Das erste Kind erlebt die Ankunft des zweiten in der Regel als Thronsturz. War es bisher der Mittelpunkt der Familie, so muss es diese Position nun teilen. Viele Kinder reagieren darauf mit Trotz, Rückfall in kleinkindliches Verhalten oder Wut auf das Geschwister. Der Neuankömmling seinerseits muss sich gegen einen übermächtigen Prinzen (oder ein Prinzesschen) durchsetzen. So schwankt er zwischen Bewunderung und Zorn. Um sich der Bevormundung des älteren Kindes zu erwehren, "arbeiten" jüngere nicht selten mit den Instinkten der Erwachsenen. Schnell haben sie heraus, dass die dazu neigen das Kleine zu unterstützen; also wird schon beim kleinsten Anlass der elterliche Schutz "herbei geschrien". Ein drittes oder weiteres Kind fühlt sich oft noch mehr unterlegen, weil es von den Großen nicht ernst genommen wird. Andererseits genießt es am längsten die Privilegien des Jüngsten: Mehr Aufmerksamkeit und Nachsicht von Seiten der Eltern. Für das mittlere Kind verschärft sich die Lage durch die Ankunft von Nummer drei, weil es sich jetzt nicht nur "nach oben" durchsetzen muss, sondern auch seinen Status als Nesthäkchen verliert. "Sandwichkinder" reagieren darauf häufig mit ähnlichen Thronsturz-Symptomen wie das ältere Geschwister.
Die Position in der Familie sucht man sich nicht aus
Ob Kronprinz, Nesthäkchen oder Sandwichkind - jede Position birgt ihre Schwierigkeiten. "Geschwister", meint der Psychologe Hartmut Kasten, "haben sich nicht - wie Freunde - gesucht und gefunden, sondern sie wurden - ohne Wahlfreiheit - in dieselbe Familie hineingeboren. Sie müssen Vorlieb nehmen mit denselben Eltern, leben in derselben Wohnung, sind beständig zusammen und besitzen die gleichen oder ähnliche Dinge ... Geschwister sind sozusagen auf Gedeih und Verderb einander ausgeliefert." Zu den "normalen" Interessenskonflikten kommt noch etwas hinzu: Geschwister konkurrieren - immer - um die Gunst der Eltern, ist doch jedes existenziell auf sie angewiesen. Die meisten Rivalitäten, so Hartmut Kasten, bestehen zwischen Brüdern, die einander in kurzem Zeitabstand folgen. Am entspanntesten hingegen ist die Beziehung zwischen Bruder und Schwester mit großem Altersunterschied. Je ähnlicher also die Ausgangsposition, desto härter ist die Konkurrenz. Je unterschiedlicher andererseits die Ausgangslage, desto leichter fällt es jedem Kind seine eigene Identität zu entwickeln. Aus dem Wunsch nach Abgrenzung und Individualität erklärt sich deshalb zum Teil, warum gerade gleichgeschlechtliche Geschwister oft völlig verschieden sind. Nimmt der älteste Sohn zum Beispiel die Rolle des nachdenklichen Intellektuellen ein, entwickelt sich der nachfolgende Junge vielleicht zum quirligen Familienclown und ein weiterer Bruder zum engagierten Sportler.
Eltern sollten Kindern dabei helfen, sich in ihrer neuen Position zurechtzufinden
Eltern sollten Kinder durchaus unterstützen, ihre jeweils eigenen Stärken zu entfalten. Überhaupt können Mütter und Väter viel dafür tun, dass Geschwister ihre Position nicht als dauerhaften Nachteil empfinden: Respektieren Sie Gefühle von Eifersucht und Konkurrenz. Fällt die ältere Schwester bei der Ankunft eines Babys in früheres Verhalten zurück, so spricht nichts dagegen, dass sie zum Beispiel ab und zu aus dem Fläschchen trinken darf. Auf keinen Fall sollte sie mit Appellen an ihr Alter und ihre Vernunft überfordert werden. Negative Gefühle werden dadurch nicht verschwinden, sondern vielleicht als Attacken gegen das jüngere Kind wieder auftauchen. Hüten Sie sich deshalb auch vor einseitigen Schuldzuweisungen, wenn es Zank gibt. Unterstützen Sie Ihre Kinder darin, sich gegenseitig zu respektieren, und trauen Sie ihnen immer mehr zu, ihren Streit alleine zu regeln. Vermeiden Sie Vergleiche - "Mit deiner Schwester gibt es nie solchen Ärger" -, denn die schüren Eifersucht. Geben Sie Ihren Kindern zu verstehen, dass sie alle gleich lieb haben, aber versuchen Sie nicht, sie gleich zu behandeln. "Das geht schon deshalb schief, weil die Kinder nicht gleich sind", meint dazu Professor Kasten. Ohnehin rät er davon ab, die Sorge um die Nachteile der Geschwisterposition zu übertreiben. Unterm Strich nämlich profitieren Brüder und Schwestern sehr viel voneinander. Weil sie darauf angewiesen sind sich zu arrangieren, lernen sie früh, wie man Konflikte lösen, Aggressionen kontrollieren und Kompromisse finden kann. "Geschwisterbeziehungen", sagt Hartmut Kasten weiter, "erweisen sich als urwüchsiger, enger, tiefer und spontaner" als alle anderen Sozialbeziehungen. Egal ob Kronprinz, Sandwichkind oder Nesthäkchen, Geschwister geben einander Rückhalt, in der Regel ein Leben lang.