Fachkraft Fiona ist vertretungsweise in der Holzwerkstatt der Kita und beobachtet die Kinder, die dort mit Hammer und Nägeln werkeln. Leicht gequält verzieht sie ihr Gesicht, unterdrückt aber den Impuls, sich die Ohren zuzuhalten. Gern wäre sie wieder in der Wort- und Schreibwerkstatt, dem Bereich, den sie sonst betreut. Seitdem sie vor kurzem herausgefunden hat, dass sie hochsensibel ist, fällt ihr häufiger auf, wie stark ihr laute Geräusche zusetzen. Aber diese Erklärung hilft ihr zumindest, ihre empfindsame Wahrnehmung besser einzuordnen.
Gibt es Hochsensibilität überhaupt?
In den 1990-er Jahren fand die amerikanische Psychologin Elaine Aaron als erste heraus, dass manche Menschen Sinneseindrücke und Reize anders verarbeiten. Sie entwickelte einen Fragebogen und anhand der Antworten der Befragten das Konzept der „High sensitive Person“ (Hochsensible Person). Damit legte sie den Grundstein für ein neues Forschungsgebiet, das heute weltweit für Bereiche wie die Neurowissenschaft oder Persönlichkeitspsychologie relevant ist. Doch die Frage, ob es hochsensible Personen (HSP) tatsächlich gibt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die Forschung ist sich hierin nicht einig. Ein Teil der Forschenden ist überzeugt, dass zirka 20 Prozent der Menschen mit diesem Persönlichkeits- oder Charaktermerkmal zur Welt kommen. Ein anderer sagt, dass Hochsensibilität ein Konstrukt und schwer zu erforschen sei und bislang nicht wissenschaftlich bewiesen werden konnte. Nach Aaron haben hochsensible Menschen ein differenzierteres Innenleben, einen ausgeprägten Blick für Details und ein feineres Gespür für Stimmungen in Menschengruppen. Sie verfügen über hohe Empathie, lassen sich emotional leicht berühren, erleben Gefühle intensiver, aber halten Stress und Druck schlechter aus. Besonders die Verarbeitung von Sinneseindrücken wie Geräuschen, Licht, Gerüchen oder Materialien fordert Hochsensible heraus. Sie erschrecken leichter und sind weniger belastbar. Allerdings treffen diese Merkmale nicht auf jeden hochsensiblen Menschen gleichermaßen zu. Die Kritik des Konstrukts macht sich daran fest, dass es immer sensible und weniger sensible Menschen gebe. Die als hochsensibel beschriebenen seien eben diejenigen, die sich am oberen Ende der Skala „sehr sensibel“ befänden. Auch fehlten eindeutige wissenschaftliche Belege für das Phänomen. Aus zahlreichen Gesprächen weiß die Autorin jedoch, dass sich viele betroffene Menschen durch das Konzept zutreffend beschrieben fühlen und darin eine Erklärung für sich selbst finden. Festzuhalten bleibt, dass Hochsensibilität weder Krankheit noch Störung ist. Als Persönlichkeitsmerkmal muss sie weder therapiert noch medikamentös behandelt werden. Zeigen sich bei einem Menschen jedoch zusätzlich pathologische Krankheitsbilder wie Depression, kommt eine Therapie oder ähnliche Behandlung sehr wohl infrage. Menschen, die unter ihrer Hochsensibilität leiden, können sich Unterstützung in Form von Coaching und Beratung suchen oder an Gruppentreffen hochsensibler Menschen teilnehmen.
Was muss die Leitungskraft darüber wissen?
Für die Leitung ist es zunächst wichtig, zu wissen, dass Menschen, die herausgefunden haben, dass sie hochsensibel sind, den Arbeitsalltag deutlich reizintensiver erleben. Betroffenen Teammitgliedern ist meist selbst klar, dass sie hochsensibel sind. Während hochsensible Menschen früher nicht gern offen damit umgegangen sind, gerät das Thema heute zunehmend in den öffentlichen Fokus. Mittlerweile gibt es dazu vielfältige und leicht verständliche Fachliteratur. Nicht wenige Menschen stellen erst im Erwachsenenalter und nach der Berufswahl fest, dass auch sie hochsensibel sind. Hätten sie das vorher gewusst, wäre ihre Entscheidung höchstwahrscheinlich nicht für diesen Beruf gefallen. Hierin liegt wiederum die Herausforderung: Bestimmte Tätigkeiten passen nicht zur Empfindsamkeit, was zu Leidensdruck bei den Betroffenen führen kann. So wird eine geräuschempfindliche Person in einem Beruf mit hoher Lautstärke langfristig nicht glücklich werden.
Im Idealfall teilen Mitarbeiter:innen von selbst mit, wenn sie hochsensibel sind. Vermutet es die Leitung bei einem Teammitglied, das sich dazu noch nicht geäußert hat, sollte sie mit Zuschreibungen vorsichtig sein. Sie kann nachfragen, ob sich die Person schon mal mit dem Thema beschäftigt hat. Das stößt entweder auf Resonanz oder aber auf Abwehr. Dann könnte sie einfühlsam nachfragen, ob ein Leidensdruck vorhanden ist.
Praxisbeispiel: Die Leitung beobachtet regelmäßig, dass Kollegin Samira gequält das Gesicht verzieht, wenn es bei den Mahlzeiten laut ist und die Kinder mit Besteck und Geschirr lärmen. Manchmal hält sich Samira sogar die Ohren zu oder ruft verzweifelt: „Es ist mir jetzt echt zu laut hier!“
Berichtet eine Fachkraft der Leitung, dass sie/er HSP ist, sollte diese sich erkundigen, an welchen Besonderheiten sich das festmacht. Interessant wäre für die Leitung auch zu erfahren, wie es der/ dem Betroffenen an früheren Arbeitsstellen ergangen ist und was sie/er bereits unternommen hat, um für sich zu sorgen. Die Leitung kann in diesem Gespräch auch positive Beobachtungen erwähnen. Etwa, dass ihr schon aufgefallen ist, wie aufmerksam die/der Kolleg:in ist und etwa Trost spendet oder Verbesserungen initiiert.
Welche Maßnahmen lindern welche Problematik?
Geräuschempfindlichkeit: Ein professioneller Hörschutz für pädagogische Fachkräfte wird vom Hörgeräteakustiker individuell ans Ohr angepasst. Im Idealfall zahlt der Arbeitgeber, da es sich um eine Maßnahme des Betrieblichen Gesundheitsmanagements handelt. Der vorgegebene Schallschutz sollte regelmäßig bei der Gefährdungsbeurteilung überprüft und bei Bedarf nachgebessert werden. Der Träger wird eingebunden.
Erhöhter Stress in einer großen Kindergruppe: Hier sollte darauf geachtet werden, dass betroffene Mitarbeiter:innen große Kindergruppen in Kleingruppen trennen. Das erfordert unter Umständen, dass mehrere Räume zugänglich und durch Fachkräfte besetzt sind und dass das Außengelände jederzeit geöffnet ist, damit die Kinder rausgehen können und genügend Bewegungs-, aber auch Rückzugsmöglichkeiten haben. Das wirkt sich automatisch positiv auf die Lautstärke der Kinder aus.
Lichtempfindlichkeit: Sanfteres Licht und indirekte Beleuchtung lassen sich durch den Austausch von Leuchtmitteln erreichen, Vorhänge sollten sich leicht zuziehen lassen.
Kurze Pausen: Hier kann die betroffene Person befragt werden, ob ihr andere, ruhigere Tätigkeiten zwischendurch helfen würden, sofern sich dies einrichten lässt: zum Beispiel etwas aufzufüllen, etwas zuzubereiten, etwas mit einer kleineren Kindergruppe in einem anderen Raum zu machen …
Hohe Empfindsamkeit und Empathie: Personalmangel, hohe Fluktuation, enge Tagesstrukturen und Kinder mit besonderem Förderbedarf können dazu führen, dass die HSP „mitleiden“ und von Gefühlen wie Hilflosigkeit und Frustration überrannt werden. Auch wenn sie grenzverletzenden oder gewaltvollen Umgang mit Kindern miterleben, kann sie das noch stärker als die anderen treffen. Hier kann die Leitung betroffenen Teammitgliedern nur immer wieder Gespräche anbieten, um das Erlebte zu verbalisieren. Beim Träger kann sie sich für fachliche Begleitung von außen wie etwa Einzelsupervision oder Einzelcoaching einsetzen. Übertriebene Rücksichtnahme kann auch zum Rückzug des betroffenen Teammitglieds führen.
Hochsensible Fachkräfte können sich überlegen, ob und wie sie Empfindungen und ihre Reaktion darauf auch den Kindern transparent machen: beispielsweise wenn sie leicht erschrecken, sich bei Lärm die Ohren zuhalten, bestimmtes Material nicht anfassen oder schon bei leichten Gerüchen die Nase rümpfen. So können es die Kinder nachvollziehen und beziehen es nicht auf sich. Auch das Team muss informiert sein, dass speziell diese:r Kolleg:in Stressreduktion braucht. Häufig profitieren die anderen sowie die Kinder von solchen Maßnahmen, da viele der genannten Faktoren auch bei ihnen stressauslösend wirken und Stressreduktion ihnen ebenso zugutekommt.
Um einer Stigmatisierung hochsensibler Menschen entgegenzuwirken, sollten sie nicht ständig „mit Samthandschuhen“ angefasst werden. Übertriebene Rücksichtnahme im Sinne von „du bist kompliziert und anstrengend“ kann auch zum Rückzug der Person führen. Zudem kann im Team Unmut aufkommen: „Jetzt müssen wir immer im dunklen Zimmer sitzen, weil Sabine es zu grell findet“ oder „Jetzt können wir den Kindern nicht mehr die Trommeln zur Verfügung stellen, weil sie Marc zu laut sind“ oder „Immer darf Lucia mit einer kleineren Gruppe woanders hingehen“. Die Leitung fungiert hier als Moderatorin, die beide Seiten einbezieht und Verständnis füreinander herstellt. Wurde ein Umgang mit den Besonderheiten hochsensibler Personen gefunden, spielt er sich ein und muss nicht ständig neu thematisiert werden.