"Wo warst du im Urlaub?" - „Bei Ikea." Dominic bohrt seinen Daumen in die weiche Sofalehne. Höhepunkt seiner Sommerferien war ein Ausflug ins Möbelland. Gekauft haben sie nichts, nur geguckt, erzählt der Elfjährige.
Sein dunkelblaues Shirt stammt aus dem Secondhand-Laden, die Haare schneidet ihm seine Mutter selbst, Taschengeld gibt es keines: Dominics Familie gilt für deutsche Verhältnisse als arm. Vier Kinder sind sie, neben Dominic noch Claudia (15), Mark (4) und Anna (3). Mutter Jutta bekommt Hartz IV, Stiefvater Rolf* arbeitet aushilfsweise auf Messen.
Hauswirtschaft war zu teuer
„In Marks Kindergarten machen sie jetzt Englischunterricht, das kostet 15 Euro pro Halbjahr", sagt Jutta Fischer. Für den Kunstunterricht von Dominic hat sie einen Farbkasten bei Aldi gekauft, doch die Lehrerin besteht auf Pelikan. Claudias Hauptschule will Geld für Kopien und zehn Euro für den Werkunterricht. „Für Hauswirtschaft hätten wir 40 Euro zahlen müssen, also hat Claudia den Computerunterricht genommen", erzählt die 35-jährige Frau. Jetzt gibt es an der Schule einen Tanzkurs, acht Doppelstunden für 50 Euro, ihre Tochter will unbedingt hin. Jutta Fischer winkt ab: „Bei Hartz IV werden die lachen, wenn ich einen Tanzantrag stelle."
„In den meisten reichen Ländern steigt die Kinderarmut", warnt das Kinderhilfswerk Unicef in einer Studie von 2005. In Deutschland wuchs die „relative Armut" seit 1990 stärker als in den meisten anderen Industrienationen. Rund 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche sind betroffen, ihre Eltern haben weniger als 812 Euro monatlich, halb so viel wie der Durchschnittsbürger. Am häufigsten leiden Kinder von Alleinerziehenden unter Armut, fast vierzig Prozent. Bei Zuwandererkindern sind es fast 15 Prozent.
Kein Verein, kein Zimmer, kein Geburtstagsfest
„Armut beeinträchtigt die Lebenschancen der Kinder stark", sagt Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. „Für Kinder, die von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe leben müssen, ist vieles Tabu, was für andere selbstverständlich ist: Musikunterricht, Turnen im Sportverein, Zoobesuch oder Computerkurs." Die Einführung von Hartz IV habe die Kinderarmut über Nacht hochschnellen lassen, berichtet Schneider. Denn das Arbeitslosengeld II („Hartz IV") reiche für familiäre Bedürfnisse nicht aus. „Nehmen wir den Schulanfang", so der Geschäftsführer: „Schulranzen, Schultüte, Turnbeutel, Turnkleidung, Federmappe und Schreibhefte addieren sich schnell auf 180 Euro." Doch der Kinderregelsatz von Hartz IV liegt bei 207 Euro monatlich.
Arme Kinder entbehren nicht nur materielle Dinge. Experten warnen, dass sie im Bildungssystem benachteiligt sind, ihre gesundheitliche Versorgung schlechter ist und ihre Sozialkontakte spärlich sind. Die Studie „Zukunftschancen für Kinder", die 2005 im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt erstellt wurde, erbrachte, dass Kinder aus ärmeren Elternhäusern selten im Verein sind, selten ein eigenes Zimmer haben und nur jedes zweite seinen Geburtstag feiert.
„Wenn meine Kinder zum Geburtstag eingeladen werden, dann haben wir ein Problem", sagt Jutta Fischer. Womit das Geschenk bezahlen? Ein weiterer Knackpunkt ist die Nachhilfe. Tochter Claudia hat bald Prüfungen und kommt nicht klar mit Englisch. Jutta Fischer kann ihr nicht helfen: „Ich verstehe ja nicht einmal die englischen Anweisungen der Aufgaben!", sagt die Frau, die selbst keinen Schulabschluss hat. „Könnten wir uns Nachhilfe leisten, dann könnten auch die Noten besser sein."
Intakte Familie stärkt das Kind
„Einkommensarmut führt nicht zwangsläufig zu eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten", sagt die Bundesregierung in ihrem zweiten Armutsbericht. Kinder überstünden materielle Not dann am besten, wenn ein gutes Familienklima herrsche, ein fördernder Erziehungsstil und die Beziehung zwischen Eltern und Kind verlässlich sei. Positiv wirke sich auch aus, wenn das Umfeld fördernd sei und möglichst stabile familiäre und soziale Netzwerke bestünden. Sprich: Onkel und Tanten sind da, Lehrerpersönlichkeiten, vertrauensvolle Nachbarn.
Dennoch schlagen Sozialwissenschaftler Alarm. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband beklagt die „Rekordkinderarmut" durch Hartz VI. Er schätzt, dass inzwischen 1,7 Millionen Kinder in Deutschland in relativer Armut leben. „Es ist verheerend für ein Gemeinwesen, wenn so viele Kinder vom normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind."
*Alle Familiennamen von der Redaktion geändert