde sein.
Außerdem sind die Kinder neugierig und wollen den Dingen auf den Grund gehen, verstehen, wie etwas funktioniert. Sie sind kreativ und ausgesprochen ausdauernd, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben. Selbst gesteckte Ziele möchten sie um jeden Preis erreichen und sie vergessen oft sogar Hunger und Durst, wenn sie im Flow sind. Manchmal wirken gefühlsstarke Kinder dominant, aber das hat nur damit zu tun, dass sie von ihrer eigenen Leidenschaft so überwältigt werden, dass sie unbedingt ihren Plan durchsetzen möchten.
Das klingt toll, aber auch anstrengend für alle Beteiligten. Wie können Fachkräfte Eltern unterstützen, die vom Temperament ihrer Kinder überfordert sind?
Das Allerwichtigste ist, dass Fachkräfte den Eltern keine Vorwürfe dafür machen, dass ihr Kind so ist, wie es ist. Viele Eltern gefühlsstarker Kinder bekommen immer wieder vermittelt, ihr Kind wäre so, weil sie irgendetwas falsch gemacht hätten. Dabei werden aber Ursache und Wirkung verwechselt. Eltern gefühlsstarker Kinder gehen oft sehr vorsichtig mit ihren Kindern um und achten darauf, dass sie sie nicht zu sehr frustrieren. Außenstehende könnten denken, dass die Kinder Grenzen überschreiten, weil die Eltern Konflikten aus dem Weg gehen. Aber die Eltern haben eben ein paar Jahre Erfahrung mit ihrem Kind im Gepäck und wissen, dieses Kind hat nur eine begrenzte Frustrationstoleranz.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Eltern wissen aus Erfahrung: Wenn ich jetzt in der Abholsituation durchkämpfe, dass sich das Kind die Jacke selbst anzieht, dann sind die Reserven für den Nachmittag verbraucht. Deswegen ist es eine ausgesprochen clevere Entscheidung, diesen Kampf nicht zu kämpfen. Das können Fachkräfte anerkennen und den Eltern vermitteln, dass sie ihre Herausforderung sehen. Es geht darum, die Ressourcen der Eltern wertzuschätzen und zu stärken. Wenn diese Vertrauensbasis da ist, können Fachkräfte behutsam ins Gespräch gehen und die Eltern ermutigen, den Kindern ab und zu auch Konflikte und schwierige emotionale Situationen zuzutrauen – denn daran wachsen sie. Aber diese schwierige Situation kann viel kleiner und niederschwelliger sein als bei Kindern, die nicht gefühlsstark sind.
Das Interview führte Sofie Raff, Redaktion kindergarten heute.