Die Bindungsforschung (wie Grossmann/ Grossmann 2021) geht davon aus, dass frühe Bindungserfahrungen eines Kindes zu einem „inneren Arbeitsmodell“ („internal working model“) führen, das später die Art und Weise seines Bindungsverhaltens prägt. Dieses „innere Arbeitsmodell“, also ein inneres Abbild oder Schema der Erfahrungen, bildet dann eine sichere Basis für Neugierverhalten und eine „offene“ Weltbegegnungshaltung – oder verhindert dies bei Beeinträchtigungen. Etwa ab dem Alter von 18 bis 24 Monaten lassen sich vier „klassische“ Bindungstypen auf der Verhaltensebene unterscheiden: sichere, unsicher-vermeidende, unsicher ambivalente und desorganisierte Bindung1 .
Welche Funktion hat Feinfühligkeit der Bezugspersonen für das Bindungsverhalten des Kindes?
Bindungsverhalten von Kindern entwickelt sich abhängig von der Feinfühligkeit der Bezugspersonen (Ainsworth et al. 1978). Weitere Kennzeichen entwicklungsförderlicher Beziehungsgestaltung sind (Rönnau-Böse/FröhlichGildhoff 2020; Wadepohl et al. 2017; Ahnert 2007):
- Verlässlichkeit, Regelmäßigkeit, Kontingenz (sich wiederholende Begegnungsantworten), Präsenz;
- Zuwendung, Wertschätzung, bedingungslose Akzeptanz;
- Vermittlung von Sicherheit (inklusive Stressreduktion), Co-Regulation bei belastenden Erregungszuständen, Unterstützung des Aufbaus von Selbstregulationsstrategien (Glüer 2017, S. 99);
- Halt bieten, altersangemessene Grenzen setzen;
- Ermutigung, Erfolgsrückmeldung: Unterstützung von Neugier/Welterkundungsverhalten, Ermöglichung von Autonomie, ohne Infragestellung der Beziehungssicherheit;
- Assistenz; Explorationsunterstützung: Herausfordernde/bewältigbare Aufgabenstellung mit passgenauer Unterstützung.
Inwieweit beeinflusst die Interaktion pädagogischer Fachkräfte die Bindungssicherheit von Kindern?
Es gibt Hinweise, dass feinfühlige, am Bindungsstatus des Kindes ansetzende Interaktionsgestaltung der pädagogischen Fachkräfte ausgleichend wirken und zur Änderung des Bindungssystems beitragen kann (so bei Glüer 2017; Weltzien et al. 2017). Damit Fachkräfte angemessen auf das Kind eingehen, es verstehen und Interaktionen entwicklungs- und bindungsförderlich gestalten können, müssen sie in der Lage sein, seinen Bindungsstatus angemessen einzuschätzen. Für Kinder bis sechs Jahren gibt es dazu eine Reihe von Verfahren (Überblick: Glüer 2017; Zweyer 2006), die allerdings (zeit)aufwendig und unter den Rahmenbedingungen im Kita-Alltag kaum durchführbar sind. Teilweise ist auch eine umfangreiche Qualifizierung der Testleiter*innen erforderlich, die nur schwer zu realisieren ist. 2017 gab dies den Anlass zu einem Workshop von Praktiker*innen, Weiterbildner*innen und Wissenschaftler*innen, der die Entwicklung des EiBiS-Verfahrens initiierte2 .
Worum geht es beim EiBiS-Verfahren?
Die jetzige Fassung des EiBiS-Bogens entstand nach einer Phase langer Vortests, die mit Praktiker*innen diskutiert wurden. Die Ziele des Bogens bestehen darin,
- eine Einschätzung der Bindungssicherheit eines Kindes zu ermöglichen,
- von ausgebildeten pädagogischen Fachkräften genutzt zu werden (eventuell nach „Einweisung“),
- praktikabel zu sein und vorhandene Beobachtungsinstrumente zu ergänzen,
- als Reflexionshilfe passgenaue Beziehungsangebote zu ermöglichen.
Der Bogen basiert auf einer Stichprobe bei 1014 Kindern und 584 pädagogischen Fachkräften, umfasst 36 Fragen zu bindungsbezogenen Verhaltensweisen von Kindern von 1,5 bis 4,5 Jahren3 und ist in vier „Subskalen“ untergliedert:
Skala A: Nähe suchen und zulassen: Beobachtungsbeispiel: Das Kind kann den Wunsch nach körperlicher Nähe zum Ausdruck bringen. Das Kind zeigt seinen Wunsch nach Körperkontakt verbal oder indem es zum Beispiel auf die Bezugsfachkraft zu krabbelt.
Skala B: Umgang mit sozial belastenden Situationen: Beobachtungsbeispiel: Bei Übergängen in der Kita wirkt das Kind unbeteiligt oder es verstummt. Das Kind zeigt keine aktive Beteiligung an Übergängen, beobachtet die Situation aus der Ferne. Beispiel: Die Gruppe wechselt vom Gruppenraum auf den Spielplatz. Das Kind beteiligt sich nicht, findet nicht ins Spiel, steht auf dem Spielplatz herum.
Skala C: Offenheit für Neues, Explorationsfreude: Beobachtungsbeispiel: Das Kind lässt sich leicht auf neue Spiele und Anregungen ein. Dem Kind fällt es sichtlich leicht, neuen Spielen oder Anregungen Aufmerksamkeit zu schenken oder sich darauf einzulassen. Gegenteil: Das Kind lehnt die angebotenen Anregungen ab, zeigt Desinteresse oder benötigt viel Zuspruch durch die Bezugsfachkraft.
Skala D: Emotionsregulation und Emotionsausdruck: Beobachtungsbeispiel: Das Kind lässt sich der Situation angemessen beruhigen, wenn es traurig oder aufgeregt ist. („Annehmen“ der Co-Regulation). In einer Angst- oder Konfliktsituation wie etwa Streit um ein Spielzeug nimmt das Kind die Unterstützung der Bezugsfachkraft an und lässt sich trösten. Es teilt der Bezugsfachkraft seine Sorgen mit.
Vorformuliert sind 36 Verhaltensweisen, die beim beobachteten Kind je nach Häufigkeit in den letzten vier Wochen auf einer sechsstufigen Skala eingeschätzt werden (0=fast nie: Das Verhalten ist nicht oder nur einmalig/vereinzelt zu beobachten; 5=fast immer: Das Verhalten wird nahezu in allen Situationen gezeigt und ist durchgängiges Verhaltensmuster). Das Ausfüllen des Bogens dauert 15 bis 20 Minuten. Bei der ersten Verwendung ist es hilfreich, wenn zwei Fachkräfte dasselbe beobachtete Kind einschätzen, ihre Einschätzungen vergleichen und bei Bedarf diskutieren. Die Handreichung gibt genaue Hinweise zum Auswerten der Einschätzungen. Es liegen Normwerte für drei Altersgruppen (18–30, 31–42 sowie 43–55 Monate) und die Geschlechter männlich/weiblich vor. Diese Normwerte gelten für den Gesamtbogen, aber auch für die vier Subskalen. So lässt sich global einschätzen, ob ein Kind sicher gebunden ist, zu einer Risikogruppe gehört oder unsicher gebunden ist. Ebenso ist es möglich, Bezüge zu den vier „klassischen Bindungstypen.“ herzustellen (vgl. Hohagen/Fröhlich-Gildhoff 2020).
Wie wirkt sich EiBiS auf das Handeln aus?
Aus den Ergebnissen lassen sich Handlungsempfehlungen für die Interaktion mit dem beobachteten Kind und Hinweise für Eltern oder weitere Bezugspersonen ableiten. Diese geben aber nur erste Orientierung und müssen zur (Lebens-)Situation des Kindes in Bezug gesetzt werden. Dazu ist es nötig, die Beobachtung des Kindes und Reflexion des pädagogischen Handelns kontinuierlich fortzusetzen. Die Handreichung (Fröhlich-Gildhoff/Hohagen 2020a) gibt Rahmenorientierungen sowie Hinweise, welche Interaktionen mit Kindern mit sicherem, unsicherem, unsicher-ambivalentem Bindungsverhalten oder bei Risikowerten hilfreich sind.
Ein Beispiel (aber kein Rezept) für eine solche Handlungsorientierung ist die Begegnung mit einem Kind, bei dem ein Risiko für unsicherambivalentes Bindungsverhalten erkannt wurde. Weist sein EiBiS-Ergebnis darauf hin, so hat dieses Kind wahrscheinlich die Erfahrung gemacht, dass Bezugspersonen mal zur Verfügung stehen und innerlich präsent auf das Kind bezogen, mal innerlich und/oder äußerlich abwesend sind. So entsteht in der Psyche des Kindes das tiefe Gefühl von Unsicherheit, ob es gesehen und seine Bedürfnisäußerung beantwortet wird. Diese Kinder sind grundlegend unsicher, ob und wann sie Zuwendung erhalten, und versuchen, darum zu kämpfen. Dass sie ihr unbefriedigtes Bindungsbedürfnis oft dramatisch, herausfordernd oder „störend“ zeigen, ist auch eine Notreaktion. Für Kinder mit diesem Bindungsmuster ist es wichtig, kontinuierlich und mit gleichbleibender Qualität zu erleben, dass ihre Bezugspersonen – besonders die Bezugsfachkraft – ihre Signale wahrnehmen, verstehen. und zeitnah angemessen beantworten. Es wird länger dauern, bis das Kind neue, positive Erfahrungen annehmen und verinnerlichen kann, um dann in seinem Verhalten weniger dramatisch zu wirken.
Da pädagogischer Alltag nicht immer die durchgehende Zuwendung zu einem Kind ermöglicht, die es bräuchte, um sein Bindungsmuster zu ändern, kann es sinnvoll sein, exklusive Zeiten mit ihm zu vereinbaren, beispielsweise dreimal am Tag zehn Minuten im 1:1-Kontakt mit der Fachkraft. Dies sollte aber im Team abgesprochen und den anderen Kindern erklärt werden. Transparentes Vorgehen wird in der Regel von der Gruppe mitgetragen (vgl. FröhlichGildhoff/Rönnau-Böse/Tinius 2020). Der EiBiSBogen bietet Fachkräften eine Beobachtungsund Reflexionshilfe zur Orientierung für Interaktionen und macht Beziehungsangebote, um auf Nöte von Kindern einzugehen und ihre seelische Gesundheit zu fördern.
Hinweis der Redaktion
Vor wenigen Jahren ist um die klassische Bindungstheorie, die diesem Beitrag weitestgehend zugrunde liegt, eine kontroverse Diskussion entstanden. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt die Publikation „Mythos Bindungstheorie“ von Heidi Keller von 2019, in der die Autorin beispielsweise die fehlende Berücksichtigung kultureller Herkunft kritisiert.