Eine Biografie ist zunächst einmal die mündliche oder schriftliche Lebensbeschreibung einer Person. Diese erfasst im Unterschied zu einem Lebenslauf nicht nur alle Daten und deren zeitliche Abfolge. Im Vordergrund stehen auch die Bedeutung und Interpretation der einzelnen Ereignisse für den jeweiligen Menschen und seine Entwicklung (vgl. Miethe 2011, S.12).
Praxisbeispiel
In der Dienstbesprechung geht es heute um das Mittagessen und den Umgang der pädagogischen Fachkräfte mit Kindern, die ihren Teller nicht leer essen wollen. Im Verlauf der Diskussion treffen kontroverse Meinungen aufeinander. Zwischen zwei Kolleginnen entspinnt sich ein heftiger Disput: Eine von ihnen vertritt die Meinung, dass ein Kind auf jeden Fall das aufessen müsse, was es sich genommen hat. Lebensmittel seien zu schade, um sie wegzuwerfen. Die andere Kollegin nimmt die gegenteilige Position ein: Aus ihrer Sicht sei ein Kind noch nicht in der Lage, die Menge richtig einzuschätzen, und sollte deshalb nicht zum Aufessen gezwungen werden. Die Leiterin nimmt diesen Disput zum Anlass und bittet alle Mitarbeiter/-innen, sich einmal an ihre eigene Kindheit zu erinnern und eine typische Essenssituation von früher zu erzählen. Und so berichtet eine Erzieherin aus ihrer Zeit als Kind, in der das Essen knapp und sie froh war, wenn sie abends nicht hungrig ins Bett gehen musste. Daher schmerzt es sie, wenn sie Essen wegwerfen muss. Sie kann aber im zeitlichen Abstand zu damals erkennen, dass die Kinder heute in einer anderen Lebenssituation aufwachsen. Eine andere Kollegin erzählt davon, dass sie immer gezwungen wurde, ihren Teller leer zu essen, auch wenn sie bereits satt war oder etwas überhaupt nicht mochte. Sie erkennt ihre eigene Empfindlichkeit bezüglich des Themas. In der Bewusstmachung der individuellen Erfahrungen entsteht eine lebhafte Diskussion. Im Ergebnis gelingt es dem Team, mithilfe entsprechenden Fachwissens ein einheitliches Handeln rund um das Ernährungsverhalten der Kinder zu vereinbaren.
In dem oben genannten Beispiel wirkt der Impuls der Leitung zur biografischen Selbstreflexion als Türöffner für die weitere Diskussion und als Schlüssel zur Problemlösung im Team. Indem die pädagogischen Fachkräfte sich ihre eigene Vergangenheit vergegenwärtigen, verstehen sie ihr Handeln in der Gegenwart. Das Verständnis dafür, dass das eigene Handeln mit der Sozialisierung und Erziehung zu tun hat, ermöglicht eine Distanzierung zu dem Erfahrenen. Gleichzeitig lässt es eine reflektierte Umdeutung unter Berücksichtigung des pädagogischen Fachwissens zu. Auf diese Art und Weise trägt die biografische Selbstreflexion entscheidend zur Professionalisierung des pädagogischen Handelns bei.
Selbstreflexion der Leitungskraft.
Ihr eröffnen sich bei genauerer Betrachtung verschiedene Ebenen zur Auseinandersetzung mit Biografien und biografischer Selbstreflexion. Mit Blick auf sich selbst als Führungskraft nimmt die Auseinandersetzung mit den eigenen biografischen Hintergründen und Handlungsmustern eine zentrale Rolle ein. Eine gute Kenntnis der eigenen Persönlichkeit basierend auf dem Bewusstsein der eigenen Geschichte und Prägung ist Grundlage professionellen Führungshandelns. So kann es beispielsweise hilfreich sein, sich an die eigene Geschwisterkonstellation zu erinnern und daran, dass man schon früher für die jüngeren Geschwister Verantwortung übernommen hat. Dass man also schon damals pflichtbewusst Aufgaben erfüllt hat, warum es daher in der Rolle als Leitung jetzt manchmal schwerfällt, Verantwortung abzugeben und zu delegieren. Hier bietet sich der Ansatzpunkt, solche Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern. In diesem Bewusstsein ihrer biografischen Wurzeln kann die Leitungskraft klarer und nachvollziehbarer Entscheidungen treffen und Arbeitsaufträge formulieren.
Selbstreflexion im Team.
Wie im Beispiel dargestellt führt die Auseinandersetzung mit den Biografien der einzelnen Teammitglieder zu weiteren Erkenntnissen im Hinblick auf einen gemeinsamen beruflichen und ggf. auch persönlichen Entwicklungsprozess. Dieser kann sich positiv auf die pädagogische Handlungsmotivation und die allgemeine Reflexionsbereitschaft auswirken. Die Begegnung mit den Kindern und ihren Eltern regt immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit an. So kann es in der Eingewöhnungszeit hilfreich sein, sich an das eigene Erleben neuer Situationen in Kindergarten und Grundschule zu erinnern, um so in Kontakt mit den Bedingungen des eigenen Aufwachsens zu kommen. So werden Idealvorstellungen, aber auch Belastungen und Krisen sichtbar.
Biografiearbeit in der Praxisanleitung.
Auch hier nimmt eine biografie- sensible Leitungskraft eine zentrale Rolle ein. In Ergänzung zur kompetenzorientierten Ausbildung, in der biografisches Lernen zunehmend fester Bestandteil ist, kann sie aus der Praxis heraus anregen, mit den Praktikant(inn)en deren pädagogisches Handlungsrepertoire zu reflektieren – und zwar vor dem eigenen biografischen Hintergrund. Die Erinnerung an Möglichkeiten bzw. Grenzen aus der eigenen Kindheit im Vergleich zu dem, was Kinder heute brauchen, hilft angehenden pädagogischen Fachkräften auf ihrem Weg zur Rollen- und Identitätsfindung. Hier übernimmt die Leitungskraft eine wesentliche Vorbildfunktion, indem sie durch eigene Reflexionsbereitschaft die Potenziale biografischen Lernens vorlebt. Pädagogische Fachkräfte sollten daher immer wieder im Team Zeit finden, sich daran zu erinnern, welche Erfahrungen und Erlebnisse sie selbst in ihrer Kindheit gemacht haben und welche Auswirkungen diese auf ihre aktuelle berufliche Situation haben. In Verbindung mit dem entsprechenden Fachwissen ermöglicht dies oftmals mehr Kompetenz im Umgang mit Kindern, Eltern und mit den anderen Teammitgliedern.
Biografiearbeit im Leitungsalltag.
Tag für Tag bieten sich viele Gelegenheiten, biografisches Lernen anzuregen und die Erkenntnisse daraus in Teamsitzungen, Konzeptionstage, Mitarbeitergespräche und Praxisanleitung einfließen zu lassen. Eine Leitungskraft, die dies wohldosiert in die Teamentwicklung einbezieht, legt hier eine wichtige Basis für ein reflektiertes pädagogisches Handeln in der Einrichtung. Dabei kann die Biografie eines Menschen in verschiedene Teilbiografien (vgl. Klingenberger, 2003, S.106ff.) eingeteilt und dann entsprechend bearbeitet werden. Daraus ergeben sich Detailfragen, mithilfe derer eine Leitungskraft zusammen mit ihrem Team pädagogische Themen und Handlungsoptionen beleuchten kann. Im Folgenden ein paar Anregungen hierzu:
- Bei der sozialen Biografie liegt der Fokus auf den Lebensverhältnissen der Person. Daraus ergeben sich Fragen wie z.B.: Aus welchem sozialen Kontext komme ich? Wie stehe ich zu den Lebensbedingungen der Kinder und ihrer Familien in unserer Kita? Wo sind Parallelen oder Unterschiede zu meinen Lebensbedingungen früher und heute? Welches Familienmodell habe ich erlebt, welches Ideal von Familie prägt meine Vorstellung? Dieser Blickwinkel kann dabei helfen, eine annehmende Haltung gegenüber den verschiedenen Betreuungshintergründen und Lebensumständen bei Kindern von 0–3 Jahren und ihren Familien zu entwickeln.
- Die Entwicklungsbiografie beschäftigt sich vorrangig mit Fragen zu den sozialen Beziehungen und ihrer Bedeutung für die persönliche Entwicklung: Wo und durch wen habe ich Wertschätzung erfahren? Wie bin ich mit Demütigung umgegangen? Was sind meine Stärken und Schwächen? Welcher Kommunikationsstil war in meinem sozialen Umfeld vorherrschend? Welche Strategien wurden mir bei Konflikten und zu ihrer Bewältigung vermittelt? Dieser Teilaspekt kann im Umgang mit vermeintlich schwierigen Kindern und Eltern weiterhelfen, indem das eigene Konfliktverhalten beleuchtet und mit demjenigen der Kinder und/oder Eltern abgeglichen wird.
- Bei der Kulturbiografie steht zum einen das Interesse der einzelnen Person an Kultur in Form von Kunst, Musik, Theater etc. im Mittelpunkt der Fragestellungen; ergänzend dazu der Einfluss der Alltagskultur (Kleidung, Wohnung, Essen), wie sie sich in Alltagsritualen und Gewohnheiten spiegelt: Welche Rolle spielten in meiner Kindheit Bücher, Museen, Theater und Musik? Welche Bedeutung hatten gemeinsame Mahlzeiten? Was und wo wurde bei uns gegessen bzw. getrunken? Die Kulturbiografie spielt immer dann eine große Rolle, wenn es um Themen wie angemessene Spielkleidung, gesundes Essen, Schlafen etc. geht. Themen, die auch im pädagogischen Alltag von Teams viel Konfliktstoff bieten. Die Auseinandersetzung damit kann zum besseren gegenseitigen Verstehen beitragen. So werden Konfliktthemen emotional entschärft und lassen sich auf der Sachebene lösen.
- Die Mythobiografie beinhaltet Fragen zu Glaubenseinstellungen und Weltanschauungen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und grundlegend Einfluss auf die Weiterentwicklung nehmen: Wie wurden in meiner Kindheit Glaube und Religion praktiziert? Welche Botschaften, Glaubensgrundsätze, Werte und Normen waren in meiner Herkunftsfamilie wichtig? Wie ist mein Verhältnis zu Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit? Gerade Botschaften, Glaubensgrundsätze, Werte und Normen beeinflussen das pädagogische Handeln oft äußerst nachhaltig – im Positiven wie Negativen. Wurden einer pädagogischen Fachkraft Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einprägsam mit auf den Weg gegeben, so wird sie es als Affront und Vertrauensverlust werten, wenn ihr Eltern aus einem Schutzbedürfnis heraus Informationen vorenthalten.
- Die Lern- und Bildungsbiografie benennt die formalen Bildungsabschlüsse eines Menschen sowie die eher beiläufigen Lernprozesse und -ergebnisse im Verlauf seines Lebens. Daraus ergeben sich Fragen wie: Welche Vorstellung von Lernen habe ich? Welchem Bildungsweg bin ich gefolgt? Hat mir Lernen Spaß gemacht? Wann fiel mir das Lernen leicht? Wann habe ich mir selbst etwas beigebracht? An welche Erzieher/- innen und Lehrer/-innen erinnere ich mich gerne? Was habe ich von diesen übernommen? Wenn es im Team um die Bedeutsamkeit von Selbstbildungsprozessen und um die Rolle der Fachkraft als Lern- und Entwicklungsbegleiter/-in geht, können solche Fragen den Diskussionsprozess unterstützen.
- Die Biografie unter geschlechtsspezifischen Aspekten betrachtet die eigene Geschichte nach geschlechtssensiblen Gesichtspunkten und Fragestellungen: Welches Rollenbild haben mir meine Eltern vorgelebt? Welche Vorstellungen habe ich davon, wie Jungen und Mädchen sind oder sein sollten? Wie war der Umgang mit Sexualität? Dieser Bereich bekommt Bedeutung, wenn es um die gemeinsame Entwicklung eines sexualpädagogischen und geschlechterbewussten Konzepts geht.
- Die Biografie aufgrund nationaler Herkunft fokussiert die kulturellen Wurzeln und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität und betrachtet, wie beides den Lebensverlauf bestimmt und geprägt hat. Daraus ergeben sich folgende Fragemöglichkeiten: Welche Staatsangehörigkeit habe ich? Habe ich einen Migrationshintergrund? Welcher Kultur fühle ich mich verbunden bzw. zugehörig? Welche Werte und Normen sind mit diesem kulturellen Hintergrund verbunden? Wo stoße ich an kulturelle Grenzen? Bei der Entwicklung einer inklusiven, vorurteilsbewussten und kultursensiblen Pädagogik ist dieser Teilaspekt nahezu unverzichtbar. In Summe ergeben diese verschiedenen Aspekte die gesamte Biografie einer jeden pädagogischen Fachkraft, weil sie Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung genommen haben und noch nehmen.
Biografiearbeit zur Weiterentwicklung des Teams.
Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie entsteht ein innerer Dialog mit dem Erlebten. Auf diese Weise werden der Fachkraft eigene Potenziale, Strategien, Schwächen und Entwicklungsressourcen bewuss- t(er). Das Verstehen der eigenen Vergangenheit öffnet das Feld für die Weiterentwicklung und Veränderung von Handlungsansätzen in Gegenwart und Zukunft. Die Einbindung biografischen Lernens findet in der Regel eher informell statt. Im Leitungsalltag ergeben sich aus Situationen oder Themen heraus Möglichkeiten, biografische Aspekte einzubringen oder zu erfragen. Dies geschieht zunächst eher nebenbei und wird dann je nach Bedeutsamkeit in den Fokus gerückt und so der jeweiligen Fachkraft, Praktikant/in oder dem Team als erweiterter Zugang erschlossen. Wichtig ist hier aber immer, die Freiwilligkeit der Beteiligung an diesem Zugang zu beachten. Jede/r Einzelne entscheidet, ob und inwieweit sie/er ihren/seinen Blick dafür öffnet und ob bzw. was sie/er von sich erzählen möchte. Ergänzend hierzu können gemeinsame Teamtage oder die Indoor-Fortbildungen mit dem Thema Biografiearbeit eingeplant werden. Dabei ist es sinnvoll, dementsprechend ausgebildete Referenten und Supervisoren einzubeziehen, die Kurse, Seminare, Workshops oder Teamsupervisionen zu diesem Thema anbieten. Im Einzelfall kann eine pädagogische Fachkraft auf eigenen Wunsch oder auf Anraten der Leitungskraft auch eine Einzelsupervision mit individueller Biografiearbeit bekommen, um ihr eigenes professionelles Handeln vordiesem Hintergrund besser zu verstehen.
Fazit.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Biografiearbeit Leitungskräften eine wertvolle Möglichkeit der professionellen Auseinandersetzung mit der individuellen Lebensgeschichte bietet – und zwar sowohl der eigenen Person als auch dem Team, den einzelnen Fachkräften und bei der Anleitung von Praktikant(inn)en. Biografiearbeit ist als ein Perspektiven erweiternder Ansatz zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit Biografie in der Gegenwart leistet Erinnerungsarbeit mit Blick in die Vergangenheit und zeigt dadurch Veränderungspotenzial für die Zukunft. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann im Einzelfall sogar dazu führen, dass eine vertiefende und therapeutische Auseinandersetzung mit unverarbeiteten Erlebnissen notwendig wird. Die Auslöser, sich für eine therapeutische Begleitung zu entscheiden, können sehr unterschiedlich sein. Gestörte Bindungserfahrungen, soziale Herkunft, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen in der eigenen Familie oder bedrohliche Krankheits- und Krisenerfahrungen gilt es, in der eigenen Biografie zu analysieren, zu verstehen und anzunehmen. Hier bedarf es eines äußerst sensiblen und feinfühligen Umgangs mit solchen Themen. Da der Leitungskraft in der Regel eine therapeutische Ausbildung fehlt, darf sie an diesem Punkt auf keinen Fall tiefer einsteigen. Die Entscheidung liegt dann bei der einzelnen Fachkraft, sich mit professioneller Unterstützung dem weiteren Verarbeitungsprozess zu stellen. Unter dem Fokus „Schatzsuche statt Fehlerfahndung“ geht es jedoch hauptsächlich darum, durch Reflexion und das Verstehen der eigenen Lebensgeschichte den pädagogischen Fachkräften zu ermöglichen, ihre Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als Schatz und Grundlage für ihre persönliche berufliche und professionelle Weiterentwicklung zu entdecken. Wenn dies einer Leitungskraft gemeinsam mit ihrem Team gelingt, stehen die Chancen für ein reflektiertes und tragbares Fundament des gemeinsamen pädagogischen Denkens und Handelns gut.