Eltern können ein Lied davon singen: Geschwister streiten sich nicht nur häufig, sondern auch besonders heftig. Da wird geschimpft, geschrieen und getobt, und oft droht die Auseinandersetzung zu eskalieren: Wütende Söhne wälzen sich kämpfend am Boden, Töchter reißen sich Haarbüschel aus und der kleine haut dem großen Bruder ein Spielzeugauto an den Kopf. Doch auch mit verbalen oder unterschwelligen Aggressionen wird da taktiert: Abschätzige Blicke, provokative Bemerkungen und Beleidigungen können ebenso schmerzhaft sein wie Schläge, Bisse oder Tritte. Muss das sein? Wie viel Aggression im Kinderzimmer ist erlaubt? Und wann gehen tätliche oder verbale Angriffe zu weit?
Geschwisterrivalität ist normal
Über die Vehemenz, mit der unsere Kinder ihre Konflikte austragen, sind wir Eltern oft entsetzt, denn sie widerspricht unserem Bedürfnis nach einem harmonischen Familienleben. Mitunter mehren sich Zweifel an der eigenen Erziehungskompetenz und das Selbstwertgefühl leidet: Warum schaffe ich es nicht, meine Kinder zu einem friedlichen Miteinander zu bewegen?
Doch keine Mutter ist eine Versagerin, wenn die Kinder ihre Streitereien lautstark, körperlich oder einfach nur fies austragen. Es liegt vielmehr in der Natur der Dinge, dass Brüder und Schwestern so leidenschaftlich miteinander kämpfen: Geschwisterbeziehungen sind per se extrem konfliktanfällig. In dieser Schicksalsgemeinschaft ist alles möglich: Vertrautheit, innige Zuneigung, Solidarität, hasserfülltes Gegeneinander und offene Ablehnung. Nur Gleichgültigkeit gibt es so gut wie nie. Niemand kann sich Bruder oder Schwester aussuchen, so wie man sich seine Freunde auswählt. Selbst wer sich sehnlichst ein Brüderchen wünschte, kann von dem Resultat und den damit verbundenen Veränderungen innerhalb der Familie durchaus enttäuscht sein. Rivalität ist vorprogrammiert und - je nach Geschlechterkonstellation und Alter - unterschiedlich stark ausgeprägt. Oft wird dieses Konkurrenzdenken von Eltern geschürt: Vergleiche wie "Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester" sind in der Erziehung wenig hilfreich.
Das Kinderzimmer als Übungsfeld
Die hohe Störanfälligkeit von Geschwisterbeziehungen kann für Eltern zwar nervenaufreibend sein, bietet Kindern aber hervorragende Möglichkeiten, soziale Kompetenzen zu erwerben. Das Kinderzimmer wird zum Experimentier- und Lernfeld: Hier üben die Kleinen erstmals, eigene Interessen zu vertreten und
sich für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse einzusetzen, sie lernen ihre Stärken kennen und wie es sich anfühlt, auch mal zu kurz zu kommen. Sich derart intensiv streiten zu können, ohne dass der andere einen tatsächlich verlässt, bietet auch einen idealen Schonraum: In keiner anderen Kinderbeziehung ist es so leicht, sich gegenseitig zu verzeihen. Verblüffenderweise ziehen sich Geschwister nach dem größtmöglichen Donnerwetter oft rasch wieder friedlich spielend zurück.
Aggressionen verstehen und richtig einordnen
Eltern müssen sich klar machen, dass Aggression nicht grundsätzlich negativ ist. Als energetische Antriebskraft ist sie oft durchaus sinnvoll. Da gibt es die spielerische Aggression, mit der Kinder Kräfte messen und ihre Grenzen kennen lernen: Im sportlichen Wettkampf ist dies erwünscht und sozial akzeptiert. Oft wird Aggression auch zum Selbstschutz eingesetzt oder um eigene Interessen durchzusetzen.
Um ihre Kinder besser zu verstehen, können ratlose Eltern sich folgende Fragen stellen:
- Was ist die Motivation des Kindes, sich "aggressiv" zu verhalten? Will es etwas durchsetzen oder sich verteidigen?
- Weiß mein Kind, wann es einem anderen Angst macht oder weh tut?
- Fügen sich meine Kinder absichtlich Schmerzen zu oder eher aus Versehen im Eifer des Gefechts?
- Kann mein Kind seine Kräfte richtig einschätzen? Braucht es vielleicht mehr Bewegung/Sport?
Deutlich überschritten ist eine Grenze, wenn aggressives Handeln - ob körperlich, verbal oder nonverbal - zum Selbstzweck wird, wenn Kinder zum Beispiel nachtreten, wenn jemand hilflos am Boden liegt, oder jemanden (scheinbar) grundlos beleidigen und provozieren. Dann sollten Eltern aufmerksam werden und eingreifen. Auffällige kindliche Aggression ist immer als Ausdruck einer speziellen Bedürfnislage zu verstehen und erfüllt im familiären Kontext oft eine bestimmte Funktion. Dies zu erkennen und zu verstehen, ist manchmal nicht ganz einfach. So kann übermäßig aggressives Verhalten von Kindern ein hilfloser Ausdruck eigener Kränkungen oder Nöte sein. Diese versteckten Ursachen gilt es aufzuspüren, wenn eskalierende Streitereien das Alltagsleben dauerhaft belasten. In der Familienpsychologie weiß man, dass kindliches "Fehlverhalten" oft unterschwellige Konflikte der Eltern spiegelt und unbewusst familiendynamische Ziele verfolgt.
Eltern tun gut daran, die Konflikte ihrer Kinder gelassen zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie gleich moralisch zu bewerten. Besser als Appelle wie "Das macht man nicht!" wirkt es, sich an die eigene Nase zu fassen und zu überlegen, wie wir selbst mit Aggressionen umgehen: Schreien, schimpfen, bestrafen wir viel? Sagen wir nicht auch manchmal aus Wut Dinge, die uns anschließend Leid tun? Natürlich, denn wir sind ja auch nur Menschen. Aber wir gehen mit gutem Beispiel voran, wenn wir unser Verhalten anschließend erklären und uns für unangemessene Reaktionen auch entschuldigen.