Mehr Betreuung, weniger Bildung?

Vielerorts entlädt sich Frust über die Belastungen durch den Fachkräftemangel. Unter diesen schlechten Bedingungen sei nur noch Betreuung möglich. Solche Beschwerden irritieren, gehört Betreuung doch mit Bildung und Erziehung zum dreifachen Auftrag. Ein Plädoyer für einen geringgeschätzten Begriff.

Mehr Betreuung, weniger Bildung ?
© Halfpoint Images - GettyImages

Im schulischen Bereich fiele es keiner Lehrkraft ein, sich bei der Erfüllung ihres Auftrags „Erziehung, Bildung und Unterricht“ dafür zu entschuldigen, dass sie bloß unterrichtet. Doch selbst in frühpädagogischen Fachkreisen genießt der Aspekt Betreuung wenig Wertschätzung (vgl. Wehner 2021). Definiert man Betreuung rein rechtlich, also dass Eltern Anspruch auf einen Betreuungsplatz für ihr Kind haben, dann dürfte sie auch nicht mehr für den Bildungsauftrag vereinnahmt werden. Doch das greift zu kurz, denn Betreuung ist und bleibt eine pädagogische Dimension. Also gilt es, den pädagogischen Stellenwert von Betreuung selbstbewusst zu verdeutlichen. Woran liegt es, dass Betreuung so wenig Wertschätzung erfährt? Solange die gängigen Vorstellungen von Bildung und Erziehung dazu beitragen, Betreuung abzuwerten, ohne sie genauer in den Blick zu nehmen, lässt sich ihr pädagogischer Stellenwert nur schwer hochhalten. Deshalb müssen drei Denkfehler korrigiert werden:

  • 1. Wenn Bildung fälschlicherweise nur als kritische Reflexionsfähigkeit gesehen wird, dann erscheinen:
    → Kleinkinder als ‚noch-nicht-ganz-Menschen‘, weil sie als „präreflexive“ Wesen defizitär sind;
    → betreuende Fachkräfte als ‚noch-nichtganz-Pädagog:innen‘, weil sie eine Arbeit leisten, die weniger wichtig oder wertvoll ist;
    → frühpädagogische Betreuungseinrichtungen als ‚noch-nicht-ganz-Bildungsinstitutionen‘, weil ihnen ein entscheidender Aspekt fehlt.
  • 2. Wird Lernen nur im Kontext von Notenvergabe ernstgenommen, dann:
    → genießen Pädagog:innen in solchen Berufen das höchste Prestige, in denen sie Zeugnisse und Zugangsberechtigungen vergeben;
    → erscheinen das Lernen von Kita-Kindern und die Arbeit von Kita-Fachkräften weniger wertvoll.
  • 3. Wird Erziehung ausschließlich als Tätigkeit verstanden, die Kultur vermitteln soll, dann gerät aus dem Blick, dass auch Beziehungsgestaltung und Care-Tätigkeiten, also sich um andere zu sorgen und zu kümmern, hohe pädagogische Bedeutsamkeit haben.

Betreuung muss neu entdeckt werden

Wenn es gelingt, die genannten drei Hürden durch eine andere Sicht auf Bildung, Lernen und Erziehung zu überwinden, dann erhält Betreuung die pädagogische Wertschätzung, die ihr zusteht:

  • 1. Wird Bildung umfassender als ‚Selbstsorge‘, also als menschliches Streben nach einem gelingenden Leben verstanden, dann:
    → beginnt Bildung nicht erst mit kritischer Reflexion, sondern schon bei der Geburt, wenn Kinder auf ihre ganz eigene Weise ausdrücken, was ihnen guttut und was nicht;
    → beantworten pädagogische Fachkräfte das kindliche Streben nach einem gelingenden Leben feinfühlig, umsichtig, zurück- und vorausschauend. Dabei werden fürsorgliche Tätigkeiten im Alltag genauso anerkannt wie vermittelndes Eingreifen.
  • 2. Sämtliche Lernprozesse des Kindes erfahren Wertschätzung ohne Benotung. Fachkräfte beantworten die Gegenwartsorientierung des Kindes situationsorientiert (Zimmer 2007). Sie greifen die Themen des Kindes auf oder muten ihm Themen zu (Andres/Laewen 2011). Lernen findet in der Frühpädagogik immer erlebens- und tätigkeitsorientiert, aber vor allem spielerisch statt. Gute pädagogische Qualität entsteht, wenn Kinder in vorbereiteter Umgebung möglichst frei, intensiv und vielfältig mit Gegenständen und anderen Kindern interagieren können.
  • 3. Im Sinne kultureller Vermittlung gehören zur Erziehung lehrende Zeigetätigkeiten. Gleichzeitig ist Erziehung aber auch Lebenshilfe, zu der die nicht vermittelnden Tätigkeiten, sogenannte Care-Arbeiten zählen wie etwa das Wickeln.

Alles in allem hat Betreuung drei erzieherische Aspekte, auf die sich pädagogische Fachkräfte selbstbewusst berufen können und die den Leitungskräften im Umgang mit dem Fachkräftemangel Spielräume eröffnen:

Beziehungsgestaltung und erzieherische Sorgehandlungen:

Die aktive Beziehungsgestaltung und tägliche Versorgungstätigkeiten wie das Wickeln sind unerlässlich, aber auch personalintensiv. Daran ändert selbst ein pädagogisches Verständnis von Betreuung nichts. Betrachtet man Betreuung jedoch unter pädagogischen Gesichtspunkten, so werden solche Tätigkeiten nicht (mehr) als nebensächlich oder pädagogisch ungenutzte Zeit bewertet. Denn sie sind an sich schon wichtige Erziehungs- und Bildungssituationen. Dieses Selbstverständnis entlastet Fach- und Leitungskräfte spürbar.

Indirekte Formen von Erziehung mithilfe vorbereiteter Umgebung:

Eine zentrale Rolle kommt hier dem kindlichen (Frei-)Spiel zu. Bei allen QM-Verfahren, die die Qualität pädagogischer Arbeit nach den Maßstäben Erwachsener bewerten, ist und bleibt der untrügliche Gradmesser, ob Kinder die Einrichtung gern besuchen. Kita-Räume als ‚dritte Erzieher‘ schaffen vielfältige Bildungsanlässe und entlasten Fachkräfte bis zu einem gewissen Grad. Ansprechend gestaltete Räume helfen Kindern, sich in konzentrierte, sinnstiftende und erfüllende Beschäftigungen hineinzufinden, aus denen Bildungsprozesse werden. Über die Raumgestaltung lassen sich auch Störfaktoren wie ein hoher Stresspegel oder Konfliktanfälligkeit reduzieren, die unnötig Ressourcen binden. Die Fachkräfte selbst profitieren von geeigneten Räumen, die ihnen beispielweise pädagogische Beobachtung in gesundheitsförderlicher Haltung ermöglichen. Überhaupt birgt die intensive Gestaltung von Räumen und Atmosphäre das größte Potenzial, wie Fach- und Leitungskräfte dem anhaltenden Personalmangel pädagogisch begegnen können.

Direkte Formen von Erziehung durch Bildungsangebote:

Die Klage „Wir betreuen ja nur noch“ deutet meistens darauf hin, dass aufgrund des Fachkräftemangels pädagogische Angebote zu kurz kommen. Trifft dies zu, ist es wichtig, zu priorisieren: Welche Angebote zielen auf zentrale Inhalte? Welche könnten auch in Form von indirekter Erziehung stattfinden, etwa durch das Von- und Miteinander-Lernen der Kinder? Wie kann die Planung von Angeboten auch die Gruppendynamik berücksichtigen, um möglichst viele Kinder zu erreichen? Pädagogische Fachkräfte dürfen sich ihre gehaltvolle Arbeit nicht kleinreden lassen und Leitungskräfte müssen Strategien finden, um die pädagogische Arbeit trotz Fachkräftemangels verantwortungsvoll zu gestalten. Wenn dieses Plädoyer für Betreuung dazu beizutragen kann, hätte es sein Ziel voll und ganz erreicht.

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