Für junge Kinder sind Unterschiede im Lernen und der Entwicklung ganz normal, wenn wir sie Erfahrungen hiermit machen lassen. Das Recht auf gemeinsames Spielen und Lernen mit anderen Kindern würden sie von sich aus wohl nicht infrage stellen. Und doch ist gerade dieses Recht in Deutschland erst seit kurzer Zeit als Menschenrecht für alle Kinder anerkannt worden.
Inklusion als Menschenrecht
Das Recht auf Bildung ist bereits seit 1948 anerkanntes Menschenrecht (vgl. United Nations 1948). Doch wurde es aktuell in der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert, um die Pflicht zur Umsetzung für alle Menschen verbindlich zu verankern (vgl. United Nations 2006). Das Recht auf Bildung ist in der Konvention direkt mit dem Recht auf Partizipation verbunden. Dies ist für die Gestaltung inklusiver (Früh-)Pädagogik zentral, denn es macht deutlich, dass Bildung auf soziale Eingebundenheit angewiesen ist und in Sonderinstitutionen nicht angemessen umgesetzt werden kann. Der Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention schreibt daher die staatliche Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Erziehungs- und Bildungssystems auf allen Ebenen fest und ist somit verbindlicher Handlungsrahmen auch für Kindertagesstätten geworden. Es ist nun staatliche Aufgabe, geeignete strukturelle Bedingungen zur Umsetzung des Rechts auf Erziehung und Bildung für alle Kinder in einem inklusiven frühpädagogischen Erziehungs- und Bildungsangebot zu schaffen.
Die Ablehnung eines Kindes durch eine Kindertagesstätte mit der Begründung einer „Behinderung“ stellt eine Diskriminierung und damit einen direkten Verstoß gegen die Konvention dar (Artikel 24). In den Einrichtungen sind daher entsprechende Rahmenbedingungen notwendig, um die Konvention im Konkreten wirksam und umsetzbar zu machen. Wenn eine spezifische individuelle Unterstützung für einzelne Kinder notwendig ist (z.B. zusätzliches, spezifisch ausgebildetes Personal), so ist dies der Konvention gemäß in den Kindertagesstätten sicherzustellen und darf nicht an den Besuch eines Sonderkindergartens gebunden werden.
Die Idee inklusiver Erziehung und Bildung ist nicht neu. Die Entwicklungen integrativer bzw. inklusiver Strukturen begannen in Deutschland bereits vor mittlerweile vier Jahrzehnten. Eltern erstritten damals für ihre Kinder das Recht auf gemeinsame Erziehung im Kindergarten. Wissenschaftliche Begleitforschungen und Theoriebildungen integrativer bzw. inklusiver Pädagogik nahmen im Elementarbereich ihren Anfang und wurden späterhin auf die Schule übertragen (vgl. im Überblick Kron 2006; Seitz 2009). Kindertagesstätten können damit heute gleichermaßen auf umfassende Praxiserfahrungen sowie abgesicherte Forschungsergebnisse zurückgreifen, wenn sie sich zu einer inklusiven Einrichtung weiterentwickeln wollen. Die frühen Forschungsarbeiten in diesem Praxisfeld erarbeiteten grundlegende Erkenntnisse zur – in der damaligen Lesart ausgedrückt – gemeinsamen Erziehung von „behinderten“ und „nichtbehinderten“ Kindern. In diesen Arbeiten konnte zunächst gezeigt werden, dass integrative Erziehung erfolgreich funktioniert und vor allem wichtige Impulse zum sozialen Lernen der Kinder bieten kann (vgl. Kaplan et al. 1993).
Späterhin galt es übergreifender, nach dem Umgang mit Heterogenität zu fragen. Denn gesellschaftliche und soziale Entwicklungen hatten den pädagogischen Umgang mit der Heterogenität von Lebensformen und Lebenslagen insgesamt in den Fokus rücken lassen. Zuschreibungen von Kulturalität, Geschlechterzugehörigkeit, Befähigung und Beeinträchtigung sowie hieran anknüpfende Bewertungen wurden dabei als Ausdruck von zeitgebundenen und kulturell geprägten Diskursen und Meinungsbildungsprozessen deutlich gemacht und kritisch reflektiert. In der hier ansetzenden Grundlegung einer Pädagogik der Vielfalt wurde auch die enge Verknüpfung von inklusiver und demokratischer Erziehung und Bildung theoretisch und konzeptionell genauer ausgearbeitet (vgl. Prengel 1993).
Im Gesamtblick ist die Entwicklung in Richtung inklusiver Strukturen in Kindertagesstätten heute wesentlich weiter entwickelt als in Schulen. Aktuell besuchen über 60 Prozent der Kinder im Vorschulalter, denen Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe attestiert wurde, eine integrative bzw. inklusive Kindertageseinrichtung (vgl. Klemm 2010, S. 32), während die entsprechende schulbezogene Quote derzeit lediglich bei rund 22 Prozent liegt (Kultusministerkonferenz 2010). Zu bedenken ist jedoch, dass Kinder mit attestiertem Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe weiterhin erst verhältnismäßig spät – oft erst im vierten oder fünften Lebensjahr – in Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (Riedel 2008). Bis dahin partizipieren diese Kinder entweder gar nicht an institutionalisierter Bildung und Erziehung oder sie erhalten – in der Regel wöchentlich – ein Frühförderangebot. Insbesondere Kinder mit Unterstützungsbedarf im Alter bis zu drei Jahren werden ungeachtet des wachsenden Angebots an Betreuungsplätzen für diese Altersspanne weiterhin nur selten in Kindertagesstätten betreut, was auch für deren Eltern soziale Ausgrenzung bedeuten kann. Hier gibt es enormen Entwicklungs- und Ausbaubedarf (vgl. Seitz et al, 2012).
Inklusion bedeutet einen bewussten und reflektierten Umgang mit der Heterogenität des Lernens sowie von Entwicklungs- bzw. Sozialisationsbedingungen insgesamt. Risiken für Ausgrenzung oder Marginalisierung können sich dabei in unterschiedlicher Ausprägung zeigen und gegenseitig überlagern. Daher ist ein wesentlicher Aspekt, der gegenwärtig mit der begrifflichen Weiterentwicklung von der Integration zur Inklusion verknüpft wird, die gedankliche Zusammenführung verschiedener Dimensionen von Heterogenität wie kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Alter, Gender und Befähigung. Für die Weiterentwicklung inklusiver Konzepte ist das komplexe Zusammenwirken der vielschichtigen Heterogenitätsdimensionen, welche die Lebenslage eines Kindes kennzeichnen können, in ihrer Verschränkung und Dynamik im Hinblick auf Barrieren für gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe in den Blick zu nehmen. Es geht insgesamt um eine besondere Aufmerksamkeit für Risiken und Gefährdungen von Kindern, die an den Rand gedrängt oder ausgegrenzt werden (Marginalisierung bzw. Exklusion) und/oder die eigenen Potenziale für Lernen und Entwicklung nicht entfalten können (vgl. UNESCO 2009).
Um dieser Komplexität Rechnung zu tragen, sollte für eine inklusive Praxis milieu-, kultur- und geschlechtersensible Pädagogik verknüpft gedacht werden. In der Umsetzung in der Kindertagesstätte geht es darum, Unterschiede zwischen Kindern anzuerkennen, ohne dies mit einer Bewertung zu verbinden, d.h. zu hierarchisieren („egalitäre Differenz“, Prengel 1993). Vielmehr werden diese Unterschiede als Ausgangspunkt für soziale Lernprozesse gesehen. Menschliche Vielfalt wird hier als Quelle möglicher kultureller Bereicherung betrachtet (vgl. Bielefeldt 2009, S. 7) und als eigener Wert anerkannt. Jedoch ist diese Betrachtungsweise nicht mit einer undifferenzierten Befürwortung gleichzusetzen. Insbesondere mit Blick auf materielle Armut und soziale Ungleichheit ist ein reflektierter Umgang mit Heterogenität gefordert, eingebettet in gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen (vgl. Prengel 2010). Dies stellt die pädagogischen Fachkräfte vor die Herausforderung, eine Balance zu schaffen zwischen Wertschätzung verschiedenster Lebenssituationen und der Schaffung einer entwicklungsförderlichen Umgebung, in der sie die Barrieren für Partizipation abbauen helfen, damit das Kind sein Potenzial entfalten kann.
Bildungs- und Entwicklungsbegleitung
Zwar finden sich Aspekte von Inklusion in der allgemeinen Grundlegung vieler Bildungspläne, nicht aber in der Konkretion der Bildungsanforderungen. Hier besteht Entwicklungsbedarf. Die vielfältigen Lebenslagen, Entwicklungsbedingungen und Gefährdungen von Kindern sollten konzeptioneller Ansatzpunkt für die Gestaltung der konkreten Bildungsbegleitung werden (vgl. Seitz et al, 2012). Kindertagesstätten, die sich auf den Weg in Richtung Inklusion begeben, öffnen sich für die Idee, Barrieren für Partizipation und Lernen innerhalb der Strukturen, des Konzepts sowie der Arbeitsweisen in der Einrichtung zu erkennen und abzubauen sowie hierfür notwendige Ressourcen zu mobilisieren (vgl. Booth et al. 2006). Ein- und Ausgrenzungsprozesse innerhalb der Einrichtungen müssen kritisch betrachtet und reflektiert werden. Es gilt, die pädagogische Praxis so zu gestalten, dass allen Kindern individuelle Bildungs- und Lernprozesse ermöglicht werden. Eine inklusive Bildungs- und Entwicklungsbegleitung berücksichtigt zum einen die vielfältigen individuellen Bedürfnisse und unterstützt zum anderen die Partizipation aller Kinder. Interaktionen zwischen Kindern unterschiedlicher Kompetenz- und Entwicklungsniveaus bieten ein hohes Anregungspotenzial.
Aktivitäten in der Kindergruppe werden so gestaltet, dass die Kinder entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen sozial eingebunden herausgefordert werden (vgl. Seitz et al 2010). Jedes Kind kann individuelle Unterstützung brauchen, um seine Entwicklungspotenziale auszuschöpfen. Einige Kinder benötigen aber spezifische, fachlich fundierte Unterstützung in einem bestimmten Entwicklungsbereich, um sich entwickeln zu können und damit ihre Teilhabe abgesichert wird. Der in diesem Zusammenhang üblicherweise gebrauchte Begriff der Frühförderung ist hierbei zunächst irreführend, denn er legt nahe, das Kind würde von einer pädagogischen Fachkraft in seinem Entwicklungsweg „befördert“ – obgleich wir wissen, dass Bildung und Entwicklung selbstgesteuerte Prozesse sind, die ein Kind letztlich selbst vollzieht. Das pädagogische Umfeld und gezielte Unterstützung können lediglich Impulse und Anreize setzen. Konzepte der Frühförderung setzen dann auch hier an und zielen primär auf die Stärkung und Begleitung des Kindes in seinem Umfeld. Denn Gefährdungen der individuellen Entwicklung sind nur im Gesamtblick auf die Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen eines Kindes zu verstehen (vgl. u. a. Sohns 2010). Spezifische Unterstützung im Format der Frühförderung sollte in der inklusiven Kindertagesstätte stets unter der Leitidee der sozialen Einbindung umgesetzt werden (vgl. Seitz et al, 2012).
Zusammenarbeit – mit Eltern, im Team und mit externen Kooperationspartnern.
Inklusion betrifft stets die gesamte Kindertagesstätte und ist ein Prozess, der von allen, die an der Erziehung und Bildung der Kinder beteiligt sind, gemeinsam gestaltet wird. Um inklusive Prozesse zu ermöglichen, ist insbesondere eine gelingende Gestaltung von Erziehungspartnerschaften grundlegend, bei der sich pädagogische Fachkräfte und Eltern bzw. Bezugspersonen gleichberechtigt begegnen. Auch wenn Wertund Erziehungsvorstellungen der Eltern von denen der pädagogischen Fachkräfte abweichen, wird stets ein professioneller respektvoller Umgang gepflegt. Besonders für Eltern, die bereits früh mit der medizinischen Diagnose einer Behinderung ihres Kindes konfrontiert wurden, sowie für Mütter und Väter, die sich Sorgen um die Entwicklung ihres Kindes machen, etwa weil es als „von Behinderung bedroht“ gilt, ist ein sensibler Umgang wichtig.
Ein wesentlicher Aspekt der Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. Bezugspersonen ist die Eingewöhnung. Diese Phase ist für die Gestaltung sicherer Bindungen in der Kindertagesstätte entscheidend. Das Eingewöhnungskonzept sollte auf verschiedene Bindungstypen, spezifische Ausdrucksformen sowie familiäre und kulturelle Unterschiede eingehen und den jeweiligen Bedarfen entsprechend flexibel angepasst werden (vgl. Seitz et al., 2012). Inklusive Kindertageseinrichtungen betrachten deshalb nicht verengt die Kinder mit ihren spezifischen Bedürfnissen, sondern werden auch die Lebensformen und soziokulturellen Lebenslagen der Familien vorurteilsbewusst reflektieren. Die konzeptionelle Berücksichtigung des sozialen Umfeldes ist für Kinder in Risikolagen besonders relevant. Hier ist das Konzept der Familienzentren (vgl. Diller 2005) hervorzuheben.
Mindestens ebenso bedeutsam wie die Zusammenarbeit mit Eltern und Bezugspersonen ist die Arbeit im Team. Inklusion in der Kindertagesstätte lässt sich nicht als Zusatzprogramm neben einem unverändert bleibenden pädagogischen Alltag umsetzen, sondern ist eine Innovationsaufforderung an alle Ebenen der Einrichtung – sie kann daher eine Chance zur Organisationsentwicklung sein, aber auch ein Hinweis auf notwendige Reformprozesse. (Lesen Sie hierzu auch den nachfolgenden Praxisbeitrag.) Entscheidend für das Gelingen inklusiver Praxis ist eine intensive Kommunikation innerhalb des Teams. Die pädagogischen Fachkräfte und multiprofessionalen Teams sollten jeweils die gemeinsame Verantwortung für alle Kinder der Gruppe übernehmen und ihre Zuständigkeiten aufgabenbezogen statt kindspezifisch aufteilen. Dies betrifft insbesondere die Abstimmungsprozesse zwischen pädagogischen Fachkräften und Integrations- bzw. Frühförderkräften. Das regelhafte Herausnehmen einzelner Kinder aus der Gruppe, die unter der Maßgabe von Eingliederungshilfe Unterstützung erhalten, ist letztlich ein Relikt eines medizinischen Modells von Behinderung. Es kann zur Ausgrenzung dieser Kinder beitragen und die Abstimmung der pädagogischen Fachkräfte erschweren (vgl. Seitz/ Korff 2008). In der inklusiven Praxis sollte individuelle Unterstützung einzelner Kinder nicht auf Kosten von sozialer Einbindung gehen und die Ressource des Lernens von Kind zu Kind aktiv nutzen. Bei so verstandener gelingender Zusammenarbeit können die jeweiligen Kompetenzen der verschiedenen pädagogischen Fachkräfte allen Kindern zugute kommen; auch Abstimmungen zu dia- gnostischen Einschätzungen und geeignetem pädagogischen Handeln können auf diese Weise besser gelingen (vgl. Seitz et al, 2012). Die Kooperation mit externen Part- nern bietet ebenfalls vielfältige Chancen zur Erweiterung der eigenen fachlichen Perspektive.
Durch die intensive Zusammenarbeit des Teams mit externen TherapeutInnen und Frühförderkräften können die unterschiedlichen Praxiskompetenzen und das fachspezifische Wissen zusammengeführt werden. Die gemeinsame Fallberatung ermöglicht es besonders im Hinblick auf Kinder in Risikolagen, frühzeitig gemeinsame Strategien zu entwickeln.
Wie geht es weiter? – Ein Ausblick
Zukunftsbezogen ist es sinnvoll, spezifische Unterstützung und zusätzliche Ressourcen nicht länger an individuelle Diagnosen einzelner Kinder zu binden, sondern sie systemisch den Einrichtungen zuzusprechen, damit diese hiermit flexibel umgehen können. Inklusion in Kindertagesstätten ist als ein übergreifendes Konzept für alle Kinder zu verstehen. Die Frage nach einem gelingenden Umgang mit Heterogenität sollte in alle Aufgaben der Einrichtung eingebunden werden. Erst dann kann das Innovationspotenzial, das sich aus der Weiterentwicklung in Richtung Inklusion für die Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten insgesamt ergibt, zum Tragen kommen. Auch beim derzeitigen Ausbau von Tagesbetreuungsplätzen für Kinder bis zu drei Jahren sollte an eine Verknüpfung mit dem Leitbild der Inklusion gedacht werden, damit von Anfang an strukturelle und konzeptionelle Voraussetzungen für eine Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder geschaffen werden. In diesem neu erschlossenen Feld gilt es angesichts des hohen Drucks zum quantitativen Ausbau ganz besonders, Qualität zu sichern und differenzielle Effekte zu vermeiden. Es geht also auch darum, Unterschiede in Bildungsausgangslagen durch frühe Betreuung und spezifische Förderung nicht zu verstärken (vgl. Seitz et al, 2012), sondern allen Kin-dern Teilhabe an früher – inklusiv strukturierter – institutioneller Bildung, Erziehung und Betreuung zu ermöglichen.
Wenn es gelingt, einen inklusiv gestalteten, gemeinsamen frühen Einstieg in die Betreuung für alle Kinder als selbstverständlich zu etablieren, so wäre dies eine gute Ausgangsbasis für die weitere Entwicklung inklusiver Strukturen, Werte und Handlungspraxen auf allen Ebenen des Erziehungs- und Bildungssystems als Normalfall.