Viele Paare, deren Beziehung in einer Krise steckt, stellen sich diese Frage: Beinander bleiben oder sich trennen? Gemeinsam oder allein neu anfangen? Das eine erscheint so schwer wie das andere und eine Entscheidung kaum möglich.
So geht es auch Anna und Jörg, Ende dreißig, seit 10 Jahren verheiratet. Sie sind beide berufstätig: er als selbständiger Architekt. Anna ist geringfügig teilzeitbeschäftigt und betreut die beiden Kinder (5 + 9 J.). Sie engagiert sich neben dem Beruf noch im Bürgerverein ihres Stadtteils, im Elternbeirat von Schule und Kindergarten. Jörg ist durch seine freiberufliche Tätigkeit stark eingespannt. Er arbeitet häufiger bis in den Abend hinein. Ihre finanzielle Situation ist kritisch, da die Aufträge augenblicklich gering sind. Anna und Jörg haben ein eigenes Haus gebaut, indem sie viele ihrer beruflichen Träume verwirklichten. Eines Tages entdeckt Jörg, dass sich Anna mit einem anderen Mann trifft und zu diesem auch eine sexuelle Beziehung hat. Jörg ist sehr verletzt und verzweifelt, während Anna die neuen Erfahrungen genießt, aber auch von Schuldgefühlen geplagt wird.
Der Schritt zur Beratung
Beide kommen in die Beratungsstelle mit dem Wunsch, in einer Mediation die Folgen ihrer Trennung zu regeln. Rasch stellt sich heraus, dass Jörg sich eigentlich nicht trennen will, aber keine Möglichkeit sieht, mit seinem Entsetzten über Annas Vertrauensbruch fertig zuwerden. "Ich schufte mich ab für Anna und die Kinder und zum Dank werde ich auch noch betrogen!"
Anna hingegen betont immer wieder: "Die Sache mit dem anderen hat doch nichts mit dir zu tun! Das ist eine prickelnde körperliche Erfahrung, mehr nicht." Jörg sieht das anders, für ihn ist es ein grober Eingriff in ihre Intimität als Paar.
In den Gesprächen gelingt es ihm, sich selbst klarer zu werden über seine Verletzungen, seine Wünsche an Anna und über die emotionalen und sachlichen "Kosten", die eine Trennung für ihn mit sich bringen würde.
Anna dagegen begreift, dass "die Sache", also der Sex mit dem anderen Mann, eben doch sehr viel mit ihrer Beziehung zu Jörg zu tun hat. Über längere Zeit hat ihre eigenen Erwartungen an die Partnerschaft weder deutlich gespürt noch ausgesprochen. Ihr betriebsamer Alltag hat vieles zugedeckt, was an Unzufriedenheit in ihr war: Jörgs großes berufliches Engagement, die schnellen sexuellen Begegnungen ohne gemeinsame Zeit miteinander, die alleinige Zuständigkeit für das alltägliche Einerlei. "Ich fühle mich als Frau gar nicht mehr wahrgenommen, ich gehöre so selbstverständlich zu Jörgs Alltag, wie das Haus, die Kinder und sein Beruf."
Was hier wie ein Klischee anmutet, ist in der Beratungspraxis häufig anzutreffen. In den Beratungsgesprächen besteht die Chance, behutsam Wünsche und Bedürfnisse aneinander zu erkunden und mitzuteilen. Wichtig ist, alles was gemeinsam aufgebaut und erlebt wurde, wahrzunehmen und wertzuschätzen, weil es zur Geschichte dieser Paarbeziehung gehört. Der Blick aufs Ganze hilft die Ressourcen zu entdecken und Grenzen und Möglichkeiten für die Zukunft auszuloten. Sich die Frage zu stellen: "Wo könnte die Entwicklungschance in der jetzigen Krise liegen?" hilft, das Entwicklungspotential der Beziehung in den Blick zu nehmen.
Durch Kommunikation mehr Klarheit finden
Auch Jörg und Anna sehen nach einiger Zeit besser, was ihnen gelungen und was misslungen ist und welchen Anteil sie jeweils daran hatten. Damit ist noch keine Entscheidung über eine Trennung gefallen. Jörg fällt es aber leichter einzuschätzen, ob er sich zutraut - trotz seiner Kränkungen - weiter an der Beziehung festzuhalten. Er malt sich die Situation nach einer Trennung deutlich aus. Ihm wird klar, dass er seinen Kindern die Familie und ihr Zuhause auf jeden Fall erhalten will. Auch hat er große Sorge, die Kontakte zu Annas Eltern und Geschwistern zu verlieren. Er ist sehr in ihrer Familie eingebettet, was er als Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter genießt. Für eine Trennung müsste er also einen hohen Preis zahlen.
Auch Anna kann angesichts der drohenden Trennung klarer sehen, was ihr verloren gehen könnte. Sie geht auf Jörgs Bedingung ein, die Beziehung zu dem anderen Mann zu beenden und ist bereit, Kraft in die Verbesserung der Partnerschaft zu stecken. Sie erkennt, dass sie mit Jörg mehr gemeinsame Zeit verbringen will und sich eine stärkere Teilung der Familienarbeit wünscht. In einem langen Mediationsprozess gelingt es beiden, konkrete Schritte zu planen, um finanzielle Entlastung zu erreichen. So wird der Druck für Jörg reduziert, und er kann sein Arbeitspensum verringern. Beide vereinbaren regelmäßige Zeiten, die sie als Paar verbringen wollen. Über einem Zeitraum von zwei Jahren wollen sie die Veränderungen erproben und dann in einem Beratungsgespräch Bilanz ziehen.