Was heißt denn hier „nur“ betreuen?

Der Druck, unter dem viele Fachkräfte derzeit stehen, wird nicht abnehmen. Daher ist die Autorin überzeugt: Die Arbeit in der Kita muss neu definiert werden, um sie an Bedürfnissen der Kinder auszurichten und gleichzeitig die Selbstfürsorge der Fachkräfte zuerhöhen. Dafür hat sie auch einen Lösungsansatz.

Was heißt denn hier  „nur“ betreuen?
© Thomas Lai Yin Tang – GettyImages;

Gewerkschaften haben bundesweit anschaulich gemacht, wie sich Systemrelevanz demonstrieren lässt. Kita-Personal könnte das auch: politisch aktiv werden und vor allem laut sein. Als Supervisorin und Fortbildnerin bin ich in Krippe, Kita, Hort und Kindertagespflege unterwegs. Dass die Kita am Limit ist, bekomme ich täglich mit. Aber ich will nicht dabei stehen bleiben, diese Not wahrzunehmen. Ich halte es für notwendig, Kita neu zu denken und die Rolle der Fachkräfte den Gegebenheiten anzupassen. „Wir können nur noch betreuen“, klagen Fachkräfte. Dem entgegne ich: „Was heißt hier ‚nur‘? In einer professionellen Betreuung sind immer auch Erziehung und Bildung enthalten, also Betreuung PLuS.“ Das heißt: Pädagogisch, Lernintensiv und Situativ.

Gegebenheiten können gestaltet werden

Teams müssen sich darauf einstellen, keine gruppenbezogenen Angebote mehr machen zu können, weil sie ihre Zeit für andere Tätigkeiten benötigen. Davon sind auch regelmäßige Stuhlkreise, Vorschul- und ähnliche Angebote betroffen. Wollen wir Kindern trotzdem ein bildungsreiches Angebot machen, so wird das nur im Offenen Konzept mit Funktionsräumen klappen, also mit der Idee von Kita als einer einzigen Lernwerkstatt mit folgenden Schwerpunktaufgaben: 

Beziehung und Dialog: Kinder brauchen nährende Beziehungen zu Erwachsenen, die ihnen Sicherheit vermitteln. Das braucht Zeit. Deshalb sollte es wöchentlich für jedes Bezugskind eine mindestens zehnminütige „Quality Time“ mit Fachkraft-Kind-Interaktion geben, die sich an seinen Interessen orientiert und nicht unterbrochen wird. Kinder brauchen echte Zuhörer:innen sowie den gleichwürdigen und integritätswahrenden Dialog. Genau verstehen zu wollen, was das Kind meint, und auch mal bei philosophischen Gedanken zu verweilen, gelingt nur, wenn die Interessen des Kindes im Mittelpunkt stehen. Dann wird vieles, was in der Sprachförderung viel Zeit bindet, nicht mehr nötig sein.

Bedürfnisorientierung und Hygiene: Essen, Schlafen, Wickeln oder Toilettenbegleitung sind weitere Grundbedürfnisse, die vor allem bei jungen Kindern prompt und einfühlsam befriedigt werden müssen. Auch das braucht Zeit, die Fachkräfte in ihrem Tagesplan berücksichtigen müssen. Beziehungsvolle Pflege bedeutet, dass Wickeln schon mal zehn Minuten oder länger dauern kann. Da Pflegesituationen wichtige Bildungs- und Beziehungssituationen sind, ist die Zeit gut investiert und ersetzt manchen Stuhlkreis in gleicher Qualität. Ihre Essensangebote sollten Kitas offen gestalten. Der Vorteil liegt darin, dass sich ein bis zwei Fachkräfte für diesen Bildungsbereich fit machen und den Bistrodienst gestalten können. So bekommen andere Teammitglieder Zeit, sich den Bedürfnissen der Kinder zuzuwenden, die gerade nicht essen. Essen nämlich vier Gruppen gemeinsam in ihren Gruppenräumen, sind mindestens acht Fachkräfte für 30 Minuten oder länger gebunden. Das ergibt vier Stunden täglich, die Fachkräften im Tagesverlauf fehlen. Gemeinschaft lässt sich auch anders erleben.

Begleitung und Assistenz, vorbereitete Lernumgebung: Gerade in Situationen, die sie herausfordern, brauchen Kinder Zeit und Aufmerksamkeit – vor allem, wenn es um Mikrotransitionen, Konflikte, starke Emotionen und Wünsche geht. Übergänge mit Kindern zu gestalten, ihnen zuzugestehen, ein „Skript“ für sich zu finden, das für den anstehenden Übergang (etwa vom Essen zum Schlafen) passt, braucht Zeit. Es hilft Kindern jedoch, zu entspannen und in diesem Fall gut in den Schlaf zu finden. Je früher wir Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen, desto weniger müssen sie uns mit herausforderndem Verhalten darauf aufmerksam machen. Um Kinder auch im Hinblick auf ihre emotionale Befindlichkeit im Blick zu behalten, gibt es pädagogische Pausen: Die Fachkraft setzt sich im Laufe des Tages für einige Minuten hin und schaut alle Kinder im Raum nacheinander genau an. Sie überlegt, wie es den Kindern gerade gehen könnte: Wer ist entspannt und engagiert beim Tun? Wer wirkt gestresst oder verloren und braucht vielleicht Ansprache, um dialogisch herauszufinden, was ihm guttun könnte. Nach dem Mittagessen macht die „Tu Dir gut Zeit“ den Kindern drei unterschiedliche Angebote, die weniger Personal binden. Sie entscheiden, ob sie schlafen, beim Vorlesen ausruhen oder sich bewegen wollen. Begleitung von Kindern bedeutet auch, den Raum als zusätzlichen Lernbegleiter zu nutzen. Die Fachkraft muss sich bewusst werden, dass sie keine klassischen Lernangebote mehr machen können wird. Sie kann den Funktionsraum aber so gestalten, dass er Kinder magisch anzieht und ihnen Lust macht, zu explorieren und sich selbst zu bilden. Eine feste Tagesstruktur hat in diesem Konzept keinen Platz mehr. Stattdessen brauchen Kinder Orientierungspunkte: Frühstücken kann ich von 6.30 bis 10.00 Uhr, der Singkreis ist am Mittwoch ab 10.30 Uhr. Daraus schaffen sie sich ihre eigene Tagesstruktur. 

Keine Fürsorge ohne Selbstfürsorge: Aus dem bisherigen Wertekanon muss ungesunder Altruismus gestrichen werden. In der Kita geht es um Entschleunigung und darum, dass die Fachkraft merkt, wann sie in Stress gerät. Dann sollte sie sich überlegen, welche Aufgaben ihr gerade diesen Stress bereiten, und entscheiden, ob sie sie wirklich erledigen muss oder ob sie den Druck auch reduzieren kann. Mit diesem Text möchte ich Sie ermuntern, sich mit Ihrem Team auf den Weg zu machen. Seien Sie mutig: Streichen Sie alle Zeitfresser aus den Wochenplänen und verbringen Sie die gewonnene Zeit mit einzelnen Kindern. Ich garantiere Ihnen, nach drei Monaten werden die Kinder und Fachkräfte glücklicher sein. Teilen Sie mir gern Ihre Meinung mit: info@heike-baum.de

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