"Erzähl mal, Tante Inge!" Die Großtante weiß genau, was Manuel nun hören möchte: Wie es früher war, soll sie erzählen, immer wieder und immer wieder. Dass sie auch einmal so alt war wie Manuel jetzt ist, und dass sie genau so gern Brausepulver genascht hat wie er. Aber auch, dass die Welt damals etwas anders war als heute. Kein Computer im Arbeitszimmer der Eltern, kein Handy. Und vor allem: Kein Kinderkanal im Fernsehen, Manuel staunt. " Und was habt ihr gespielt?" Tante Inge erinnert sich: "Ballprobe zum Beispiel. Man wirft den Ball gegen eine Hauswand und muss ihn dann auffangen. Es wird immer schwieriger. Man klatscht vor dem Fangen in die Hände, dreht sich einmal um sich selbst, geht einige Schritte rückwärts, benutzt die Fäuste oder den Kopf. Jeder dachte sich neue Kunststücke aus." Das will Manuel nun gleich ausprobieren.
Frische Luft und reichlich Bewegung
Die Kinder der Nachkriegsjahre waren eine "Outdoor-Generation". Viel zu öde war es zu Hause, als noch kein Fernseher, keine Playstation die Langeweile vertrieb. Raus ins Freie - in den Garten, in den Wald oder auf den Hinterhof, wo es nach Brikettstaub und Mülltonnen roch.
Die Kinder dieser Generation waren einfallsreich, wenn es um das Erfinden von Spielen ging. Und manches, was sie spielten, hatten schon ihre Eltern und Großeltern gespielt. Heute weiß man, dass diese Spiele den Kindern genau das gaben, was sie für ihre Entwicklung brauchten. Bewegung macht nämlich nicht nur den Körper widerstandsfähig und geschickt - auch die Entwicklung des Gehirns korrespondiert mit den Bewegungsabläufen. In der Kinesiologie und beim "Brain Gym" wird dieser Zusammenhang heute genutzt: Bestimmte Bewegungsabläufe stimulieren die Verbindungen zwischen Muskeln, Sinnesorganen und Gehirn.
Das Kleinkind, das über die Wiese krabbelt, fördert durch die Überkreuz-Bewegung der Arme und Beine das Zusammenspiel seiner beiden Gehirnhälften und damit sowohl das logische Denken, das in der linken Gehirnhälfte beheimatet ist, als auch das Zentrum für Fantasie und Kreativität in der rechten Hemisphäre. Während der gesamten Entwicklungszeit brauchen Kinder Bewegungsreize, um Körper und Geist zu trainieren. Bewegung und Denken - und damit die Sprachentwicklung - hängen zusammen.
Ohne es zu wissen, haben die Kinder früherer Generationen Spiele erfunden, die ihre körperliche Geschicklichkeit und damit auch die Denk- und Lernfähigkeit fördern: das Ballspielen mit der Hand, das Gummi- oder Seilspringen, das Hinkelkästchen-Hüpfen, das Schaukeln - solche Spiele schulen das Geschick und die Sinne und sind so allerbeste Voraussetzung für Konzentration und Denkfähigkeit.
Und nicht zuletzt: Viele "alte Spiele" wurden in Gruppen gespielt - eine frühe Übung für Teamgeist, Fairness und das Einhalten von Regeln.
Alte Spiele - eine Auswahl
Dosen-Laufen
Heute gibt es sie aus Plastik im Spielwarenhandel, früher waren es echte Konservendosen, aus denen die Dosen-Stelzen gebastelt wurden. In zwei Dosen werden je zwei Löcher gebohrt, dadurch kommt eine Schnur - und los geht es auf zwei wackeligen "Hufen". Der Gleichgewichtssinn, die Konzentration und das Koordinationsvermögen haben hier kräftig zu tun.
Hinkelkästchen
Das Kind malt mit Kreide sieben quadratische Felder in Form eines Kreuzes auf. Ein Stein wird ins erste Feld geworfen, das Kind überspringt auf einem Bein dieses Feld, hüpft ins zweite und dritte und springt dann mit dem rechten und dem linken Fuß in die beiden äußeren Felder, Auf einem Bein geht es in oberste Feld, und von hier aus nach einer Drehung (natürlich auch auf einem Bein) wieder zurück. Zum Schluss wird der Stein aufgesammelt, und ein letzter Sprung führt aus dem Hinkelkästchen hinaus. In der nächsten Runde wird der Stein ins zweite Feld geworfen, dann ins dritte usw. Wichtig ist, den Stein immer im Feld zu platzieren; liegt er daneben oder auf der Linie, muss die Runde wiederholt werden. Ebenso, wenn die Füße beim Springen nicht im betreffenden Feld landen.
Regeln einhalten - das ist heute ein sehr populäres Thema in der Pädagogik. Ein Spiel wie das "Hinkelkästchen" gibt solche Regeln vor, und das Kind entwickelt einen gesunden Ehrgeiz, um sie einzuhalten.
Ochs am Berg
Geschwindigkeit und blitzschnelle Reaktion sind bei diesem Gruppenspiel gefragt. Ein Kind steht mit dem Gesicht zur Wand, die andern stehen in etwa zehn Metern Abstand in einer Reihe. Sobald der "Ochs" sein Sprüchlein ruft: "Ochs am Berge, eins-zwei-drei", rennen die anderen los. Nach dem letzte Wort dreht sich das Kind um, und die anderen müssen auf der Stelle stehen bleiben. Wer sich noch bewegt, wird zurück zur Startlinie geschickt. Das Kind ruft erneut, und irgendwann ist eines der Kinder so nah, dass es den "Ochsen" abschlagen kann und selbst neuer "Ochs am Berg" wird.
Murmeln schießen
Dieses Spiel ist einer der beliebtesten Klassiker. Es fördert die Koordination von Augen und Händen, schult die Fähigkeit, Entfernungen einzuschätzen und trainiert die Geschicklichkeit.
Die Regeln sind unterschiedlich, die einfachste lautet so: Die Kinder graben eine kleine Mulde in die Erde und versuchen nun der Reihe nach, aus etwa zwei bis drei Metern Entfernung, ihre Murmeln in die Kuhle zu kullern oder zu schnipsen. Nach einigen Durchgängen wird gezählt: Wer die meisten Murmeln ins Ziel rollen konnte, hat gewonnen und darf sich die Murmeln der anderen nehmen.