Wenn Ihre Mitarbeiterin den scheinbar unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand für die Krippenkinder beklagt, dann ist es aus fachlicher Sicht das Naheliegendste, dass Sie mit der Bedeutung der beziehungsvollen Pflege argumentieren: Pflege umfasst die vielen alltäglichen Situationen vom morgendlichen Ausziehen in der Garderobe über die gemeinsamen Mahlzeiten und deren Gestaltung bis hin zum anschließen- den Händewaschen und Zähneputzen oder beispielsweise auch das Eincremen mit Sonnenmilch. Ebenso gehören dazu das allseits beliebte „Matschen“ mit Schaum, Wasserspiele sowie alle weiteren Möglichkeiten, den Körper zu entdecken. Und schließlich kann auch das Schlafengehen, das Anziehen danach und das Zubereiten von Mahlzeiten als Pflegesituation verstanden werden. Doch der Schwerpunkt liegt natürlich auf der Wickel- und Pflegesituation, die täglich mehrmals stattfindet. Veranschaulichen Sie Ihrer Mitarbeiterin, dass Pflege sehr viel mehr ist als eine hygienische Notwendigkeit.
Was bedeutet „beziehungsvolle Pflege“?
Geprägt wurde der Begriff von Emmi Pikler, einer ungarischen Kinderärztin. Er beschreibt Pflege als die Basis von Beziehungsgestaltung zwischen der Erzieherin (bzw. den Eltern) und dem Kind. Die Pflegesituation ist in den ersten Monaten und Jahren des Kindes eine der häufigsten. Durch die Interaktion zwischen Kind und Erzieherin wird die Beziehung intensiviert und geformt. Der Blick der Erzieherin auf das Kind, auf seine Fähigkeiten, Fertigkeiten, Interessen und Vorlieben kann sich in einer intimen Pflegesituation, die nur ihr und dem Kind gehört, verändern. Im Dialog und im feinfühligen Hinschauen und Reagieren auf das, was das Kind gerade bewegt und was sein Anliegen ist, entstehen neue Möglichkeiten der Begegnung und des gegenseitigen Kennenlernens. Ein wichtiges Merkmal hierbei ist die Kooperation: Welcher Impuls kommt vom Kind, wo nimmt man ihm vielleicht etwas ab, was es selbst erlernen will oder schon kann? Kann sich das Kind als selbstwirksam erleben? Fühlt es sich im richtigen Maß unterstützt? Die feinfühlige Wahrnehmung der kleinen Signale und Zeichen des Kindes sowie das Angebot und die Gestaltung einer sicheren Bindung und Beziehung ermöglichen es dem Kind, sich auf die Pflegesituation einzulassen.
Pflege bietet Möglichkeiten ganzheitlicher Bildung.
Während der Pflegesituationen, die Ihre Mitarbeiterin mit dem Kind über den Tag hinweg erlebt, bestehen vielfältige Möglichkeiten der (Selbst-) Bildung für das Kind. So erfährt es z.B. durch den intensiven Körperkontakt zunächst Geborgenheit, Nähe, Wertschätzung, Achtung und Vertrauen. Es erlebt Bindung und Beziehung und wird in seiner emotionalen Kompetenz gestärkt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Kind seine Umwelt erkunden möchte und aus sich selbst heraus lernt. Das Kind kann sich außerdem in seiner Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit erproben, indem es z.B. beim An- und Ausziehen mithilft. Oder es kann möglicherweise schon selbstständig den Wickeltisch hochklettern, seine Windel aus dem Regal holen oder eine Cremetube öffnen. Es hat auch die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob es noch auf das Töpfchen möchte oder nicht. So stärkt es in diesem Moment seine Willensentwicklung und das Ich-Bewusstsein. In anderen Situationen, z.B. dem An- und Ausziehen, schult das Kind seine motorischen Kompetenzen immer wieder aufs Neue. Wer kennt es nicht, wenn ein Kind immer wieder versucht seine Strümpfe an- und auszuziehen? Eine liebevolle verbale Begleitung, ein feinfühliges Wahrnehmen dieses Bedürfnisses, ein Nicht-abnehmen dieser Tätigkeit, aber ein Dabeisein und evtl. Hilfestellung- geben machen diese Situation zu einer Lernerfahrung. Jede Pflegesituation ist also ein ganzheitlicher Lern- und Bildungsprozess, in dem das Kind vielfältige und bereichernde Erfahrungen machen kann, die sich verinnerlichen und zu einem Kompetenzgewinn führen können. Und dies alles auf der Basis einer guten und verlässlichen Bindungsbeziehung.
Welche Rolle spielt Ihre Mitarbeiterin in der Pflegesituation?
Die Hände der Erzieherin sprechen zu dem Kind. Feinfühlige, sanfte, aber nicht fordernde Hände helfen dem Kind, sich zurechtzufinden und zu verstehen, was geschieht. Die Augen und die Mimik der Erzieherin bilden dabei ein weiteres Mittel des Dialogs. Das Kind reagiert feinfühlig auf Blicke und Körpersprache. Besonders wichtig ist es, das eigene Tun stets mit Worten zu begleiten. So hat das Kind eine Orientierung und kann sich in der Situation sicher und aufgehoben fühlen. Es lernt seinen Körper, seine Gefühle und die Welt um sich herum kennen. Gleichzeitig wird dabei seine sprachliche Kompetenz gefördert. Kurzum: Es wird auf allen Ebenen angesprochen. Anhand all dieser Beispiele können Sie Ihrer Mitarbeiterin zeigen, dass Pflegesituationen als ereignisreiches Miteinander zu verstehen sind, die gleichzeitig immer auch die Möglichkeit vielseitiger Lern- und Bildungsprozesse bieten. Aber: Beziehungsvolle Pflege braucht eben auch ihre Zeit.
Was heißt das für den Alltag?
Da die Pflege einen wichtigen Bereich bei den Kindern unter drei Jahren darstellt, muss im Kita-Alltag genug Zeit dafür eingeplant werden. Nicht nur Ihre Mitarbeiterin, sondern das ganze Team hat die Aufgabe, sich mit dem Thema Pflege und ihrer Bedeutung auseinanderzusetzen und den Tagesablauf entsprechend anzupassen und zu gestalten. Ebenso müssen die Eltern als Erziehungspartner in das Thema einbezogen werden, zum einen, damit keine falschen Vorstellungen bezüglich der pädagogischen Erziehungs- und Bildungsarbeit entstehen, zum anderen, weil durch die Kooperation mit ihnen die beziehungsvolle Pflege u.U. auch zu Hause bewusster gelebt und umgesetzt werden kann. Alle Fragen im Zusammenhang mit diesem Thema gilt es im Team, in Absprache mit dem Träger und im Einklang mit der pädagogischen Konzeption der Einrichtung zu klären. Darin liegt auch die Chance, bei den Beteiligten - sofern notwendig - den bisherigen Blick auf die Bedeutung von Pflege zu verändern, ihre Möglichkeiten als Bildungssituation mit vielfältigen ganzheitlichen Erfahrungen für das Kind und als „Raum“ für die Beziehungsgestaltung herauszustellen. Und um zur Ausgangsfrage Ihrer Mitarbeiterin zurückzukehren: Wenn es Ihnen gelingt, der Mitarbeiterin und jedem, der so oder ähnlich bei Ihnen nachfragt, auf diese Weise die Bedeutung von Pflege zu vermitteln, sollte deutlich werden, dass Erziehungs- und Bildungsarbeit eben auch in jeder Pflegesituation stattfindet.