Anna malt. Mit einem hellgrünen Stift zieht sie einen großen Kreis über das Papier, dann einen kleineren für die Nase und einen Halbkreis für den lachenden Mund. "Du musst noch Augen malen", sagt Katharina. Anna berührt mit der linken Hand ihre Augen und zeichnet dann zwei Kreise über den Nasen-Kreis. "Und jetzt schreiben wir 'Anna'." Katharina nimmt Annas Hand und zieht mit festem Griff die Buchstaben: A-n-n-a. Die freut sich, ihr Gesicht ist ein helles glückliches Lachen. "Bild", sagt sie. Anna wird im Dezember neun Jahre alt.
Sie wird niemals laufen können"
Maria, die Mutter der beiden Mädchen, und ich sitzen zusammen in der gemütlichen Essecke des kleinen Häuschens in einem Vorort von München, in dem die Familie lebt. Es ist warm, und Maria, eine zierliche blonde Frau, stellt blaue Glasbecher mit Sprudel auf den Tisch. Anna und Katharina sind im Garten zum Spielen verschwunden, so haben wir Gelegenheit zum Reden, ohne dass Anna es mitbekommt, denn, so die Mutter, "sie versteht mehr als sie sagen kann." Dass Anna überhaupt sprechen lernen wird, hätte damals, als Anna zur Welt gekommen war, niemand für möglich gehalten.
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Bei der Chorionzottenbiopsie werden Bestandteile des Mutterkuchens über den Muttermund oder durch die Bauchdecke entnommen und untersucht. Diese Untersuchung bietet ein recht sicheres, aber kein hundertprozentiges Ergebnis: Bei etwa 0,5 Prozent der Fälle zeigt die Untersuchung eine krankhafte Veränderung der Chromosomen an, obwohl das Kind gesund ist. Und bei 0,1 Prozent der Fälle ist das Untersuchungsergebnis ohne Auffälligkeiten, obwohl das Kind krank ist.
Zwei Tage nach Annas Geburt war eine Ärztin ins Klinikzimmer der Mutter gekommen und hatte sie schonend darauf vorzubereiten versucht, dass mit ihrer neugeborenen Tochter etwas nicht stimmt. Von "kleinen Auffälligkeiten" sprach sie, die Anzeichen für ein Syndrom sein könnten. Maria wurde von dieser Nachricht völlig unvorbereitet getroffen. Die Schwangerschaft war problemlos gewesen, das Ergebnis der Chorionzottenbiopsie - eine Untersuchung, bei der mögliche genetische Störungen des Ungeborenen festgestellt werden können (siehe Kasten) - hatte keinen Anlass zur Sorge gegeben, der Apgar-Test nach der Geburt zeigte optimale Werte. Und nun, an Heiligabend 1994, 48 Stunden nach der Entbindung, eine solche Nachricht. Niemand war da in dieser Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, der genauer hätte Auskunft geben können. Notbesetzung in der Klinik und eine Mutter, die mit Andeutungen und einer vagen Diagnose fertig werden musste. Im neuen Jahr dann endlich eine erneute Untersuchung, bei der sich herausstellte, dass das Baby einen sehr seltenen Chromosomen-Defekt hat: Trisomie 17 nennen die Ärzte diesen Defekt (siehe Kasten unten). Und die Prognose war deprimierend: Anna werde nie laufen oder sprechen können und das dritte Lebensjahr wahrscheinlich nicht erreichen. Erst später stellte sich heraus, dass Anna von einer abgeschwächten Form der Trisomie 17 betroffen ist. Dennoch: Annas Kopfumfang misst heute so viel wie der eines einjährigen Kindes, sie ist geistig stark eingeschränkt, kann nicht Dreirad fahren, kennt keine Buchstaben und weiß nicht, dass eins und eins zwei sind.
Damals, nach Annas Geburt und den Diagnosen der Ärzte, fühlte sich Maria allein mit ihren Sorgen, konnte mit dieser Situation, die das Leben der ganzen Familie veränderte, nicht umgehen. Nur der Umstand, dass ihr Mann Karl und die damals dreieinhalbjährige Katharina sie brauchten, ließ sie die folgende schwere Zeit überstehen. Von ihrer Arbeit in einer Werbeagentur, die sie so gern wieder aufgenommen hätte, verabschiedete sie sich endgültig. Anna brauchte Zuwendung, Tag und Nacht. Fünf Jahre lang war sie nachts bis zu sechs Mal wach, weinte, erbrach sich, forderte die ganze Kraft ihrer Mutter: "Sie war ein so unruhiges Kind, dass ich kaum die Kraft hatte, morgens aufzustehen und auch nur das Notwendigste zu machen", erzählt Maria. Zu dem Notwendigsten gehörten nicht nur der Haushalt und die Betreuung der älteren Schwester, sondern auch zahlreiche Untersuchungen, um Annas Krankheitsbild abzuklären. Der Tag war ausgefüllt mit Terminen. Und Karl, Annas Vater? Wie wurde er mit der Situation fertig? "Er hat mehr an Anna geglaubt als ich", sagt Maria. "Ich war sicher, dass Anna mit ihren Augen nichts fixieren könnte, aber Karl wusste: ‚Sie hat mich eben angeschaut'".
Die große Schwester
Für jedes erstgeborene Kind ist die Geburt eines Geschwisters eine schwierige Situation: Es muss die Zuwendung seiner Eltern, die es vorher ungeteilt genießen durfte, plötzlich teilen. Es gilt nun als "groß und vernünftig" und gerät in eine Rolle, die es oft noch nicht ausfüllen kann. Was für die älteren Schwestern und Brüder gesunder Kinder schon nicht einfach ist - wie schwer muss es erst für ein Kind sein, dessen Geschwister behindert ist. Katharina litt vor allem darunter, dass ihre Mutter anders war als früher: "Sie hat meine Trauer mitbekommen, gesehen, dass ich viel geweint habe. Das hat sie sehr verunsichert." Die Dreijährige begann wieder einzunässen, ein eindeutiger Ruf nach mehr Zuwendung. Die Situation verlangte von ihr "erwachsenes" Verhalten, Rücksicht, Geduld, mehr als ein Kind in diesem Alter leisten kann. Eine Psychotherapie half ihr, mit der neuen, schwierigen Situation zurecht zu kommen. Und die Eltern reagierten sensibel auf die Nöte ihrer Erstgeborenen, bemühten sich bewusst um Phasen der ungeteilten Zuwendung, in denen Katharina wusste: Jetzt sind meine Eltern nur für mich da. Bis heute versuchen die Eltern, Katharina solche Zeiten der exklusiven Zuwendung zu schenken, sei es eine kleine Reise von Vater und Tochter oder ein Abend, an dem Anna gut untergebracht ist und die restliche Familie ins Kino und anschließend ins Restaurant geht. Solche Aus-Zeiten schenken das Gefühl der Normalität und lassen den Alltag besser verkraften.
Freunde
Die Suche nach einem Kindergartenplatz für Anna war schwierig. Einige Einrichtungen nehmen keine geistig behinderten, andere nur schwer mehrfach behinderte Kinder. Überall hörte sich Maria um, schließlich fand sie einen Platz im Kinderhaus Pasing, einer integrativen Einrichtung, in der nicht behinderte und behinderte Kinder zusammen betreut werden. Anna kam in eine heilpädagogische Gruppe, war hier das einzige geistig behinderte Kind. Die anderen fünf Kinder der Gruppe zeigten Auffälligkeiten, waren aber im herkömmlichen Sinne gesund. Der Kontakt zu diesen Kindern, sagt die Mutter, hat Anna gut getan: "Im Kindergarten war sie anerkannt und sehr beliebt."
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Jedes 200. Kind wird mit einem Chromosomendefekt geboren. Die häufigsten chromosomal bedingten Erkrankungen bei Neugeborenen sind die Trisomie 21 (Down-Syndrom), die Trisomie 13 (Pätau-Syndrom) und die Trisomie 18 (Edwards-Syndrom).
Im vergangenen Sommer, nach einem Jahr Zurückstellung, wurde Anna eingeschult. Die Wahl der Eltern fiel nach langer Suche auf eine Montessori-Schule in der Nähe des Elternhauses. Jeden Morgen wird sie von einem Behindertenbus abgeholt, zur Schule gefahren und wieder zurück gebracht. Kontakt zu ihren Schulfreunden hat sie kaum, denn der Einzugsbereich der Schule ist groß und die anderen Kinder kommen aus weit entfernten Stadtteilen. Da sind spontane Besuche kaum möglich. Auch in der Schulklasse ist Anna, so die Mutter, "auf dem untersten Level", denn in der Integrationsklasse sind ihr die anderen weit voraus. Dennoch tut ihr der Kontakt zu Kindern, die die Welt weitaus besser im Griff haben als sie selbst, sehr gut. Denn vieles lernt sie über Nachahmung, und die Leistungen der anderen Kinder frustrieren sie nicht, sondern sind Ansporn fürs eigene Bemühen.
Vom Schulleben ihres Kindes bekommt die Mutter nicht viel mit. Wenn Anna nach Hause kommt, erzählt sie nicht von den Mitschülern oder den Lehrern, sie singt keine gelernten Lieder vor, sagt keine Reime auf. Das alles kann sie nicht. Sie versucht, sich mit einzelnen Wörtern mitzuteilen, und wenn ihre Mutter sie nicht versteht, wird sie wütend. Früher, im Kindergarten, hat die Mutter die Einwortsätze verstanden, denn sie war durch engen Kontakt mit den Erzieherinnen eingebunden in den Tagesablauf ihres Kindergartenkindes. Die Welt der Schule ist für die Mutter größtenteils verschlossen, und darunter leidet sie: "Nur alle sechs bis acht Wochen finden Elterngespräche statt. Ich erfahre so wenig darüber, was meine Tochter in der Schule tut, wie es ihr geht. Das fehlt mir sehr." Und unausgesprochen signalisiert sie: Am liebsten hätte ich mein Sorgenkind immer bei mir.
Doch Anna muss ihren eigenen Weg gehen, und dazu gehört der Kontakt zu anderen Kindern, auch wenn der manchmal schmerzhaft ist. In manchen Situationen merkt Anna, dass sie anders ist als andere. Dann wird sie aggressiv, schubst, zieht an den Haaren. Denn ihre nicht behinderten Altersgenossen halten Abstand zu ihr, sie spürt ihre eigene Isolation. Doch wenn jemand da ist und mit ihr spielt, dann ist sie selig. Sie mag die Nähe zu anderen Kindern. Es ist einfach, Anna glücklich zu machen.
Veränderungen
In vielen Familien, in die ein behindertes Kind hinein geboren wird, wird die Partnerschaft auf eine harte Probe gestellt. In Annas Familie war und ist das nicht anders. Zeit zu zweit gibt es so gut wie gar nicht mehr. Annas Mutter erzählt: "Früher habe ich meinen Mann ab und zu auf Geschäftsreisen begleitet oder wir sind mal übers Wochenende weggefahren, für zwei Tage nach Wien oder Venedig. Das ist seit Annas Geburt nicht mehr möglich. Belastend ist, dass ich die meisten Dinge allein machen muss, denn mein Mann braucht seine Kraft für seinen Beruf. Wie oft habe ich in der Nacht das Bett überzogen, weil Anna wieder gespuckt hatte. Und mein Mann wusste nicht, wie er morgens arbeiten sollte, wenn Anna die ganze Nacht lang schrie. Aber ich konnte doch nicht mehr tun als aufzustehen und sie zu beruhigen versuchen. Solche Dinge belasten die Partnerschaft sehr." Warum hat sie sich nicht Hilfe von außen geholt, mal einen Babysitter engagiert? Maria hat es probiert, aber sie konnte niemanden finden. "Wenn die Leute mitbekamen, dass Anna behindert war, hatten sie Berührungsängste." Oft hat sie gehört: "Katharina nehme ich jederzeit, aber an Anna traue ich mich nicht heran, denn wer weiß, wie sie reagiert."
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Kontaktadresse für betroffene Eltern:
LEONA - Verein für Eltern chromosomal geschädigter Kinder e.V.
www.leona-ev.de
Heute ist die knapp neunjährige Anna geistig auf der Stufe einer Zweieinhalbjährigen. Wenn niemand auf sie aufpasste, würde sie über die Straße laufen oder auf die heiße Herdplatte fassen, ohne Schwimmflügel ins tiefe Wasser oder vom höchsten Klettergerüst springen. Anna kennt keine Angst, im wahren Sinn des Wortes. Sie kann Gefahren nicht einschätzen und auf sich selbst nicht aufpassen. Ständig muss das jemand anders für sie tun. "Vor ein paar Tagen", berichtet die Mutter, "habe ich mich nur umgedreht, um das Auto zuzusperren, und schon ist sie über die Straße gelaufen. Sie ist wahnsinnig schnell." Was andere Eltern als anstrengende, aber vergängliche Phase mit ihrem Kleinkind durchmachen - bei Annas Mutter ist es seit vielen Jahren Alltag. Sie hat ein ewiges Kleinkind, das sie ständig im Blick behalten muss.
Was wird später?
Was wird aus unserem Kind? - eine Frage, die sich wohl alle Eltern stellen. Annas Mutter drängt diese Frage beiseite, spürt die Überforderung, die ein offener Blick in die Zukunft mit sich bringen würde. "Eigentlich lebe ich von einem Tag auf den anderen und bin froh, wenn alles gut gelaufen ist. Natürlich kommen manchmal gewisse Gedanken: Was wird später sein? Aber wir machen uns nicht verrückt. Das alles ist noch so weit weg."
Die Gegenwart im Griff zu haben, das ist für Maria das momentane Lebensziel. Dafür reichen die Kräfte gerade mal eben aus. Als ich mich verabschiede, nimmt Anna mich in den Arm, ich spüre ihre körperliche Zerbrechlichkeit. Sie lacht mich an, vertrauensvoll und fröhlich, schenkt mir ihr selbst gemaltes Porträt. Man möchte dieses Kind nicht mehr loslassen, will es vor der Welt beschützen. Ihre Schwester Katharina taucht mit einer Freundin auf, beide haben sich hübsch gemacht, wollen auf eine Schulparty gehen. Man sieht Katharina an, dass sie sich am Leben freut. Maria wird mit Anna das schöne Wetter im Garten genießen.